TURANDOT – eine Eisprinzessin aus sagenhafter Vorzeit

Ganz großes Kino! Die Oper Köln präsentiert mit Turandot ein monumentales Spektakel. Die Kino-Metapher mag sich mittlerweile ein wenig abgenutzt haben, aber die Regisseurin Lydia Steier spielt selbst mit dem Begriff: KINO als riesige rote Zirkus-Leuchtschrift prangt zunächst über dem saalfüllenden Bühnenbild. 2017 feierte Giacomo Puccinis letzte und leider auch unvollendete Oper hier ihre Premiere. In der Zwischenzeit hat die Aktualität von Macht und Greueltaten, Unterdrückung und Gewalt eher zugenommen. Und das nicht nur in China!

Drehen wir die Zeit um 100 Jahre zurück. Kunst, Kunsthandwerk und Architektur schwelgen in der italienischen Variante des Jugendstils, dem Liberty. Orientalische Muster allenthalben und märchenhafte Stoffe wie aus Tausendundeiner Nacht sind en vogue. In diesem Zeitgeist greifen die Librettisten Giuseppe Adami und Renato Simoni auf eine tragikomische Fabel von Carlo Graf Cozzi zurück, zu der Puccini die Oper Turandot komponiert.

Was passiert? Titelheldin ist die Sphinx-ähnliche, monströse Prinzessin, die mit unerbittlicher Grausamkeit jeden königlichen Bewerber um ihre Hand köpfen lässt, sobald er es nicht schafft, ihre allegorisch verpackten Rätsel zu lösen. Ein Exempel statuiert sie auf offener Bühne, als der schöne persische Prinz versagt. Die Regie allerdings ist gnädig und lässt ihm nur die Finger abhacken.

Nun betritt ein Unbekannter aus dem entfernten Königshaus die Szene und am musikalischen Turandot-Motiv wird umgehend klar, dass er dieses männermordende Scheusal bezwingen wird. Ihn begleiten sein Vater Timur, der greise, hinfällige ehemalige tartarische Kaiser; den blinden alten Mann führt die Sklavin Liu, für die ein Blick des Prinzen genügte, um ihn für immer genauso bedingungslos wie aufopfernd zu lieben.

Der furchtlose Unbekannte löst die drei Rätsel, verliebt sich sofort in Turandot und erkennt, dass er sie nun tunlichst nicht als die Bezwungene dem Volk zeigt, sondern ihr die Gelegenheit gibt, ihr Gesicht zu wahren. Er bietet der kaiserlichen Prinzessin an, sie aus dem Versprechen zu entlassen, wenn sie bis zum Morgengrauen seinen Namen herausfindet. Die Schergen foltern Timur und Liu, das Volk duckt sich in Todesangst weg: Wenn sie versagen, wird Turandots Rache fürchterlich sein. Die treue Liu erdolcht sich und bewahrt so ihr Geheimnis. Calaf liebt Turandot jetzt über alle Maßen und verrät ihr – quasi als Morgengabe – seinen Namen. Sie wäre frei, sie könnte ihn töten, aber vollzieht eine wohl einmalige Kehrtwendung von Hass und Grausamkeit zu Zärtlichkeit und Liebe.

Soweit der – auch auf der Bühne – ganz linear erzählte Plot. Was allerdings Lydia Steier auf der Bühne im Staatenhaus in Köln daraus macht, ist eine ganz andere, sehr vielschichtige Geschichte. Die Bühne lässt sie aus verzinkten Baustützen konstruieren: Eine provisorische Interimslösung, ganz ähnlich wie die Besucherränge im Saal, die auf der gleichen Art Stangen erbaut sind. Und genauso wie die Tribünen, die für die Massen von rechts und links hereinfahren: diese Stützen dienen nur einer temporären Stabilität.

Wie eine Baustelle besuchen dann auch einige wohlsituierte westliche Paare den Ort. Wie geht das Geschehen voran? Worüber amüsiert man sich? Wo hält man besser Abstand? Sie sind interessiert, aber stumm. Wie viele Analogien zu asiatischen (und anderen) totalitären Regimes kann man hier ziehen? Die erst kürzlich perfekt inszenierte und minutiös choreografierte Sitzung der chinesischen Nationalversammlung in Peking spricht da sicher (Vergleichs-)Bände.

