Jubelrufe hallen durch die Lagunenstadt. Die Venezianer huldigen einem Ausländer. Noch nie galt solch ein Applaus einem fremden Komponisten, nie zuvor begeisterte ein Deutscher das verwöhnte Patrizierpublikum der Freien Republik Venedig. „Viva il caro Sassone!“ – Hoch lebe der liebe Sachse! Offensichtlich hatte erst 24-jährige Georg Friedrich Händel, der gerade von England aus bis nach Neapel gereist war, um die Tradition der italienischen Oper zu studieren, einen Nerv getroffen. 1709 feierte Agrippina Premiere und das Entzücken lag gleichermaßen in der Musik wie im Libretto begründet. Was genau riss die Venezianer von den Stühlen? Worin lag die Sensation?
In der Rekordzeit von drei Wochen entstand dieses Meisterwerk des Barock. Händel nutzte bereits komponierte Arien und schuf mit dem Libretto von Vincenzo Grimaldi, dem Kardinal von Venedig, die Oper Agrippina. Das allein war nahezu unerhört: Ein Kirchenfunktionär, der nebenbei auch der Vizekönig von Neapel war und dessen Familie drei Dogen stellte, packt den Politthriller um Kaiser Claudius, seine machtbesessene Gattin Agrippina und den Thronfolger Nero in ein unterhaltsames Drama. Alle Figuren sind als historische Figuren belegt, alles am Opernplot reine Fiktion.
Rom war im letzten vorchristlichen Jahrhundert noch nicht das politische Zentrum der italienischen Halbinsel, allerdings der Sitz des Papstes, um 1700 Clemens XI. Zu ihm pflegte Grimani eine gleichermaßen große Konkurrenz wie tiefe Abneigung. Und so schrieb er eine Parabel auf die Machtspiele in Rom und platzierte sie in der römischen Geschichte um die Jahrtausendwende. Ein kluger Schachzug! Denn das turbulente Spiel um intrigante Winkelzüge, rhetorischen Populismus, wahre Liebe und und schnellen Sex war damit auf der (historisch) sicheren Seite. Die zweite Ebene mochte lesen, wer wollte. Das taten die selbstbewussten Venezianer und feierten deshalb ihren „Sassone“.
Historisch verbrieft sind Kaiser Claudius, seine Frau Agrippina (in Köln geboren und Namensgeberin der Domstadt „colonia agrippinensis – die römische Kolonie der Agrippina), ihr Sohn Nero, die Kurtisane Poppea, der Militär Ottone sowie die Hofbeamten Narciso und Pallante. Was passiert? Agrippina, die zweifellos mächtigste Frau in Rom, erhält die Nachricht, Claudius sei auf der Rückkehr von Britannien ertrunken. Sie sieht ihre Chance gekommen, so schnell wie möglich ihren Sohn aus früherer Ehe, von Claudius adoptiert, auf den Thron zu hieven. Dass Nero ein tumber, geistig ein wenig retardierter und leicht zu manipulierender Bursche ist, beschert ihr leichtes Spiel. Politik liegt ihm wenig, aber Agrippina wird eh als Strippenzieherin die Staatsgeschäfte lenken.
Sie weiht die korrupten Höflinge Narciso und Pallante in ihren Plan ein und verspricht beiden einen Platz an ihrer Seite, Thron und Bett inbegriffen. Also unabhängig voneinander natürlich – so instrumentalisiert sie ihre Mannschaft. Nero, das weinerliche Kind, erhält Instruktionen zu populistischen Auftritten: Mitleid mit den Armen, Geldgeschenke verteilen, Verbundenheit signalisieren. Aber wie das so ist mit einem ausgefuchsten Plan – die Wirklichkeit durchkreuzt ihn.
Claudius kehrt zurück, gerettet von Ottone, dem Anführer der militärischen Mission. Ihm verspricht der alte, erschöpfte Kaiser die Nachfolge. Von Geburt an behindert, hinkt er auch hier über die Bühne. Lediglich Eros lässt ihn noch mal aufblühen – Kaiser in love mit der verführerischen Poppea. Allerdings erwidert diese weder seine Gefühle noch sein Begehren. Sie benutzt ihn, um ihr Ziel zu erreichen, den feschen Ottone für sich zu gewinnen. Der hat deutlich mehr Sex-Appeal als der alte Kaiser, der als Trump look-alike ein längst überwunden geglaubtes Ekel zum Leben erweckt.

