Trunkenbold, Bösewicht, Tunichtgut und Weiberheld – so urteilen die dienstbeflissenen hohen Beamten am Hof des Kaisers von China über Li-Tai-Pe. Das gemeine Volk allerdings, aus dem der liebenswerte Suffkopp stammt, erhebt den Poeten im Lobgesang zum Idol : „Der Welten Kaiser ist der Dichter.“ In dieses Gefälle platziert Clemens von Franckenstein seine kleine, feine Oper Li-Tai-Pe, uraufgeführt 1920 in Hamburg. Eine Preziose in der großen Schatzkiste all‘ jener Werke, die nach 1933 nicht mehr gespielt wurden und dann nach dem Krieg in Vergessenheit gerieten. Die Oper Bonn hat mehrfach richtige Coups gelandet, indem sie solche Schätze hob wie Penthesilea, Oberst Chabert oder Leonore 40/45.
Und? Hat Li-Tai-Pe Staub angesetzt in der 80-jährigen Ruhephase? Wenn es so war, dann hat Adriana Altaras mit der Windmaschine die Flusen im Turbogang hinweggefegt. Sie entwirft ein Bühnenspektakel, eine sinnliche, farbenprächtige und bildmächtige Show, die allenthalben begeistert. Ihre erklärte Maxime dabei: aus der dürftigen Geschichte überzeugendes Musiktheater zu entwickeln.
Der Plot verbindet drei in der Literatur durchaus gängige Stränge. Da ist der lebensfrohe Dichter aus dem Volk, der Bohemien, der nicht nach Ansehen, Amt, Geld und Macht strebt, sondern seine Freude an der stetigen, nie versiegenden Weinquelle hat. Dass ihm dabei noch die allerschönsten, lyrisch-metaphorischen Verse einfallen, macht ihn zu einem liebenswerten Kumpel. Als er beim Dichterexamen durchfällt, hat das im späteren Verlauf weitreichende Konsequenzen. Natürlich hat so ein Idol auch seinen Fanclub, an dessen Spitze das Mädchen aus dem Volke, Yang-Gui-Fe (Anna Princeva), den Justin Bieber der Tang-Zeit förmlich anbetet. Ob sie ihn liebt, obwohl er sie nicht beachtet? In erster Linie gehört ihr Herz seinen in zauberhafte Naturbilder gekleidete Versen, die sie himmlisch schön singend rezitiert. Ob er sie liebt? Es dauert lange, bis der selbstgefällige, auch etwas tumbe Egomane das Glück an seiner Seite wahrnimmt.
Im Kaiserpalast verzehrt sich derweil der Herrscher Hüan-Tsung (Joachim Goltz) nach einer koreanischen Prinzessin. Wo sich ein Tamino oder ein Mandryka noch selbst auf den Weg machen, um die Schöne auf dem Bildnis aufzuspüren, schickt der Kaiser von China einen Boten. Der erste Minister, Yang-Kwei-Tschung (Tobias Schabel), und der Kommandant der Garden, Kao-Li-Tsi (Johannes Mertes), erweisen sich bei aller schmierigen Anbiederung als Totalausfälle in Sachen Liebeslyrik. Die Wahl fällt auf Li-Tai-Pe (Mirko Roschkowski), der nun diese beiden Beamten, die ihm den Erfolg bei der Akademieprüfung versagten, zutiefst demütigt. Sie müssen ihm Schuhe und Strümpfe anziehen und die Tusche reiben, also echte untergeordnete Hilfsdienste erfüllen.
