Sibirien – Auf Spurensuche

Siberia reimt sich im Libretto auf miseria – damit ist der Grundton für Umberto Giordanos Oper Sibiren gesetzt. Grenzenloses Leid stellt sich auf drei Ebenen dar: Die Liebe des ungleichen Paars findet ihr jähes Ende im gewaltsamen Tod der Protagonistin, Hunger, Kälte und härteste Arbeit kennzeichnen das Leben der Menschen in den sibirischen Gefangenenlagern und eine zeitgenössische Frau begibt sich auf die sehnsüchtige und leidvolle Suche nach dem Verbleib der Eltern. Das Bonner Publikum feiert die Premiere dieser in den Nachkriegsjahren kaum gespielten Oper mit Riesenapplaus und stehenden Ovationen: Die berauschende Musik, der fantastische Gesang und ein kühnes, äußerst stimmiges Regiekonzept beweisen wieder einmal das Geschick der Oper Bonn im Wiederbeleben (fast) vergessener Werke.

1903 wurde Sibirien im Teatro alla Scala in Mailand uraufgeführt, gut 10 Jahre nachdem Roggero Leoncavallo im Prolog der Pagliacci das „veristische Manifest“ verkünden ließ. „Heut‘ schöpfet der Dichter kühn aus dem wirklichen Leben schaurige Wahrheit!“ Sibirien gilt als Verismo-Oper par excellence. Der Librettist Luigi Illica zeichnet ein quasi-authentisches Bild der zaristischen Feudalgesellschaft in Sankt Petersburg (damals noch die russische Hauptstadt) und der grauenvollen Zustände in den berüchtigten Arbeitslagern, die Stalin später für seine Säuberungsaktionen in Gulags umwandelte.

Im Originalwerk – sowohl in der ursprünglichen Fassung als auch in der überarbeiteten Version von 1927 – entwickelt sich eine Geschichte, die sich tatsächlich so abgespielt haben könnte. Eine schöne junge Frau, Stephana, verliebt sich in Gleby, einen schneidigen Mann von Welt. Sie glaubt an die Liebe, er zwingt sie zur Prostitution. So führt er sie auch dem Prinzen Alexis zu, der sich im Separee von Stephanas Palazzina mit ihr vergnügt. Bezahlung: ein Diamantarmband. Die Herren spielen Karten und Gleby gibt fast die Parodie eines Strizzi. Plötzlich taucht der einfache Soldat Vassili auf, der Patensohn der Dienerin Nikona, in heißer Liebe zu Stephana entbrannt. Es kommt zu einem Handgemenge, bei dem der eifersüchtige Vassili den Prinzen verletzt.

Die Strafe folgt auf dem Fuße: Lagerhaft. Stephana entsagt ihrem Luxusleben als Kurtisane und folgt Vassili in einer nahezu märchenhaften Wendung nach Sibirien. Dort erscheint sie noch pelzbehangen in großer Robe, wird aber bald zu einer Arbeiterin wie alle anderen Frauen. Auch Gleby hat sich etwas zuschulden kommen lassen und wird zu Arbeitslager verurteilt. Er schlägt Stephana vor, mit ihm zu fliehen und in Sankt Petersburg an die alten Zeiten anzuknüpfen. Als sie sich weigert, verrät er Vassili auf obszöne Art Details aus ihrer Vergangenheit. Die beiden Liebenden halten dennoch zueinander und beschließen, gemeinsam zu fliehen. Dabei stirbt Stephana durch eine Gewehrkugel.

Ähnlich wie im literarischen Verismo, dem Naturalismus wie in Gerhart Hauptmanns Die Weber, wirft der Dichter oder Librettist einen analytischen Blick auf die Lebenssituation wirklich prekärer Verhältnisse und die Zusammenhänge der gesellschaftlichen Zustände. In Sibirien macht der Plot auf die grausame Gerichtsbarkeit einer Feudalgesellschaft und die unendliche Leidensfähigkeit des russischen Volkes aufmerksam, versinnbildlicht durch das gleichermaßen „leid– und leitmotivisch“ ertönende Lied der Wolgaschlepper, wie Dirigent Daniel Johannes Mayr bemerkte. Eine schwermütige Melodie, die vielen bereits bei den ersten Noten Tränen in die Augen treibt.

