Wer kennt sie nicht, die Anekdote vom quirligen Mozart und dem eher betulichen Kaiser in der Wiener Hofburg? Der Habsburger Joseph II soll Die Entführung aus dem Serail mit „Zu schön für unsere Ohren und gewaltig viel Noten, lieber Mozart“ kommentiert haben. Worauf der junge Kompositeur replizierte „Gerade so viel Noten, Eure Majestät, als nötig sind.“ * Da kann man wohlfeil die Frage stellen „Are you sure you composed sufficient chords, dear Phil Glass?“
So viel a-moll war nie – und die Variationen bringen Musiker, Sänger, Chor und Dirigenten an ihre Grenzen. Höchste Konzentration im Graben, auf, hinter und oberhalb der Bühne war gestern Abend in der Oper Bonn gefragt. In Endlosschleifen ranken sich die melodiösen Nummern und die textarmen Silben umeinander, umarmen sich, steigen eine Terz auf und kehren zurück. Was ist das Faszinierende an dieser Musik, die nach der Uraufführung der Oper Echnaton 1984 in Stuttgart zunächst für Furore sorgte, dann aber eher von den Repertoirelisten verschwand? Mit dieser Oper werde die Götterdämmerung der minimal music eingeläutet, hieß es. So langweilig und langatmig sei sie, dass es nicht einmal den Spannungsbogen des Buches „Götter, Gräber und Gelehrte“ erreiche.*
Die Zeiten ändern sich. Von Langeweile keine Spur, von spröder Geschichtserzählung noch weniger. Aber bleiben wir einen Moment im Orchestergraben. Keine Violinen, die Streicher bei den Bratschen, Celli und Bässen angesiedelt. Das legt schon mal den Teppich aus für den satten Unterton, auf dem die Holzbläser links und die Blechbläser rechts aufsetzen. Ach die Trompete, wenn sie die hohen Töne des Countertenors aufnimmt und weiterspinnt. Sehr schön! Der Synthesizer macht das Auf und Ab deutlich, und die Percussion „haut rein“. Aber wirklich. Die Tom Toms wie bei einem tribal dance, die Röhrenglocken wie der Westminsterklang zum Initiationsritus.
Und Stephan Zilias am Pult zählt. Mit den Musikern hat er Zeichen verabredet, die alle „auf null“ zurückbringt, falls die Suggestivkraft der Musik die Konzentration schwächeln lässt. Als Orientierungshilfe gleichermaßen. Für den Chor und die Solisten zählt er die Zahl der letzten Wiederholungen von vier an rückwärts. Gut sichtbar. Das klappte gestern ganz hervorragend. Anstrengend war’s, das sah man allen an. Psychisch und physisch. In der Musik war so viel los (also eher maximal), dramatische Passagen wechselten sich mit lyrisch-melancholischen ab.
Ach ja, dieser melancholische Herrscher von Ober- und Unterägypten, der sein vereintes Reich mit der Sonnenreligion auf den Kopf stellte, der so viel wollte und so grandios scheiterte. Er versäumt es, seine Herrscheraufgaben zu erfüllen und zieht sich ins Private zurück. Wiegt hier ein Baby und räumt dort den Esstisch ab. Tiefenpsychologisch gedeutet: Indem Echnaton sich menschlich zeigt, erfüllt er seine Gottrolle nicht mehr. Der Wandel von der Transzendenz zur Immanenz birgt von Anfang an sein Scheitern in sich.
Wunderbar begleitet die Musik die Figur bei Aufstieg und Fall. Sehr berührend das Terzett mit seiner Frau Nofretete (Susanne Blattert) und seiner Mutter Teje (Marie Heeschen). Auch hier ruft die Psychologie uns wieder zu: Die Mutter ist immer dabei. (Ödipus, ick hör dir trapsen.) Ein Kunstgriff, damit Glass die drei hohen Stimmen des Countertenor (Benno Schachtner), des Mezzosopran und des Sopran so raffiniert ineinander ornamentiert? Faszinierend anzuhören, schön anzuschauen, die Frauen in ägyptischen Kostümen und Echnaton im nondescript weißen, zeitlosen Hemd-Hose-Sneaker Ensemble. Aber das hat seinen Sinn. Er ist ein Zeitreisender, gleichermaßen in der ägyptschen Antike verhaftet wie im Hier und Jetzt präsent.
Diese Musik hat etwas Orgiastisches. Unaufhörlich kreist sie auf einen Höhepunkt zu, der aber sich aber so lange wie möglich herauszögert. Die Vereinigung von Echnaton und Nofretete dauert gefühlt endlose Minuten des körperlich und musikalisch sich Umarmen, Verschmelzen, und Aushauchen. Vorhang …
Hier wird es Zeit, auf die Parallelhandlung einzugehen. Ja, Regietheater hieße nicht so, wenn nicht die Regisseurin, die ideenreiche Laura Scozzi, der Glass-Oper ihre eigene Farbe und Form gegeben hätte. In aller Kürze: Wir beginnen und enden in der Gegenwart. Eine Schulklasse findet sich laut Curriculum mit den alten Ägyptern konfrontiert. Die Begeisterung hält sich in Grenzen, die Jugendlichen gehen über Tische und Bänke, nur Marie, die mit dem katholischen Namen, verfällt an Ort und Stelle ihrem „Prince Charming“. Wie lassen sich 3.300 Jahr lässig überbrücken? Mit einer WhatsApp: Marie und Echnaton daten zunächst per Handy. Dann steigt sie via Gruft und Pyramide in sein Leben ein, ausgestattet mit seinem Buch, seiner Lehre, seinem Vermächtnis.
