ASRAEL – Dolby-Surround im Opernhaus

Kosmische Klänge und infernalische Teufelstänze – eine bombastische Musik zieht das Publikum in einen Bann, der sich erst im gigantischen Schlussapplaus löst. Was wie rheinische Übertreibung klingt, beschreibt das Stimmungsbild dieser Premiere in der Oper Bonn. Dort erlebt das Publikum die fast vergessene Oper Asrael des italienischen Komponisten Alberto Franchetti, der mit der Uraufführung in Reggio Emilia 1888 einen Sensationserfolg erzielte. Das Stück wurde auf vielen Bühnen in Europa und Amerika gespielt, bis es 1926 fast für immer in den Archiven versank. Franchetti war Jude und sein gesamtes Werk fiel in Deutschland ab 1933, in Italien dann fünf Jahre später den Rassengesetzen zum Opfer. Jetzt erfolgt die Renaissance am Theater Bonn, das sich mit der Reihe Fokus ’33 zum Anwalt zahlreicher verschütteter Opernpreziosen gemacht hat.

Im Fin de Siècle findet Alberto Franchetti sich eingebettet in den märchenhaften Reichtum seiner Familie und deren Kulturaffinität. Der Vater Raimondo, ein geadelter Großgrundbesitzer und früher Industrieller, verbindet seinen Baronstitel mit der millionenschweren Mitgift einer Nichte aus der Wiener Rothschild-Familie. Überbordende Ausstattungen in Villen und Palazzi mögen später ihren Nachhall in der opulenten Musik Albertos gefunden haben. Er schöpft immer aus dem Vollen: Spielschulden begleicht der Vater, der auch schwangere Geliebte mit Geld abfindet sowie das Studium der Komposition in München und Dresden finanziert.

Nach einer hochgeachteten Sinfonie dann eine volle, vieraktige große Oper, eine leggenda in quatro atti. Eine Legende, eine religiöse Erbauungsgeschichte – wer unternimmt das Wagnis, einen entrückt mystischen Plot im 21. Jahrhundert auf die Bühne zu bringen? „I was crazy enough to say yes“, sagt der New Yorker Regisseur Christopher Alden, der zum zweiten Mal eine Oper in Bonn inszeniert. Er spürt den skeletons in the closet (den Leichen im Keller) mit psychoanalytischem Blick nach und hängt tatsächlich eine Selbstmörderin in den Schrank. Alden malt ein Bild der prägenden Gestalten unserer Kindheit: das brutale Macho-Verhalten des Vaters und die fürsorglich-beschützende Liebe der Mutter, die hier „nur“ als stumme Rolle auftritt.

Der eigentlichen Geschichte geht er auf den Grund und entblättert in seiner Inszenierung das Innenleben der Personen. Denn dieses Drama – mit einem sehr glücklichen Ende – spielt sich im Seelengeschehen der Figuren ab. Aber was passiert? Die Vorgeschichte erzählt von einem glücklichen Engelspaar – Asrael und Nefta – die aber durch Zutun Luzifers getrennt werden. Asrael dient als gefallener Engel dem Teufel als Dämon, Nefta der Mutter Maria als segensreicher Engel. Nun setzt die Bühnenhandlung ein. Beide vermissen einander so sehr, dass sie Luzifer und Gott (via Maria) die Rückkehr zur Erde für ein Jahr abringen. Bedingung dabei: Asrael muss eine keusche Seele, ein reines Erdenwesen als Trophäe zurückbringen, sonst wird er zum gewöhnlichen Sterblichen mit den entsprechenden Höllenqualen. Nefta erhält den Auftrag, einen vom Glauben Abtrünnigen dazu zu bewegen, mit ihr zu beten.

Die Jahresfrist vergeht im Zeitraffer, runtergedampft auf einen Tag, auf der Bühne auf knapp drei Stunden. Die kompakte Erzählung spielt an drei Schauplätzen: in der Hölle, im Himmel und auf der Erde, zwischen irgendwo und Brabant. Die Regie verzichtet auf eine horizontale Verknüpfung wie auf einer Drehbühne. Vertikal angeordnet versinnbildlichen die drei Ebenen hier pyrotechnisch, kriegerisch brutal und musikalisch gigantisch die Hölle im Keller, der Himmel im zugigen Dachstuhl und das Erdenleben im Inneren eines abgeranzten ehemals großbürgerlichen Wohnhauses. Das Bindeglied nach oben, zur Erlösung, zur Liebe und zum göttlichen Frieden stellt die Himmelsleiter da, funktional eingesetzt, wo Nefta im direkten Kontakt zu ihrer Kraftquelle steht.

