Der Tod ist allgegenwärtig. Das lebensmüde Todesmotiv der Hörner eröffnet das Vorspiel. Und das in einer Oper, die 1867 als Prunkstück der französischen Kultur die Weltausstellung in Paris zieren sollte. Giuseppe Verdi übernahm den Auftrag für die Komposition und präsentierte die ursprüngliche Grand opéra Don Carlo mit fünf Akten und Ballett in Paris. Das Stück avancierte – nach anfänglich mäßiger Akzeptanz – trotz oder gerade wegen der zahlreichen Überarbeitungen zu einer der top Opern des Repertoires.

Foto mit freundlicher Genehmigung der Oper Bonn, © Thilo Beu
Mein Herz schlägt für Rodrigo, Marquis de Posa. Und nicht nur meins. Er hat die schönste, rundeste Rolle in dieser Oper, die das Persönliche mit dem Politischen in faszinierender Weise verquickt. Sein Vorbild stammt aus der literarischen Vorlage für Don Carlos, Friedrich Schillers gleichnamigem dramatischen Gedicht aus dem Jahr 1787. Aus Schiller spricht die Idee der Aufklärung, der Selbstbestimmung des Menschen, der Freiheit – was in letzter Konsequenz die Abschaffung des Absolutismus bedeutet. Nun spielt die Handlung im 16. Jahrhundert, als Europa sich im permanenten Kriegszustand befand, die vorherrschende christliche Religion in Protestanten und Katholiken zerfiel, Philipp II die spanische Armada versenkte im vergeblichen Versuch, die (vom Glauben) abtrünnigen Engländer zu unterwerfen. Die Mauren drohten mittlerweile nicht mehr nur von Osten, Flandern (die Niederlande) ächzte unter der grausamen Herrschaft der spanischen Habsburger.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Personenkonstellation in Don Carlo. Die französische Prinzessin Elisabetta von Valois soll den Infanten von Spanien heiraten (beide als 14- und 15-Jährige). Aber die kriegerischen Kämpfe zwischen den beiden Ländern zwingen Elisabetta, an der Seite von Carlos Vater, dem alten spanischen König Philipp II, Königin von Spanien zu werden. Et voilà, der Wald von Fontainebleau. Eine elegante Pariserin, frohgemut auf der Reise nach Madrid, macht die Bekanntschaft eines galanten jungen Herrn, der sich – natürlich – als ihr Verlobter Carlo entpuppt. Zack, der Liebesblitz schlägt bei beiden ein. Aber die Pflicht ruft: Aus Staaträson willigt sie in die Heirat mit Philipp ein. Die Politik obsiegt.
„An dieser Oper ist nichts historisch.“, wird Verdi selbst oft zitiert. In der Tat enden hier die authentischen Quellen. Verdi und seine Librettisten Joseph Méry und Camille du Locle zeichnen das grausame mörderische System der spanischen Inquisition, die mit großer Geste droht, auch einen König auf die Anklagebank zu zitieren. Philipp fühlt sich machtlos der Kirche gegenüber: „Warum muss sich die Krone immer dem Altar beugen?“ Dieser Herrscher des Hauses mit dem strengsten Hofzeremoniell freundet sich mit dem Rebellen Posa an, der sich zu der kühnen Forderung versteigt: „Date la libertà!“ Er meint damit Flandern, dessen Volk unter der spanischen Repression unermessliches Leid erduldet. Und er spricht für seinen Freund Carlo, dem Philipp endlich die Herrschaft über Flandern zueignen soll.
Seinem Sohn traut Philipp nichts zu – historisch belegt sind Carlos‘ zahlreiche Einschränkungen geistiger und körperlicher Art. Musikalisch bringt Verdi aber seine innere Einsamkeit, seinen Liebesmangel zum Ausdruck. Die einsame Klarinette singt ein eindrückliches Lied davon. Er verzehrt sich nach Elisabetta, sodass Posa ein heimliches Stelldichein organisiert. Aber ein weiblicher Jago torpediert dieses kleine Glück. Die Prinzessin Eboli, eine von Elisabettas vertrauten Hofdamen, spioniert die Liebenden aus und verrät sie an den König. So wie Posa als Strippenzieher für die gute Sache agiert, verkehrt die Eboli alles ins Boshafte. Sie zerstört, ohne selbst zu gewinnen. Posa wird zerstört, nämlich von den Geheimkräften Philipps erschossen. Weil der Großinquisitor es so will!