Der gute Geist dieser Gesamtgemengelage ist Ho-Tschi-Tschang (Giorgos Kanaris), Doktor der Kaiserlichen Akademie. Er entpuppt sich als väterlicher Freund des weinseligen Li-Tai-Pe, schickt ihn zur Examensprüfung, holt ihn aus dem Mief der unterirdischen Garküche, zwingt ihn, beim Kaiser mal fix ein Liebeslied aus dem Ärmel zu schütteln. U N D – er gibt ihm Yang-Gui-Fe, als Page verkleidet, mit auf die Schifffahrt nach Korea. Das soll sich noch als cleverer Schachzug herausstellen. Denn am Hofe entwickelt sich die einzige kleine Intrige des Stücks, vom echten Konflikt noch weit entfernt. Als großer Verführer bekannt, soll Li-Tai-Pe nun auch eine Romanze mit der zukünftigen Ehefrau des Kaisers gehabt haben. Minister und Kommandant machen mit ihrem Racheplan den Kaiser misstrauisch und Li-Tai-Pe fordert nun sein Recht ein, dass dieser Vorwurf erst einmal mit einem Zeugen bewiesen werden müsse. Yang-Gui-Fe gibt vor, gegen eine ordentliche Entlohnung Li-Tai-Pes Verfehlung zu bekräftigen, dem dann sofort die Todesstrafe droht. Aber – das Happy End ist in Sicht. Im letzten Moment schlägt sie eine Volte und beteuert seine Unschuld, weil sie ihn als sein eifersüchtiges Weib nie allein gelassen habe.
Was dem Libretto aus der Feder von Rudolf Lothar an Dramatik fehlt, macht Adriana Altaras an Inszenierung wett. Die drei Schauplätze gestaltet sie als moderne Garküche statt einer Taverne an der Straße nach Peking. Der zweite Akt spielt als die zentrale Szene im Kaiserpalast mit den schier unendlich ansteigenden Stufen in immer weitere Kammern des Herrschersitzes in Rot, vor dem jetzt der goldene Drache als Herrschaftssymbol tanzt. Sukzessive erscheinen auf den glatten Stoffbahnen die Schriftzeichen für die Liebesverse. Der Kaiser selbst erscheint in einem prächtigen goldenen Umhang und dann in einem roten Anzug. Das Schlussbild zeigt zunächst den Saal der Jahresversammlung der Kommunistischen Partei Chinas (erst 1921 gegründet), alles wieder in Rot, inklusive Teekannen und Spucknäpfen, dann den Garten am Kaiserpalast, wo das Schiff mit der Prinzessin Fei-Yen eintrifft.
Adriana Altaras machte sich zunächst als Theater- und Filmschauspielerin einen Namen, bevor sie auch Bücher schrieb und Opernregie führte. Daher rührt ihre Liebe zum Detail, zum (komischen) theatralischen Effekt, zu den kleinen schauspielerischen Finessen, zu denen sie die Sängerdarsteller und -innen anleitet. Ob sich der Kommandant der Garden die Sonnenbrille zurechtrückt oder der Doktor der Kaiserlichen Akademie den Hut, ob sich Yang-Gui-Fe die Schürze abnimmt oder der selbstgefällige Li-Tai-Pe im Übermut tanzt – alles Elemente des physical acting, wo die Handlung durch den Gesang und die Körpersprache ergänzt zum Tragen kommt.

Die unterhaltsame Note erhält das kurzweilige Stück auch durch die passgenauen, aussagekräftigen Kostüme der Personen (von Nina Lepilina). Das Kaiserpaar sowohl lässig als auch imperial im edlen Rot und Robe, der mafiös-intrigante Kao-Li-Tse im Nadelstreifen, der schlagwütige erste Minister Yang-Kwei-Tschung in ordenbehangener Uniform. Yang-Gui-Fe zunächst in einfacher Leinenhose und Bluse, dann im frackähnlichen Anzug des kaiserlichen Pagen und schließlich Li-Tai-Pe vom Einheits-Arbeitsanzug in Birkenstocks hin zu Brokatmantel und feinen Lederstiefeln: Jedes Outfit erzählt eine eigene Geschichte, auch die des einfachen Volks in der Garküche.
Li-Tai-Pe ist ein Fest für die Augen, aber was boten Musik und Gesang? Schließlich handelt es sich um eine Oper, die sich für etliche Jahre nach ihrer Entstehung großer Beliebtheit erfreute. Clemens von Franckenstein hatte in seinem Leben in drei Positionen großen Erfolg: als Intendant, als Dirigent und als Komponist. Er was also mit allen zeitgenössischen Bühnenwerken der werten Kollegen bestens vertraut. So wundert es kaum, dass aus dem Graben die angespielten und dann mit Bläsern abgebrochenen Walzer aus Elektra bekannt erscheinen, die Geigenpassagen an Puccini erinnern und gesangliche Elemente eher bei Wagner zu verorten sind. Die opulenten Tonbilder vereinen überschäumende Filmmusik und grandiose Tutti im fortissimo. Konventionelle Elemente wie die Königstrompeten auf der Bühne für die Ankunft des Kaisers und asiatisch anmutende Tonfolgen bei Yang-Gui-Fes Kormoran Lied formen einen Sound, der abwechslungsreich, mit großem Tempo und musikalischer Verve daherkommt.
