Das Glück wohnt im Rheinland, titelt der General-Anzeiger am 12. Oktober 2018. Dies unterstreicht der neue erste Kapellmeister mit heftigem Kopfnicken. Glücklich schätzt er sich selbst, weil er hier in Bonn eine tolle Stelle, ein großartiges Orchester, wunderbare Menschen und ein nahezu mediterranes Flair in der schönen Stadt am Rhein angetroffen hat. Der Sommer ist so verliebt in uns wie wir in ihn: Er kann uns nicht lassen. Mitte Oktober sitzen wir im Straßencafé bei 26 Grad und nehmen uns zwei Stündchen zum Plaudern.
Die Standardfrage gleich zu Beginn. Wie und warum entscheidet sich ein junger Mensch für den Beruf Dirigent? Anekdoten und Details perlen nur so und ich sortiere sie für euch mal in einigermaßen chronologischer Reihenfolge. Mit vier Jahren erlebte er am Bildschirm das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Zubin Mehta am Pult. Da und dort war klar: Das will ich auch. Ein Orchester führen. Die Körpersprache, die vielen kleinen Gesten und minutiösen Mimiken des Maestros beobachtet er ganz genau. Jahre später, während seines Musikstudiums in Berlin, nutzte er jede Möglichkeit, Dirigenten bei der Arbeit zu beobachten. „Von den Besten lernen“ war sein Motto. Und dabei auch den Probenbetrieb kennenlernen, wie ein Stück sukzessive Form und Klang annimmt. Im akademischen Studium fehlt dieser Teil der Alltagsrealität, aber Hermes Helfricht hat sie sich so früh abgeschaut und angeeignet.
Aber halt, ich bin um Jahre vorgeprescht. Beide Eltern führen ihn an klassische Musik heran: Eine umfangreiche CD-Bibliothek machte Musikgenuss jederzeit möglich. Das Herz seines Vaters schlägt besonders für die leichtere Muse, das Öperchen, die Operette. Auf langen Autofahrten spielten sie die heiteren Stücke und bald sang der Knabe alle Partien mit und nach. In Dresden geboren und aufgewachsen – da lag der Eintritt in den Dresdner Kreuzchor für den Knaben mit der schönen Stimme nahe. Sehr diszipliniert ging es dort zu, die Jungen probten nach der Schule bis zu 3 Stunden täglich, zusätzlich Stimmbildung und Instrumentalunterricht. Über hundert Konzerte und Auftritte absolvierten die jungen Sänger pro Jahr in ihrer Heimat Dresden sowie im In- und Ausland. “In diesen 10 Jahren lernte ich eine unglaubliche Fülle an a cappella Chormusik und alle großen Oratorien kennen.“ Neben der Sakralmusik erlebte Hermes mit 12 Jahren hautnah die Freude, an einer Oper mitzuwirken. An der Komischen Oper in Berlin trat er als einer der drei Knaben in der Zauberflöte auf, damals mit Jonas Kaufmann als Tamino.
Was liegt ihm heute mehr? Oper oder Sinfoniekonzert? Hermes zögert nicht lange. Er liebt das Theatralische, auch die Überraschungen, die mit Menschen auf der Bühne und der Technik oft einhergehen. „Ein Sinfoniekonzert zu dirigieren ist wunderbar. Wenn die Noten sitzen und gut probiert wurde, kann man sich auf ein gutes Konzert freuen. Der Unterschied zur Oper besteht darin, dass Orchester und Dirigent mit allseits wachem Ohr den Sängern folgen. Man muss immer flexibel bleiben, notfalls Tempi geringfügig modifizieren.“
Schauen wir ihm im Graben über die Schulter. Eine seiner Maximen: Musiker wollen spielen, nicht reden. Wenn der Dirigent seine Wünsche in viele Worte packt, unterbricht er den Spielfluss und die Spielfreude. Zumal es sehr schwierig ist, Musik zu versprachlichen. Was genau macht denn den Unterschied aus zwischen Dirigenten, die den klassischen Taktstock schwingen, denen, die mit der Hand dirigieren und denen, die lässig alles aus dem Ärmel oder dem Handgelenk schütteln? Auf die letzte Variante geht er erst gar nicht ein. Die führende Hand, die richtungweisende, braucht es auf jeden Fall. Er hält den Baton im dunklen Orchestergraben für unverzichtbar. Gegen die schwarze Kleidung des Dirigenten erweist er sich als besser sichtbar, auf den Monitoren über und hinter der Bühne für Solisten und Chor ebenfalls.
Wie ging es aber nach dem Kreuzchor und den Operettenarien weiter? Welche Optionen standen ihm offen? Profi-Tennisspieler war tatsächlich eine Karriere, die er ins Auge fasste, ein Medizinstudium war in der engeren Auswahl, aber schließlich siegte die Liebe zur Musik.