Als lebensfrohe Hofdame hat Eboli ihren ersten Auftritt mit der canzone saracena, dem Schleierlied. Ein einziger spanischer Augenblick mit dem Lokalkolorit, das die heimischen Werte herausstellt und in einer prachtvollen Koloratur endet. Ganz anders als die kühl-entrückte Französin, die sich in ihr Schicksal fügt. Für sie schließt sich der Kreis vom Schleier der Verführung zu dem der Nonne. Nachdem sie beichtet, die Königin verraten und ein ehebrecherisches Verhältnis mit dem König unterhalten zu haben, bleibt ihr nur das Kloster.

Foto mit freundlicher Genehmigung der Oper Bonn,
© Thilo Beu
Und der König? Er weint. Er resümiert. „Ella giammai m’amò.“ ( Sie hat mich nie geliebt.) Umgeben von Kerzen und mit dem verräterischen Schmuckkästchen mit Carlos Bild versinkt er in nächtliche Visionen von einem einsamen Tod. Ganz im Gegensatz dazu das Krönungsfest. Mit inbrünstigem Jubel huldigt das Volk seinem König und wird Zeuge eines Autodafés. Die (protestantischen) abtrünnigen flandrischen Gesandten werden öffentlich verbrannt. Das dem Volk zur Erinnerung: Widerstand zwecklos, sonst schmort die Seele im ewigen Fegefeuer ohne Aussicht auf Erlösung. Im politischen Kontext: Posas Forderung nach Freiheit wird ad absurdum geführt. Und dennoch entwaffnet er Carlo, als er das Schwert gegen den Vater erhebt.
Wie keine andere Oper ist Don Carlo ein Musikdrama für Bässe. Angefangen beim Großinquisitor, dem blinden alten Mann, der über die größte Macht verfügt. Er hält auch den König unter der Knute und verlangt ein doppeltes Opfer: „Voglio un doppio sacrificio.“ Auch Gott habe seinen Sohn geopfert … Posa gehöre sowieso vor die Inquisition (wovor Philipp ihn bereits eindringlich warnte). Und Elisabetta? Unter allen Tätern ist sie das einzige unschuldige Opfer in diesem Machtgefüge. Ein Kollateralschaden.
Auch die Rollen des Königs, der sechs flandrischen Gesandten sowie des Mönchs liegen im tiefen Männerfach. Bässe allenthalben, die der düsteren Stimmung des Stücks ihren Ausdruck verleihen. Es heißt, im Kloster Sainte Juste, wo Philipps Vater, Karl V, begraben liegt, spuke sein Geist nachts umher. An ebendiesem Sarkophag beginnt und endet die Handlung. Und die mahnende Bassstimme des Mönchs (Magnus Piontek) weist immer wieder auf das Jenseits hin. In manchen Inszenierungen zieht diese mysteriöse Gestalt Carlo am Ende mit sich fort, um ihn dem Zugriff von Philipps Schergen zu entreißen.
Aber der Regisseur Mark Daniel Hirsch wählt eine andere Variante. Der Titelheld erdolcht sich am Grab des Großvaters selbst und besiegelt damit Hirschs Ansatz vom „Theater des Todes“, wo alle Figuren von Gräbern (auch Klostermauern) umringt sind. Der Beginn von Hirschs künstlerischer Laufbahn liegt im Jahr 1978 mit Don Carlo. 43 Jahre später krönt er seine Arbeit mit dieser Regie, bevor er sich in den Ruhestand verabschiedet. Er inszeniert mit ruhiger Hand, vom Blatt gleichsam. Regietheater, Verfremdungen, Reduzierungen sind seine Sache nicht. Er legt auch hier großen Wert auf das Atmosphärische, Klare, Poetische. Der Plot erzählt sich auf der Bühne wie von selbst. In konventioneller Kühle baut er die Schauplätze auf, ästhetisch veredelt mit der Lichtregie von Max Karbe. Helmut Stürmer hat dazu die Kostüme entworfen, die ebenfalls Geschichten erzählen: Elisabettas Wandlung von der Dame im Pelzmantel zur geduckten hispanisierten Königin in der klassischen Mantilla, das Folklorekleid der Eboli und ihr Outfit der „Hure Babylon“, schwarzes Leder für Carlo und Posa, Purpur und Hermelin für den König.