Wie das so ist mit dem Faszinosum einer absolut gesetzten Lehre – Marie wendet sich von der peer group, ihren Eltern, ihrer Religion (the creeping Christ with his crown of thorns & stigmata), von aller Vernunft ab. In einem komplex arrangierten Initiationsritus wird sie zur IS-Kämpferin. Der Dschihad ruft. Diese Szene hat musikalisch und dramaturgisch eine ungebändigte Kraft. Die Schulklasse danced wild, ekstatisch, um ihr Leben, the writing on the wall perpetuiert sich ständig (Ich bin, der ich bin), Marie wird gereinigt, neu eingekleidet, die Musik tobt und tost. Das verlangt auch den Zuschauern einiges ab.
Zurück zu Echnatons Geschichte. Er zeigt sich dem Volk aus luftiger Höhe – unantastbar gleichermaßen – und verkündet die Idee seiner Religion. Ein einzigartig betörender Hymnus erklingt aus dem Mund von Benno Schachtner. Gut acht Minuten erfüllt er den Saal mit seiner in den Höhen ganz geschmeidigen und klaren Stimme. Achtung, hier besteht Suchtgefahr. Man möchte einfach mehr davon hören. Gleichzeitig zeigt die Regie, welche Früchte eine allein seligmachende Lehre zeitigt, gleichgültig ob im Islam, im Juden- oder Christentum. Elohim ist groß, Gott ist größer, Allah ist der Größte, sprühen die coolen Kids an die Mauer. Bis der Graffiti-Künstler (Robin Brune, ganz professionell) über alles eine Friedenstaube legt mit einem Ölzweig im Schnabel. Die Botschaft ist klar. PEACE!
Echnatons Umsturz und die Ermordung der mächtigen, gierigen Priesterkaste ist brillant inszeniert. Zum Festmahl (am Tisch des letzten Abendmahls) finden sich ein Kardinal, ein Ghadaffi look-alike, Vertreter der Banken und der Politik, halbseidene Gestalten, Künstler und Medienleute ein. Nur – das Bankett birgt Gift, den Rest besorgt Marie mit der MP. Alle tot. Und Echnaton macht tabula rasa, ballert die Hallendecke weg: Jetzt herrscht Aton.
Wer Gewalt sät … wird Gewalt ernten. Die Priester und Haremhab, der ehemalige Berater und Heerführer der Amenophis-Dynastie, setzen Echnaton ab, der Mob tötet ihn. Videosequenzen, großformatig projiziert, lassen an der Deutung keinen Zweifel. So ergeht es Diktatoren. Ganz am Schluss die letzte Botschaft: Die Geschichte beginnt immer wieder. Marie ist dabei stets an Echnatons Seite, sie verbirgt unter dem Pulli nicht eine fortgeschrittene Schwangerschaft, die der Pharao anbetet, sondern einen Sprengstoffgürtel. Auch sie findet den Tod in der Konterrevolution, wird heftig betrauert von den Sängerinnen und Sängern der antiken Welt – nun in Tageskleidung von heute.
So, euch wird schon beim Lesen schwindlig? Verständlich. Die zahlreichen Ebenen sind sensationell bildmächtig präsentiert auf der Bühne mit oben und unten, vorne und hinten, rechts und links. Eine separate Choreografie der insgesamt 11 Szenenbilder – das erschließt sich im Gesamtkonzept. Sagte ich Choreografie? Dann meinte ich auch Tanz. Die Schulklasse bildet eine Tanzkompagnie, eigens für dieses Produktion gecastet. Modern dance Scozzi style. Wer Marie ( eine Klasse für sich Katharina Platz) gegen die Wände der alten Werte ankämpfen sieht, ihre Kraft, ihre Dynamik, ihre wilde Entschlossenheit – da braut sich was zusammen. Laura Scozzi sprach vom Prekariat der Banlieues, Stephan Zilias von Köln-Chorweiler, und die Musik wollte er rotziger gespielt haben, mehr Brooklyn style, so dass es für die prolligen Kids passt. Kurz, aggressiv, nerven soll die Musik an diesen Stellen, dann sei sie gut.