Schon im Sommer 2022 war diese Inszenierung von Sibirien bei den Bregenzer Festspielen zu erleben, als Koproduktion mit dem Theater Bonn. Jetzt also auf der beträchtlich kleineren Bühne des Bonner Opernhauses und mit dem (fast) kompletten Cast aus dem Ensemble, kommt die Raffinesse des Regisseurs Vasily Barkhatov zum Tragen. Er hat für die Geschichte eine Rahmenhandlung erfunden, die sie plausibel ins Hier und Jetzt transportiert. Eine ältere Frau macht sich von Rom aus auf den Weg, um die Asche ihres Bruders dort zu verstreuen, wo ihre Mutter (Stephana) ums Leben gekommen ist. Ästhetisch schöne, blau-silber-graue Videosequenzen zeigen la fanciulla (das Mädchen) auf ihrer abenteuerlichen Reise quer durch Europa, von Südwest nach Nordost. Sie findet Briefe, forscht in einem Aktenlager, fährt durch Sankt Petersburg und die verschneite Tundra, nimmt die transsibirische Eisenbahn, kommt schließlich in der abgeblätterten Tristesse eines Kinderspielplatzes zwischen heruntergekommenen Plattenbauten an.

Die Figur samt ihrem Bruder gehört eigentlich zu den kleinen Partien der Oper, die nun auch mit Gesang von der wunderbaren Clarry Bartha gespielt wurde. Sie trägt die logische Chronologie der Handlung, ist stets präsent und verschmilzt am Ende mit der toten Mutter. Barkhatov setzt mit dieser Rahmengeschichte allen Opfern der Gewaltherrschaft ein Denkmal, insbesondere auch den Kindern, die sicher in Vielzahl in den Lagern geboren wurden. Er gibt ihnen einen Ort des Gedenkens und ihre menschliche Würde zurück. Rom, Sankt Petersburg, Sibirien, der Regisseur drehte zusammen mit Christian Borchers an den authentischen Schauplätzen und vermittelt mit seiner visuellen Ästhetik eine große Ruhe: Das Video läuft nur, wenn weder gesungen noch gespielt wird, es unterstützt sinnhaft die Erzählung auf der Bühne. Selten oder nie sieht man eine so stille und dennoch raffinierte filmische Untermalung einer Opernhandlung. Ein naturalistisches Bühnenbild (Asim Brkic) dient ebenfalls der Klarheit und Eindeutigkeit, eine edle Lichtregie (Alexander Sivaev und Jorge Delgadillo) verleiht den harten Realitäten einen Hauch von Magie. Einfach schön anzusehen!

Umberto Giordano – ein typisches (italienisches) Kind seiner Zeit. Giuseppe Verdi war seit zwei Jahren tot, seine Kompositionen allerdings hatten Maßstäbe gesetzt, La traviata (1853) galt als die perfekte Oper. In 50 Jahren hatte sich der Zeitgeschmack geändert, Exotismen waren en vogue, echte Menschen sollten als Dramatis Personae die Bühne beleben. Und in der Musik sollte es krachen, krasse Gegensätze sollten alle orchestralen Register ziehen. Das setzte Giordano um. Da wechseln sich überganglos sinfonische Elemente im „Fortefortissimo“ mit nahezu kindlichen russischen Volksliedern ab, Röhrenglocken und Geigenpizzicati stehen im Kontrast zu üppigen Bläsereinsätzen. Ein Balalaika-Quartett zaubert genauso wie die mehrstimmigen Chöre russisches Lokalkolorit. Unerschrocken und musikalisch großartig verbindet Giordano die Klangfarben seiner hochgerühmten Vorgänger Verdi, Wagner und Puccini im Vorspiel zum 2. Akt. Gegen die Alten rebellieren – so die Idee der giovane scuola, der jungen Wilden in der Nachfolge der alten Meister. Was daraus wurde? Ein Aufnehmen und Weiterentwickeln!

Die Oper Bonn bestreitet Sibirien mit eigenen Kräften aus dem Ensemble. Auf die ist immer Verlass. Susanne Blattert erscheint als die Dienerin Nikona nur im ersten Akt, Santiago Sanchez darf seinen jungen Tenor zweimal kurz als Prinz Alexis ertönen lassen. Martin Tzonev besetzt zwei kleine Rollen, ebenso wie Johannes Mertes, Juhwan Cho und Michael Krinner. Klein, aber fein. Bravi tutti!