In dieser graphit- und steingrauen Kulisse glänzten die Sängerinnen und Sänger sowie die Chöre mit wunderbarem Gesang. So eigenartig, wie Verdi dieses Konglomerat aus verschiedenen Stilen komponiert hat, so großartig gestalteten die Solisten ihre Rollen. Szenenapplaus nach allen Liedern, Duetten und Arien garantiert. Und das, obwohl die durchkomponierte Oper ja eigentlich vom ununterbrochenen Fließen des Gesangs lebt. Was schert das Bonner Premierenpublikum solche Konventionen, wenn die Begeisterung es mitreißt? Minutenlanger Schlussapplaus mit stehenden Ovationen für das gesamte Ensemble und Team inklusive.
Tosender Beifall braust auf, als Giorgos Kanaris nach dem Vorhang die Bühne betritt. Sein Bariton, schon immer mit einer warmen, samtigen Note ausgestattet, hat für alle hör- und spürbar an Volumen,

Foto mit freundlicher Genehmigung der Oper Bonn, © Thilo Beu
Ausdruckskraft und Reife hinzugewonnen. Er gestaltet die Aufeinandertreffen mit Carlo, Elisabetta und Philipp unterschiedlich und erschafft so eine runde, überzeugende Bühnenfigur mit fabelhaftem Gesang. Ihm ganz und gar ebenbürtig die Bonner Verdi-Heroine Anna Princeva. Sie legt ihre Entwurzelung und ihr liebendes, aber gebrochenes Herz in ihren wandlungsfähigen Sopran. Barfuß als Büßerin überzeugt sie im Piano, im Forte als Königin in Würde und Autorität gleichermaßen. Die zahlreichen Facetten dieser Elisabetta setzt Anna Princeva in ihrer wunderbaren Stimme und deren sensiblen Führung um.

Foto mit freundlicher Genehmigung der Oper Bonn
© Thilo Beu
Dshamilja Kaiser paart ein weiteres Mal Spielfreude mit großem Mezzosopran. Mit dem Schleierlied stimmt sie auf die Freuden der Verführung und der Liebe ein. Das ist ihr Part – der allgemeinen Melancholie mit einem temperamentvollen Strophenlied einen Gegengewicht zu verleihen. Flexible, strahlende Höhen hier und im „O don fatale“ eine bitterer, düsterer Abgesang auf ihre Feinde, ihre Schönheit und die Verführung. König Philipp findet mit Tobias Schabel, dem schlanken Bass, den Sänger zwischen den Welten. Hier ganz Autokrat, dort Philosoph, dann wieder von Eifersucht gequält und immer im Dilemma. Jede seiner Entscheidungen birgt eine Katastrophe. Die Herzen des Publikums fliegen ihm zu am Ende einer langen Partie.
Leonardo Caimi verleiht mit seinem empfindsam, schönen Tenor dem Titelhelden Don Carlo die Verdi-Klangfarbe. Dessen Tenöre verlieren sich bekanntermaßen schon einmal in Larmoyanz und versprühen wenig Glanz. Kein Wunder, denn bis zum Schlussduett zieht sich das Motiv von Verlust und Tod. „E, se morrò per lei, la mia morte fia bella!“ (Und wenn ich für dich sterbe, dann wird es ein schöner Tod!“). Das Publikum zollte Caimi großen Respekt, auch weil die Partie dem Tenor gleich zu Beginn alles abverlangt – das hohe a am frühen Abend! Eine kleine, feine Rolle hatte Lada Bočková in einer Hosenrolle als Tebaldo inne. Mit jugendlich leichtem Sopran genau das richtige Pendant zur ausdrucksstarken Anna Princeva.
Chor und Extrachor, einstudiert von Maestro Marco Medved, brachten das Monumentale strahlend zum Ausdruck – sei es im unermesslichen Leid der Landleute oder im Gloria zur Krönungszeremonie und des Autodafés. Und die Musikerinnen und Musiker im Graben unter dem Dirigat von Hermes Helfricht zeigten erneut, dass das Beethoven Orchester Bonn ein Verdi erprobtes Team ist. Ambitionierte Tempi und feine Einzelstimmen wie die Klarinette, die Harfe oder das Cello trugen umfassend zum großartigen Erfolg der Premiere bei.
Verdi war Agnostiker und legte dennoch einen (christlichen) Trost angesichts des Todes in Musik und Libretto gleichermaßen: „Ci vedremo in un mondo migliore“ (Wir sehen uns in einer besseren Welt.) schwören Elisabetta und Carlos einander im Schlussduett. Keine Rettung durch Geisterhand, Carlo tötet sich, dann greift Elisabetta selbst zum Dolch. Romeo und Julia am Grabe. Sticht sie zu? – Und die Musik bleibt gleichsam stehen …
Die Oper Bonn spielt Don Carlo noch zehnmal bis zur Dernière am 16. April 2022. Infos und Karten hier.