Steier zeichnet mit allen Auftritten des Chors eine psychologische Ausleuchtung der Masse. Ob da ungefähr 100 Sängerinnen und Sänger von Chor und Extrachor als farb- und gesichtsloses, unterdrücktes und ausgelaugtes Volk erscheinen, ob sie eifrig rote Fähnchen wedeln in subalterner Zustimmung oder ob sie einen wetterwendischen Haufen der simpelsten Daumen-hoch oder Daumen-runter Abstimmung darstellen … das alles kennen wir seit der römischen Dekadenz und dem diktatorischen Prinzip des „Brot und Spiele“. Die Massen sind so leicht zu manipulieren, Geschichtsklitterung – auch Turandot begründet ihren Männerhass auf eine uralte Untat – als Rechtfertigung für nackte Gewalt kein (tages-)politischer Einzelfall. Allerdings scheinen hier die erbarmungslosen Säuberungsaktionen während Maos Kulturrevolution durch. Ungelöst bleibt die Diskrepanz zwischen einer öffentlichen Hinrichtung als Faszinosum für die Massen und die ständig präsente Angst, es könne einen wegen einer Nichtigkeit selbst treffen. Die Psychologie der Masse im Hinblick auf jedwedes totalitäre System ein aktuell mehr denn je präsentes Phänomen!

Aber keine Sorge! Diese hochdramatische Turandot lockt das Publikum nicht in ein politisches Seminar, sondern in eine opulente, glänzende Opernaufführung: Augenweide und Ohrenschmaus gleichermaßen garantiert. Das Gürzenich Orchester unter Felix Bender zaubert mit den asiatisch anmutenden Fünftonschritten, der Pentatonik, den Gongs und Klangstäben, der Celesta und dem Xylophon sowie Glockenspiel und vordergründig einfachen Melodien die couleur locale einer (damals) unbekannten, faszinierenden Welt. Aber diese musikalische Welt hat Brüche – so bilden die prägnanten ersten Takte der österreichischen Nationalhymne das Intro für die chinesische. Das Orchester spielt hinter der Bühne und das macht es den Sängerinnen und Sängern leichter und schwerer zugleich. Es ist einfacher, mit der eigenen Stimme großes Volumen zu erzeugen, ohne zu stark zu forcieren, und gleichzeitig eine Herausforderung, wenn ihnen die Musik im Nacken sitzt.

Die Titelrolle singt Astrik Khanamiryan, die mit ihrem sehr dunkel timbrierten Sopran auch typische Mezzo-Rollen im Repertoire hat. Das Hochdramatische der vom emotionalen Eismantel umhüllten Kaisertochter liegt ihr sehr. Nehmen wir sie zunächst nur als Stimme wahr hinter den Toren des Palasts, schafft ihr Auftritt maximale Distanz zur Dienerschaft und zu ihren Opfern. Wie eine Kirmespuppe im Karton umrahmt sie ein Kleid aus dunkelroten Samt-Pompons, das sie nicht einmal allein bewältigt. Ein älter gewordenes Girlie, gegen das der schwache Vater sich nicht durchsetzen kann. Nachdem allerdings ihr (!) Kuss die Hingabe an Calaf besiegelt hat, verwandelt sie sich in eine femme fatale im Marlene-Dietrich-Stil: schwarzer Smoking und blonde Perücke. Sie bleibt eine Puppe, deren aufreizendes Haareschütteln sie nicht menschlicher macht.

Wie Bizet mit Micaëla in Carmen und von Franckenstein mit Yang-Gui-Fe in Li-Tai-Pe stellt Puccini mit der Figur der Liù ein hingebungsvolles, unschuldiges, sehr empfindsames einfaches Mädchen an die Seite des Helden und als Gegenentwurf zu Verrat, Intrige und Bosheit in die musikalische Symmetrie. Für Calafs Heldengeschichte bedeutet sie wenig, aber die lyrisch-zarten Töne gehen gleich in ihrem ersten Auftritt so zu Herzen, dass Yitian Luan spontan mit Brava-Rufen und großem Beifall belohnt wird. Ihre Partie singt sie seit einigen Jahren, sodass sich Erfahrung und gefühlige Wärme hier paaren.