Der Titelheld Asrael strotzt vor Kraft und Selbstgefälligkeit, sieht sich allerdings wie so manche seiner Heldenkollegen mit Gefahren und Verlockungen konfrontiert. Die Tochter des Königs von Brabant (Lohengrin lässt grüßen) heiratet nur den, der sie im Anstarren mit Blicken niederringen kann. Eine Art Turandot namens Lidoria, eine mysteriöse, männerverachtende Intellektuelle, die die unterlegenen Bewerber töten lässt. Asrael gewinnt, nimmt aber im letzten Moment Reißaus. Ihm wird klar, dass der Ehering eine eiserne Kette bedeutet, die ihn an Frau und Hof fesselt. Das passt, hätte doch die Prinzessin selbst zur Vermählung gezwungen werden müssen.

Von links: Tamara Gura, Khatuna Mikaberidze, Peter Autey, Svetlana Kasyan, Pavel Kudinov und Statisten, © Thilo Beu

Leidenschaftliche Zeiten verlebt Asrael mit der Zigeunerin Loretta, das Testosteron bahnt sich nicht nur im Kämpfen, sondern auch in der Lust seinen Weg. Sie verkörpert den Freigeist, eine Carmen (mit Kastagnetten aus dem Graben), eine Künstlerin. Die verschmähte Lidoria allerdings überredet sie dazu, mittels eines Zaubertranks Asrael den Namen der Frau zu entlocken, die er wirklich liebt. Wehrlos im Drogenkoma murmelt er „Nefta“ und in wilder Wut setzt Loretta stellvertetend sein Bild in Brand. Schwer verletzt liegt Asrael nun auf der Krankenstation, wo ihn Schwester Clotilde länger als ein halbes Jahr pflegt. Hinter dem Habit verbirgt sich Nefta, die nun mit himmlischem Beistand und inständigem Flehen ihren Geliebten dazu bringt, mit ihr ein „Ave Maria, gratia plena“ zu beten. In der Schlussapotheose verwandelt sich Asrael wieder zum Engel und ihrer beider Seelen steigen zum Himmel auf, gerettet durch die Macht der Liebe.

Soweit die abstruse Geschichte. Aber was sind die plot twists gegen eine Musik, wie man sie in dieser Vielfalt, in dieser Intensität, in ihrem Formenreichtum und in der Instrumentierung selten hört. Franchetti war ein Kind seiner Zeit. Einflüsse von Wagner und Bizet lassen sich leicht identifizieren; unter Nerds heißt es, an die 30 Komponisten hätten in diesem Werk Spuren hinterlassen. In der Tat, es klingt hier an und erinnert dort und überrascht in der Retro-Orientierung umso mehr, als vier Jahre später Mascagni mit Cavalleria Rusticana und dem Verismo ganz neue Parameter setzt. Hier greift ein junges Talent in die Schatztruhe der italienischen und deutschen Opernliteratur und schwelgt in einer solchen Großartigkeit, dass in der grandiosen Überhöhung in Sujet und musikalischer Gestaltung seine Kreativität zur vollen Geltung kommt.

Sehr zu Recht braust nach der Pause und am Ende mit stehenden Ovationen der Applaus stürmisch auf, als das Premierenpublikum Hermes Helfricht und dem Beethoven Orchester begeistert Beifall spendet. Der Dirigent hält die Spannung konsequent bei den raschen Wechseln zwischen Höllen-Tamtam und himmlischen Harfen, zwischen Märschen, Walzern und Instrumenten-Soli. Die selten gehörte Orgel spielt Peter Dicke und erzeugt den andächtigen Klang, der Clotilde und ihre religiöse Inbrunst einleitet. Bassbläser und das Einsamkeits-Cello, die Oboe und die Geigen haben traumhafte Einsätze. Dabei ist Helfricht unentwegt im 360° Modus. Posaunen und Trompeten spielen oben und hinten und mittendrin positioniert der Chor und Extrachor mit ungefähr 60 Sängerinnen und Sängern. Alle in Schwarz gekleidet erheben und setzen sie sich wie ein homogener Körper. Sie befinden sich – bis auf die Schlussszene – mitten im Publikum, im Hochparkett und auf dem 1. Rang. Der mehrstimmige Gesang erzeugt die inneren Stimmen der Protagonisten, ihre Zweifel, ihre Zerrissenheit genauso wie die Zwiesprache mit den Figuren auf der Bühne. Gleichzeitig stellt dieser phänomenale Chor eine direkte Verbindung mit den Menschen im Raum her: Alden schafft so einen mächtigen, voluminösen Sakralraum.