Hermes Helfricht dirigierte das Beethoven Orchester Bonn mit viel Gefühl für die diversen Elemente, die dann bei allem, was ständig im Graben musikalisch los war, gut erkennbar im Publikum ankamen. Ganz gar überzeugend der Chor, dessen Partien Marco Medved mit seinen Sängerinnen und Sängern ausgezeichnet vorbereitet hatte, vom großen Tutti zu Beginn bis hin zu den lyrischen Passagen. Glänzend besetzt waren ausnahmslos die Sängerrollen. Die kleineren mit Ensemblemitgliedern, auf die immer Verlass ist: Martin Tzonev als Herold, Kieran Carrel als Wirt, Pavel Kudinov als Soldat. Die Prinzessin sang Ava Gesell mit ihrem hellen, klaren Sopran, den Kaiser Joachim Goltz, der sich als Wagner-Bariton einen Namen gemacht hat, mit toller Diktion und Textverständlichkeit. Giorgos Kanaris als besonnener, wenn nicht cooler Udo-Lindenberg Look alike blieb seiner Rolle als vernunftorientierter Freund treu. Souverän gab er sängerisch und darstellerisch den Doktor der Kaiserlichen Akademie, Ho-Tschi-Tschang, mit dem warmen Timbre seines Kavalierbaritons.
Die weibliche Hauptrolle sang Anna Princeva, die die ganze Kraft ihres schönen, eher dunklen Soprans – auch in den Höhen – ausspielen konnte. Im Stück musste sie sich rollengemäß, den großen Star bewundernd, zurückhalten. Im Schlussapplaus gab es aber kein Halten mehr. Sie flog ihrem kongenialen Partner Mirko Roschkowski in die Arme. Das Liebesduett der beiden in der letzten Szene zeigte sehr deutlich, wie wunderbar sie aufeinander eingestimmt sind. Seit Elsa und Lohengrin gelten sie als das Traumpaar der Bonner Bühne. Mirko Roschkowski als Titelheld genoss seinen Part in vollen Zügen. Er verfügt über den Tenorschmelz, mit dem seine Lieder die Lippen der Frauen küssen. Jeder Blick, jede Geste – dieser Liedverführer dichtet sich in die Herzen der Leserinnen und Hörer.
Was hat es auf sich mit der Vorliebe für exotische Schauplätze und Themen in den ersten beiden Jahrzehnten nach der vorigen Jahrhundertwende? Puccinis Madama Butterfly machte 1904 den Auftakt, Chinoiserien und Ornamentik des Jugendstils prägten die Zeit. Das Kaiserreich hatte einen Kolonialismus und Imperialismus geprägt, der heute täglich neu die Diskussion um kulturelle Aneignung und (karikierte) Stereotype entfacht. Adriana Altaras weiß um die Problematik und lässt am Anfang und am Ende die Videoprojektion einer mit tausenden Menschen bevölkerten Straße in einer Multi-Millionen-Metropole in Asien einblenden. Sie lädt ein zu einem Salto rückwärts um 1.300 Jahre, in der diese märchenhafte Geschichte spielt.
Das Theater Bonn führt die Oper Li-Tai-Pe noch vier Mal bis zum 24. Juni 2022 auf. Infos und Karten hier.
Anschaulich, informativ und sprachstark – wie immer – geschrieben…Herzlichen Dank…
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Vielen Dank für die lieben Worte, Susanne!
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Adriana Altaras habe ich einmal in einer Lesung in Osnabrück erlebt. Sie las aus ihrem urkomischen Buch „Titos Brille“. https://operasandcycling.com/titos-glasses-in-osnabruck/
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