Auf nach Berlin mit seinem unerhörten Reichtum an klassischer Musik. Und nach dem Examen gleich ein Stellenangebot in Erfurt, von dort nach Sankt Gallen in der Schweiz. Hier arbeitete er an den echten Top Ten der Repertoire-Opern mit: Tosca, Fidelio, La Boheme, Figaro, Carmen … Dann wurde die Stelle des ersten Kapellmeisters in Bonn frei. Und wie alle Erfolgsgeschichten lauten: Ich habe mich einfach beworben.
Sein Probedirigat absolvierte er im Frühjahr mit dem Figaro, dem Chefstück in der zweiten Hälfte der Spielzeit. Schon bald danach rief GMD Dirk Kaftan ihn an und beglückwünschte ihn. Bonn würde ihn gern willkommen heißen. Hermes arbeitet momentan als Assistent mit dem GMD am Lohengrin. So viel könne er von seiner Erfahrung lernen, von dessen Musikalität profitieren. Und ganz besonders genau hört er hin, wenn Dirk Kaftan den Musikern in einem Sprachbild einen musikalischen Weg zu einer tollen Performance aufzeige. Am meisten imponiere ihm darüber hinaus, wie subtil und unterstützend Kaftan Kritik äußere. Einfach ein „Maestro“ seines Fachs!
Mit dem Opernübervater Richard Wagner verbindet ihn eine ganz persönliche Erfahrung. Seiner Mutter war es gelungen, Karten für Tristan und Isolde in Bayreuth zu ergattern. Das mag so 13 Jahre her sein. Da machte er die Bekanntschaft dieser Kultstätte für die eingeschworene Fangemeinde. Dieses Erlebnis prägt sein Opernverständnis bis heute. Der gedeckelte Graben, der den Orchesterklang samtig-warm beeinflusst, eröffnet den Sängerinnen und Sängern ungeahnte Möglichkeiten. „Früher“, erläutert Hermes, „war der Graben öfter zu einem Drittel abgedeckt. Die Idee des offenen Orchestergrabens und der manchmal angehobenen Bühne hat sich allmählich durchgesetzt.“ Dadurch entwickelte sich ein anderes Verhältnis von Singstimme und Orchester; erstere erhält vor den Instrumenten den Vorrang.
Der Kaiser von Atlantis war sein Debüt im Bonner Operngeschehen, im intimen Raum der Werkstatt. Stephan Zilias hatte bereits vor der Sommerpause mit den Vorbereitungen begonnen, Hermes Helfricht übernahm und glänzte am Premierenabend. Viel verdienten Applaus gab es dafür. Nun steht am Samstag, den 13. Oktober 2018, Mozarts Zauberflöte auf dem Programm. Sein „sportlicher“ Ehrgeiz ist geweckt, dabei kommt er vollkommen tiefenentspannt rüber. Diese Inszenierung überzeugt in Bonn seit ihrer Premiere vor 22 Jahren und Mozarts Musik verfügt über den junggebliebenen Charme eines gut 200 Jahre alten musikalischen Spiels mit Tiefgang. „Das klappt morgen gut, davon bin ich überzeugt.“ Das wünschen wir ihm natürlich auch, einen erfolgreichen Auf„takt“ mit dem BOB in großer Besetzung.
Als ich die Kamera auspacke, raunt es gleich vom Nebentisch: „Sitze ich neben einer celebrity?“ Eine ältere Dame, die eigentlich in ihr Buch vertieft war. Ich lüfte das Geheimnis und preise Hermes als Dirigenten der Zauberflöte. „Schade, ich hab‘ erst Karten für die Elektra“, kommt es gleich zurück. Aber da ist Hermes Helfricht nicht mit von der Partie.
Er schmunzelt. „Siehst du, das mag ich so an Bonn. Die Leute sind alle so freundlich, man kommt gleich ins Gespräch.“ Er schwärmt dann auch von den cross-over Projekten, vom quasi Erziehungsauftrag der klassischen Musik, von seinem kleinen Stadtteilkonzert in Muffendorf. „Klassische Musik hat für mich überhaupt nichts Elitäres. Sie ist für alle da. Sie gibt so viel Kraft und Stärke und Lebensfreude. Sie führt Menschen über alle Ländergrenzen zusammen.“ Und dann findet er Worte voller Lob und Anerkennung für die vielen Ehrenamtler und den Verein der Opernfreunde. „Zuerst war ich überrascht, wie oft ich diese Menschen in der Oper treffe, also auf den Gängen, nicht im Publikum. Das zeichnet Bonn und vielleicht das Rheinland wirklich aus, das Miteinander, das unkomplizierte Aufeinanderzugehen.“
Zum Schluss die Frage: „Wie geht es denn weiter?“ Er schenkt mir sein schönstes und ehrliches Lächeln. „Ich bin sehr glücklich, dass ich in Bonn arbeite. Zunächst mal für zwei Jahre. Wer weiß, vielleicht mag man mich länger. Aber was in 10 oder 15 Jahren passiert – da mache ich keine Pläne, da habe ich kein festes Ziel. Das Leben hält doch immer wieder so wunderbare Überraschungen bereit.“
Was bereits fest geplant ist: Er dirigiert am Neujahrstag die konzertante Aufführung von La Gioconda. Viele von euch äußerten den Wunsch, schon im Vorhinein mehr über außergewöhnliche Werke wie in diesem Jahr Gianni Schicchi und Il Tabarro zu erfahren. Das haben Hermes und ich heute verabredet. Wir treffen uns vor Weihnachten noch einmal und bereiten das Werk hier für euch auf. Versprochen.