Sibirien beinhaltet Paraderollen für Sopran, Tenor und Bariton. Das Bonner Ensemble glänzt hier mit herausragenden Leistungen. Yannick Muriel Noah als Stephana gestaltet die Herausforderungen des steten Wechsels von Brust- zu Kopfstimme mit der ihr eigenen „Italianità“. In ihren hochdramatischen Szenen führt sie ihren großen Sopran so, dass Liebe, Leidenschaft und Leid direkt zu Herzen gehen. George Oniani beweist einmal mehr, dass er als Georgier musikalisch in Italien seine Heimat gefunden hat. Sein gleißender Tenor prädestiniert ihn für die großen Verdi-Rollen, die Rolle von Giordanos Vassili schließt sich nahezu folgerichtig an. Publikumsliebling Giorgos Kanaris hat in den letzten Jahren eine sensationelle Stimm- und Bühnenpräsenz entwickelt. Als Gleby gestaltet er ausgezeichnet den Verführer mit der stimmlichen Expertise seines Kavalierbaritons; als widerlicher Zuhälter und Gernegroß klingt er wie ein intriganter Jago. Die Bonner lieben seine Stimme, seinen Gesang und seit der Premiere von Sibirien auch seinen Tanz: Wie er mit dem Säbel seinen eigenen Dämonen zu Leibe rückt, ist absolut sehenswert.

Absolut hörenswert, wie das Beethoven Orchester unter dem Dirigat von D.J. Mayr diese dramatische Spannung und musikalische Vielfalt umsetzt. Temperamentvoll, präzis und die kleinen kompositorischen Preziosen fein herausgearbeitet. Ein Genuss zu erleben, wie die Geige solo Stephana im Sterben begleitet. Im weißen Hemd, also ganz rein, liegt sie am Boden. Aber ihre Seele steigt musikalisch in höhere Sphären auf, von allen irdischen Schmerzen befreit. Schließlich befinden wir uns in der Osternacht und im Tod haucht sie „Sibiria, terra santa, di lagrime e d’amore“, Sibirien, das heilige Land der Tränen und der Liebe.

Fazit: Mitreißende, kontrastreiche Musik, absolut stimmige Inszenierung, intelligent entworfene Kostüme, magisches Licht, ästhetische Videos, tolle Sängerinnen und Sänger, präzises Orchester, große Gefühle. Unbedingt anschauen!

Fun facts

Historisch sind Puccinis Madama Butterfly und Giordanos Siberia nahezu schicksalhaft miteinander verknüpft. Da der Autonarr Giacomo Puccini bei einem Unfall schwere Verletzungen davontrug, verzögerte sich die Uraufführung seiner Japan-Oper und Giordanos Russland-Oper erhielt stattdessen den Vorzug an der Mailänder Scala. Ironie der Operngeschichte: Cio-Cio-Sans Schicksal gehört zu den absoluten Repertoire-Rennern, Stephanas Tod im Gefangenenlager fiel in die Versenkung und kehrt erst jetzt auf die Bühne zurück.

In Mark Daniel Hirschs Inszenierung der Madama Butterfly an der Oper Bonn waren Yannick Muriel Noah als Titelfigur, Susanne Blattert als die Dienerin Suzuki, George Oniani als Pinkerton und Giorgos Kanaris als Sharpless zu erleben. Parallel dazu die Ensemble-Besetzung in Sibirien, sieben Jahre später: Stephana, Nikona, Vassili und Gleby. Die Ähnlichkeiten sind sicher nicht rein zufällig. Schließlich zeichnete Luigi Illica für die Libretti der beiden Opern (mit-)verantwortlich.

Die Oper Bonn spielt Sibirien noch sechs Mal bis zum 9. Juni 2023. Informationen und Karten finden Sie hier.

4 comments

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  1. Manfred Schiffer

    Sie geehrte Frau Tillmann,
    welch eine hervorragende Beschreibung und Bewertung der Opa Sibiria am Sonntag in Bonn.
    Ich hatte das Vergnügen, sie persönlich kennen zu lernen. Sie erinnern sich, im Gespräch mit Monika Steffens.
    Mit herzlichem Gruß
    Ihr
    Manfred Schiffer

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