Zwischenbilanz: Ottone will nicht Kaiser werden, sondern Poppea heiraten. Nerone will Kaiser werden, aber auch mit Poppea ins Bett. Claudius will Agrippinas Sohn nicht auf dem Thron sehen, aber endlich bei Poppea zum Zuge kommen. Und die Titelfigur? Sieht ihre Felle schwimmen und läutet die Runde zwei ein. Sie vergönnt nun Poppea ein Coaching in Sachen Machtspiel & Intrige. Die Kleine steigt ein und – wen wundert’s – übertrifft ihre Mentorin in Sachen Doppelstrategie. Stoff für Komödie, Posse sogar, weil alle Männer sich zu Deppen machen (lassen).
Nun dürfen wir bei Barockopern davon ausgehen, dass alles am Ende gut wird. Nach Versteckspielen, hinterm-Vorhang-Lauschen, nach Beteuerungen und Schwüren, nach pokerface-Szenen und Machtworten, nach Suff, Jubeltanz und Pilates-Verrenkungen kriegen alle, was sie wollen. Nero, bar jeder Kompetenz, wird Kaiser, Poppea und Ottone sind vereint, Agrippina ist am Ziel ihrer Wünsche. Nur Claudius muss sich vermutlich eine andere Gespielin suchen.
Die Oper Bonn hat Musik und Bühnenspiel in die Hände zweier Experten gelegt. Leonardo Muscato entzückte bereits mit der Inszenierung von Xerxes und La Cenerentola das Bonner Publikum. Sein Konzept der Physical comedy fokussiert sich auf den komödiantische Ausdruck des Spiels, inklusive übertriebene Mimik, Slapstick, Clownerien oder oder einen Kaugummi, den Poppea je nach Anlass provozierend kaut, auf dem Zeigefinder balanciert, sich selbst in dicken Blasen ins Gesicht knallt oder ihrem Geliebten Ottone quer über die Bühne zuwirft. Für die Regie der Agrippina greift Muscato in die Figurenkiste der commedia dell’arte. Fast alle – bis auf Lesbo – tragen fat suits. Das macht sie so tapsig, die Damen aber auch mit tiefen Dekolletés und ausladenden Hinterteilen so verführerisch. Die Drehbühne eröffnet den Blick auf imperiale Gemächer, barocke Lustgärten (mit erotischen Malereien), Poppeas Kinderzimmer, das staatstragende Kapitol und schließlich den kaiserlichen Thronsaal. Schneller noch als sich das Setting ändert, dreht sich das Intrigenkarussell. Ein feiner Spaß!
Mit Rubén Dubrovsky dirigiert ein Meister des alten Fachs das Beethoven-Orchester. Als Maestro von Xerxes und La Cenerentola noch in bester Erinnerung, bei dem das Publikum die Begeisterung für die Musik und Interagieren mit den Sängerinnen und Sängern spürt. Barock is his business. Wie er die Einsätze von Stimme und Instrument, namentlich Oboe und Cembalo, führt, versinnbildlicht die Kommunikation zwischen Orchester und Solostimme – der musikalischen Innovation des Barock. Das Cembalo spielte Felix Schönherr, ein Gastmusiker und Spezialist für Alte Musik.

Wenn die Wendung „Das Publikum brach in Jubel aus“, je eine live Situation in Worte fasste, dann gilt das für diese Premiere. Alle Solistinnen und Solisten erhielten immer wieder Szenenapplaus. Spielfreude und Spielwitz ließen es untereinander knistern und den Funken ins ausverkaufte Haus überspringen. Stehende Ovationen und Begeisterungsstürme inklusive. Der Cast vermittelte eine Vertrautheit, wie man sie früher vielleicht in einer „Truppe“ kannte. Einfach toll, das mitzuerleben!
Louise Kemény glänzt als die Titelheldin Agrippina und verleiht ihrer Figur mit makellosen Koloraturen und fantastischem Mienenspiel die feine Doppelzüngigkeit der Rolle. Als Gastsängerin und grandiose Schauspielerin entzückte sie mit ihrem lyrischen Sopran auch in nachdenklicher Pose. „Pensieri, voi mi tormentate“ (Gedanken, ihr quält mich) als eine ihrer großen Solonummern.