Die Zauberflöte steht bis Weihnachten sechs mal auf dem Programm. Karten, auch für heue Abend, gibt es hier.
Ich habe ihn im Probedirigat erlebt und nach der Vorstellung gedacht. „Wenn sie den nicht nehmen, dann verstehe ich die Musikwelt nicht mehr! (Denn die anderen Kandidaten hatte ich auch erlebt…) Lieber Herr Helfricht, herzlich willkommen in Bonn!
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Wirklich beeindruckend, wie souverän er in so jungen Jahren dirigiert (Kaiser von Atlantis), wie er vor Musikwissen und -erfahrung schier überläuft und wie er dabei so entspannt und freundschaftlich rüberkommt. Wirklich ein Gewinn!
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[…] jetzt an Bonn? Auf jeden Fall die herzliche Aufnahme ins Ensemble und die Arbeit mit dem Dirigenten Hermes Helfricht und dem Regisseur Jens Kerbel. In ihrer probenfreien Zeit und wenn die Coachingtermine es erlauben, […]
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[…] Tod ist in dieser Oper allgegenwärtig. Das demonstrierte der Dirigent Hermes Helfricht selbst am Flügel. Das Stück beginnt mit Todesmotiven, den beklemmenden Jagdhörnern, den […]
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[…] und des Autodafés. Und die Musikerinnen und Musiker im Graben unter dem Dirigat von Hermes Helfricht zeigten erneut, dass das Beethoven Orchester Bonn ein Verdi erprobtes Team ist. Ambitionierte Tempi […]
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[…] diese große Partie einzustudieren, der genauso jung ist wie ich. Schnell etablierte sich zwischen Hermes Helfricht und mir eine Augenhöhe, die eine tolle Zusammenarbeit ermöglichte.“ Über die anderen […]
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[…] Hermes Helfricht dirigierte das Beethoven Orchester Bonn mit viel Gefühl für die diversen Elemente, die dann bei allem, was ständig im Graben musikalisch los war, gut erkennbar im Publikum ankamen. Ganz gar überzeugend der Chor, dessen Partien Marco Medved mit seinen Sängerinnen und Sängern ausgezeichnet vorbereitet hatte, vom großen Tutti zu Beginn bis hin zu den lyrischen Passagen. Glänzend besetzt waren ausnahmslos die Sängerrollen. Die kleineren mit Ensemblemitgliedern, auf die immer Verlass ist: Martin Tzonev als Herold, Kieran Carrel als Wirt, Pavel Kudinov als Soldat. Die Prinzessin sang Ava Gesell mit ihrem hellen, klaren Sopran, den Kaiser Joachim Goltz, der sich als Wagner-Bariton einen Namen gemacht hat, mit toller Diktion und Textverständlichkeit. Giorgos Kanaris als besonnener, wenn nicht cooler Udo-Lindenberg Look alike, blieb seiner Rolle als vernunftorientierter Freund treu. Souverän gab er sängerisch und darstellerisch den Doktor der Kaiserlichen Akademie, Ho-Tschi-Tschang mit dem warmen Timbre seines Kavalierbaritons. […]
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[…] zu Recht braust nach der Pause und am Ende der Applaus stürmisch auf, als das Premierenpublikum Hermes Helfricht und dem Beethoven Orchester begeistert Beifall spendet. Der Dirigent hält die Spannung konsequent […]
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[…] Hermes Helfricht bringt mit dem Beethoven Orchester vom ersten Takt an Schwung in die Bude. Flott, mitunter rasant, nimmt er den stets drohenden Kitsch aus den Evergreens, lässt auch Harfe und Geigen beim „Lippen schweigen“ leichtfüßig klingen. Das ergänzt all die frechen Details auf der Bühne ausgezeichnet. Da tanzt der Bischof ein Solo, zwei Frauen walzern froh herum, eine Nonne schiebt den fast obligatorischen Stiehl-Rollstuhl, ein Männerpaar vergnügt sich erotisch unter dem Tischtuch. Will sagen, die Welt ist bunt und vielfältig, das Leben ganz schön divers, und Spaß wollen alle haben. Auch der fleischgewordene running gag der Dame im Ballkleid, die immer dabei sein will und immer zu spät kommt, photobombing inklusive! […]
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