Die beiden Alten sind glänzend besetzt. Alexander Fedin kehr noch einmal auf die Bühne als Altoum, Kaiser von China, zurück und genießt das Spiel. Zuviel der Ehre, wenn die Claqueure ihn bejubeln, Augenverdrehen bei den Anwandlungen der kapriziösen Tochter. Ach, was geht ihn das noch an! Er fühlt mit den Aspiranten mit und rät fremden Prinzen dringend, den Kaiserpalast zu verlassen, um sein Leben zu retten. Der Bass Lucas Singer gibt den greisen Timur, Calafs Vater, ganz angewiesen auf die umanità und carità der selbstlosen Liù. Er schweigt unter der Folter. Beide Väter stehen für Anstand, Würde und Menschlichkeit.

Wie ein zeitgenössisch angemessener Marco Polo kommt der „Drachenbezwinger“ Calaf kaum daher. Eher wie Sir Francis Drake oder Vasco da Gama, mit hohen Liederstiefeln und gefälteter Halskrause. Ein Tenor wie im (Helden-)Bilderbuch! Mit seinem siegessicheren „Vincerò“ am Ende der Superhit-Arie „Nessun dorma“ lässt er die ganze Halle erbeben; der Szenenapplaus könnte kaum begeisterter ausfallen. Calaf hat sich zur Paraderolle für den italienischen Tenor Stefano La Colla entwickelt, die er an den renommiertesten Opernhäusern der Welt bereits gesungen hat.

Puccinis musikalische Brüche im Orient-Okzident Verhältnis spiegelt Lydia Steier im Ausloten von Tragödie und Komödie wider. Wo es so blutrünstig zugeht wie im chinesischen Kaiserpalast, braucht es ein heiteres Gegengewicht. Das bilden der Kanzler Ping, der Marschall Pang und der Küchenmeister Pong, gesungen und vor allen Dingen gespielt von John Heuzenroeder (Tenor), Seung Jick Kim (Tenor) und Insik Choi (Bariton), alle drei Ensemblemitglieder der Oper Köln. Sie gestalten das Spiel im Spiel; wir finden sie samt Butterbrot und Whiskeyflasche in ihren Garderoben. Runter vom Tennis-Schiedsrichter Stuhl, runter mit dem Kostüm, leger in Unterwäsche die chinesische Geschichte Revue passieren lassen. Ihr Wunsch – zum Häuschen am See zurückkehren, das von Bambushainen umgeben ist. Was für eine verführerische pastorale Fantasie angesichts der verrückten Liebenden und der zahllosen Opfer dieses höfischen Wahnsinns – wunderschön gesungen.

Ein bisschen Karneval herrscht in Köln immer, wenn Lydia Steier Regie führt. Und so fahren die Knaben und Mädchen der Kölner Dommusik auf einem von goldenen Sklaven gezogenen Drachenwagen in den Saal: Rote Seidenjacken, glänzender Kopfschmuck mit roten und pinken Pompons und ein entzückender mehrstimmiger Gesang setzen ein Gegengewicht zu dem grausigen Männer- und Frauenchor „Gira la cote!“ (Schleift das Messer!).

Dieses Kunststück der Balance zwischen märchenhaftem Zauber, grausamem Regime und nostalgischer Sehnsucht gelingt allen Beteiligten dieser fantastischen Produktion auf allen Ebenen. Am Ende fliegen Blumensträuße in Pink und Rot für Yitian Luan und Astrik Khanamiryan direkt in die Arme der Solistinnen und alle im Publikum erheben sich von ihren Plätzen, um mit stehenden Ovationen diesen großartigen Opernabend zu würdigen.

Die Oper Köln spielt Turandot noch sechsmal bis zum 20. November 2022. Infos und Karten hier

Anmerkung: Das Foto des Kinderchors stammt aus dem Jahr 2017.

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