Von links: Svetlana Kasyan, Tamara Gura, Pavel Kudinov, Khatuna Mikaberidze, Peter Autey, © Thilo Beu

Die Besetzungsliste ist kurz: Nur fünf Personen benötigt diese Oper. Für ein Werk mit 100-jähriger Bühnenabstinenz finden sich selbstredend nicht adhoc Sängerinnen und Sänger, die mit den Partien vertraut sind. Aber der gesamte Cast glänzte mit den einzelnen Rollendebüts. Den König von Brabant, Luzifer und den Vater gibt Pavel Kudinov. Zunächst mag der russische Bass sich über den geringen Umfang seiner Gesangsanteile gefreut haben. Allerdings hält ihn die Regie ständig auf der Bühne. Als Luzifer personifiziert er die Lust an Gewalt und Quälerei, als König von Brabant setzt er seine Schlägertruppe ein, um die Tochter Lidoria zum Heiraten zu zwingen. Und als Vater verkörpert er einen brutalen, verknöcherten Militär, vom Kadavergehorsam geprägt. Seine Gewalt ist offensichtlich, Missbrauch und Inzest werden angedeutet. Szene für Szene nun demontiert Alden diese toxische Männlichkeit, bis der Alte als debiler Greis sabbernd verreckt. Aldens wishful thinking für alle Potentaten dieser Welt?

Von links: Pavel Kudinov, Peter Autey, Tamara Gura, Khatuna Mikaberidze, Statisten, © Thilo Beu

Tamara Gura gibt die rebellische Lidoria mit den Facetten ihres Mezzosoprans sehr authentisch. Physisch lässt sie sich von den Wachen ihres Vaters überwältigen und erträgt den Hochzeitsfummel. Aber stimmlichen Ausdruck verleiht sie ihrem Freiheitswillen, ihrer Unbeugsamkeit. Eine früh emanzipierte Frau, wie die Plakate der Donne d’Italia „Libertà“ beweisen. Tatsächlich gab es in Italien in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bereits eine starke Frauenbewegung.

Ganz als Mann fühlt sich Asrael allerdings in der leidenschaftlichen Umarmung mit Loretta. Franchetti charakterisiert diese Paria in ihrer eigenen künstlerischen Bohème als – im damaligen Sprachgebrauch – Zigeunerin, frei und ungebändigt. Ein Paradebeispiel für die Vorliebe des Publikums der Zeit für Exotismen aller Art. Die großartige Khatuna Mikaberidze verleiht dieser Figur mit ihrem kraftvollen, reifen Mezzosopran die genau nachgezeichneten Amplituden zwischen großer Liebe und grenzenlosem Hass. Sie verkörpert die Künstlerin, die genialisch der männlichen Physis nachspürt, abzulesen an den Skizzen in ihrem Atelier, aber alles in Brand setzt, wenn sie eine narzisstische Kränkung erfährt. Das Liebesduett zwischen Asrael und Loretta ist noch wunderbarer Ausdruck größten Glücks, bis der Sturz vom Thron als Nummer 1 die Kehrseite der Künstlerin offenbart.

Die reine Liebe, die Nächstenliebe, die Fürsorge legt Franchetti in die Figur der Nefta/Clotilde. Mit ihrem klaren, aber auch im Fortissimo nicht scharfen Sopran setzt Svetlana Kasyan Maßstäbe für zukünftige Neftas. Sie verfügt über eine Riesenstimme, die im Dialog mit dem Chor entspannt die Oberhand behält. Auch schauspielerisch stark, wie sie Demut und Entschlossenheit darstellt. Sie reklamiert Asrael nicht für sich, sondern will ihn an seinem rechten Platz, unter seinen Brüdern sehen. Es geht ihr nicht um Macht oder Erotik, sondern um Glauben und Gerechtigkeit.

Mit ihr sehen wir Asrael im Schlussduett, wo beide in innerer Zerrissenheit um die Erfüllung ihres Auftrags ringen. Peter Autey meistert mit seinem ausdrucksstarken Tenor diese Titelrolle in Wagner-Dimensionen bravourös, steigert sich sängerisch von Akt zu Akt. Am Ende streift er – auch stimmlich – das verteufelte Testosteron ab. Nach Abenteuern und Proben im Format antiker Helden und mittelalterlicher Ritter auf Aventiure wird er zum reifen Mann: Kampf und Erotik liegen hinter ihm, wenn er mit Nefta zum Gebet niederkniet. Die Liebe siegt!

Die Oper Bonn spielt Asrael bis zum 14. Januar 2023 noch sechsmal. Infos und Karten hier.

Extra-Tipp: Wer sich diesem Werk, das (noch) nicht zum weitläufigen Opernrepertoire gehört, intensiver widmen möchte, studiert am besten das exzellent gestaltete Programmbuch mit äußerst interessanten Aufsätzen aus der Musikforschung, zahlreichen Abbildungen und dem kompletten Libretto.

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