Benno Schachtner hat das Theater Bonn für diese Produktion eingeladen. Mit seiner Interpretation des Echnaton empfiehlt er sich bestens für weitere große Partien als Countertenor. Er singt großartig und spielt diesen zwitterhaften, eher doch introvertierten Sonnengott als etwas zwielichtige, verführerisch-im-doppelten-Sinne Gestalt. Alle anderen Rollen füllen Ensemble-Mitglieder aus. Wie sagte Bernhard Helmich bei der Premierenfeier? Wir sind sehr stolz darauf, hier in Bonn solche Produktionen mit unseren Solisten aufzuführen. Also die drei starken, aussagekräftigen Männerstimmen im Haus, die wir zunächst als Priester erleben, die das Herrscherpaar krönen, und später als Umstürzler, die die neue, alte Ordnung re-etablieren. Giorgos Kanaris, Bariton, Martin Tzonev, Bass, und Johannes Mertes, dessen Tenor sich stark vor dem Chor präsentierte. Die Frauen um Echnaton gesungen und majestätisch gespielt von Susanne Blattert und Marie Heeschen.
Der Chor. Der CHOR! Eine Glanzleistung. Ähnlich wie bei Penthesilea kein Text, der sich sprachlich erschließt. Da ist doppelte Konzentration erforderlich, sowohl bei den großen Chorszenen auf der Bühne als auch beim Wiederholungsgesang des Hymnus aus dem Off. Marco Medved darf mit Recht stolz auf seine Damen und Herren im Chor sein, die leider nie namentlich erwähnt werden, sich hier aber eine Portion extra Wertschätzung und Anerkennung abholen können. Fantastisch.
Und dann war da noch der Lehrer/Erzähler/Fremdenführer/Sprecher. Martin Apelt (rechts im Bild), Studienkollege und Freund von Bernhard Helmich, hatte ihn empfohlen: Thomas Dehler (links im Bild). Was für eine Stimme! Was für eine Artikulation und Modulation! Und zum Glück nicht nur Sprecher, sondern auch Schauspieler, sodass Körper und Stimme den Texten Ausdruck verliehen. Ein Glücksgriff für diese Produktion.
Glück? Das strahlte Stephan Zilias aus. Er strahlte … Sonnenpharao nichts dagegen. Seine Musiker haben alles gegeben und so flogen Kusshände in den Graben. Bravissimi tutti im Beethoven Orchester Bonn! Geadelt wurde diese außerordentliche Leistung von Dirk Kaftan, der lässig beiläufig fallen ließ: So gut wie Stephan hätte ich das nicht hingekriegt. Der berühmte Wermutstropfen in diesem Glücksreigen? Herr Zilias verlässt Bonn Richtung Berlin, wo er seine glänzende Karriere fortsetzen wird. So war dies seine letzte Premiere hier, und in seinen persönlichen Applaus mischten sich auch viele Och-nööös. We hate to see you go, but we wish you the very best.
Unser toi, toi, toi (weiß übrigens einer, wo das herkommt?) klingt in einigen Sprachen deutlich anders. Um das böse Omen zu verscheuchen, zitiert man es herbei. So heißt es auf Englisch „break a leg“ und auf Französisch „merde“. Viel „Mist“ hat Laura Scozzi am Premierenabend auf ihrem Haufen vorgefunden. Stehende Ovationen und ein Dutzend Buh-Rufer. So ist recht, dachte sie vielleicht. Sie mag Widerspruch und liebt es, zu provozieren und zu polarisieren. Ihr Echnaton birgt Zündstoff – in jeder Hinsicht.
* Die Anregung kam von Uwe Rees, dem Musikexperten unter den Opernführern, die Zitate nach die ZEIT 2005
*Rezension im Spiegel Uraufführung
*Rezension in der ZEIT Uraufführung
Liebe Frau Tillmann, mit großem Interesse habe ich nicht nur Ihre Live Einführung in der Oper gehört, sondern auch den zugehörigen Blogartikel gelesen. Eine sehr gelungene und informative Darstellung dieses wunderbaren Werkes, das ich mir auf jeden Fall nochmal ansehen möchte!
Mit freundlichen Grüßen aus Bad Godesberg von Astrid Wiese
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Hallo Frau Tillmann,
nach einer (zufälligen?) Begegnung mit Ihnen in der Bonner Oper, anlässlich der Aufführung „Echnaton“, folge ich gerne Ihrem Wunsch und gebe Ihnen eine kurze Rückmeldung meiner persönlichen Eindrücke zur o.g. Aufführung. Der erste Eindruck war: super musikalische Umsetzung und überwiegend guter Gesang (besonders hat mir der Chor gefallen) – Philip Glass lässt grüßen ;-).
Die Inszenierung dagegen hat mein Herz nicht erreichen können. Da war mir zuviel Tamtam und es kam mir immer wieder zu trivial herüber, leider. Eine Anmerkung zum Bühnenbild: mich störte eine vorhergegangene Graffiti auf der „Mauer“, die bestimmt nicht sichtbar sein sollte, als dann der schriftliche religiöse Diskurs stattfand.
Die Gespräche im Foyer mit Ihnen waren sehr erfrischend und Sie haben dabei eine auffallende Präsenz geboten. Danke für die entusiastische Einführung, dank der mein Urteil weniger kritisch ausfällt.
Ihnen weiterhin viel Freude bei Ihren kulturellen Exkursionen.
Mit herzlichen Grüßen
G. S.
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