Rangmäßig ist sie ihr weit unterstellt, die Waffen einer Frau setzt Poppea aber mindestens ebenso gekonnt ein wie die Kaiserin. Der eigentliche Machtkampf findet ja zwischen den Frauen statt: Zwei Soprane legen hier die Finten. So imperial in schillernden Perücken, in Robe und Negligé samt farblich abgestimmten Fuchspelz Agrippina daherkommt, so niedlich präsentiert sich Poppea mit Lolita-Effekt. Marie Heeschen hier als Idealbesetzung. Ihr Sopran erweist sich erneut als wunderbar vielseitig. Koloraturen – kann sie. Lange Barockbögen ebenfalls – und Poppea tanzt. Wenn die Kerle sie bedrängen, dreht sie sich wie ein Püppchen auf einer Spieluhr. Ihr Kostüm erzählt ebenfalls Gedanken und Gefühle: Das naive Dummchen, das Blasen mit dem Kaugummi macht? Die kluge Frau, die alle Männer in einer zauberhaften Versteckspiel-Variante dirigiert? Die verführerische Kurtisane, die kostbare Geschenk nicht mal ignoriert? Eine tolle Figur, der Marie Heeschen springfidel Leben einhaucht, und die mit der Arie Vaghe perle, eletti fiori Tiefe erhält.
Mit dem Aton-Hymnus verzauberte der Countertenor Benno Schachtner als Echnaton das Publikum. Als Ottone trägt er einen Zwiespalt in sich: Ein erfolgreicher Militär und ein leidend-liebender Mann, der sich zurecht als Opfer von Agrippinas und Poppeas Ränken sieht. Seine Arie „Voi che udite il mio lamento, compatite il mio dolor.“ erzeugt mit dem makellosen Gesang des Countertenors genau das Mitempfinden, das er erbittet: „Die ihr mein Klagen hört, teilt meinen Schmerz!“ Schachtners Stimme rührt zu Tränen, ein Genuss!
Als dritte Sopranistin glänzt Lada Bočková in der Rolle des Nerone. Im dicken, unbeliebten Adelsspross darf sie sich komödiantisch ausleben. Wie ein kleiner Kobold springt sie zwischen unselbstständigem Kind, Medienstar, verliebtem Bengel, zukünftigem Feuerteufel und schließlich Kaiser mit Lorbeerkranz hin und her. Die Arie Quando invita la donna l’amante präsentiert sie wunderschön.
Pavel Kudinov als Claudius und Martin Tzonev als Lesbo vervollständigen mit ihren Bässen das Stimmtableau. Kudinov verleiht dem kranken Kaiser Grandezza, vor allem mit der Arie Io di Roma il Giove sono. Der Seitenhieb auf den Papst hier fein in Musik und Kudinovs Bass verpackt. Martin Tzonev in einer wie auf ihn zugeschnittenen Rolle als Diener Lesbo mit schillernden Loyalitäten. Er ist für die Allegrezza zuständig – ohne große Arie, aber mit augenzwinkernder Präsenz in diesen verzwickten Umständen. Diese wiederum vervollständigen die gleichermaßen bestechlichen wie Agrippina-hörigen Beamte Narciso und Pallante. Carl Rumstadt und Charlotte Quadt-Kohlhepp, Bass und Mezzosopran, agieren beide als hinreißende Komödianten und tolles Sängerpaar. Die exaltierte Fashion Queen Agrippina hat mit diesen körperlich schweren und geistig schwerfälligen Jungs in Nadelstreifen ihre liebe Not. Die Nieten in Nadelstreifen aus dem quasi-ehrenwerten Gangstermilieu erzählen eine eigene Geschichte von der Seriosität der aktuellen politischen Verhältnisse.
Diese Opera semiseria bietet allerbeste, heitere Unterhaltung. Drei Stunden vergehen wie im Flug. Ende gut, alles gut! Die Liebenden kriegen sich. Und werfen alles Abstandhalten über Bord, feiern so das Ende der Pandemie auch auf der Bühne: Sie umarmen und küssen sich. Claudio Monteverdi inthronisierte bereits 1642 Poppea als Kaiserin. Im Vorläufer bei Händel und Grimaldi heißt es zunächst: Ottone und Poppea vereint im Glück.
Die Oper Bonn spielt Agrippina noch insgesamt neun Mal bis zum 22. April 2023. Infos, Termine und Karten hier.
Anmerkung: Dieser Artikel beinhaltet eine aktualisierte Version des Berichts vom live stream vom 22. Juni 2021.
Klingt sehr schön. Auch hier in Frankfurt haben wir viel Händel in dieser Spielzeit. Gestern war die Premiere von Orlando, später gibt es eine Neuinszenierung von Hercules und eine Wiederaufnahme-Serie von Xerxes.
LikeLike
Ja, eine sehr gelungene, mitreißende Inszenierung. Euch viel Spaß in Ffm mit Händel!
LikeLike
[…] vierten Mal – nach Xerxes, La Cenerentola und Agrippina übernimmt Leo Muscato eine Regie hier in Bonn. Schmunzelnd fügt Bernhard Helmich hinzu, dass […]
LikeLike