Un ballo in maschera – Alle spielen Theater

Die ganze Welt ist eine Bühne – das hat William Shakespeare vor gut 400 Jahren in seiner Komödie As You like It dem modernen Menschen ins Stammbuch geschrieben. Wir alle spielen mit, haben Auftritte und Abgänge. Nun brennt Regisseur Sir David Pountney an der Oper Bonn mit Un ballo in maschera ein Theaterfeuerwerk ab. Wie in einer russischen Matrjoschka gibt es Theater im Theater im Theater … bis hin zur Kinderzimmerkiste des Kasperle-Theaters. Nimmt der renommierte Brite sein eigenes Metier nicht ernst? Oder lässt er seiner Freude an Verkleidungen, Masken, Umhängen, coups de théâtre, kurz seinem Spieltrieb freien Lauf? Let’s see.

Giuseppe Verdi verehrte den großen Dramatiker aus Stratford sehr. Eifersucht, Intrigen und Mord boten ihm aus dessen Werken Stoff für seine eigenen Stücke. Nun aber ein Königsmord auf offener Bühne – unerhört und spektakulär! Die Zensur kassierte das Libretto, in dem der historische schwedische Gustav III 1792 in seinem eigenen Opernhaus einem Attentat zum Opfer fällt. Kurzerhand verlegen Verdi und sein Librettist Antonio Somma die Handlung nach Boston im späten 17. Jahrhundert. Dort fand tatsächlich ein Aufstand gegen den englischen Gouverneur statt, der allerdings keine Todesopfer forderte. Unter dem Titel Un ballo in maschera feierte die Oper im Teatro Apollo in Rom 1859 ihre Uraufführung.

Pizzicati der Geigen stimmen das Publikum in den ersten Takten auf eine leise Verdi-Oper ein. Man ahnt bei den ersten Tönen, dass psychologisierende Finessen in der Musik der glaubhaften Figurenzeichnung Ausdruck verleihen. Hohen Wiederkennungswert haben die drei Gefühlswegweiser, die der Oper ihre dramaturgische Struktur verleihen: die Bedrohung durch die Verschwörer, Amelias Kraut für den Verzicht, Riccardos unerfüllte Liebe. Mit Verdi und Will Humburg, dem bei seiner freundlichen Verbeugung vor Beginn bereits begeistert applaudiert wird, sind wir auf der sicheren Seite.

Eine operntypische Dreiecksbeziehung bahnt sich an. Der Tenor ist verliebt in den Sopran, der allerdings, moralisch korrekt, dem Gatten die Treue hält. Die gleiche Treue hat der Ehemann Renato seinem Herrn Riccardo geschworen. Er gerät in erhebliche Gefühlsturbulenzen, als er von dem vermeintlichen Ehebruch erfährt. Für die wohl schönste Arie im Maskenball hat Verdi den Bariton quasi erfunden und sie so instrumentiert, dass die innere Zerrissenheit Renatos musikalisch greifbar wird. In Sekundenbruchteilen kippen seine Wut und Rachsucht, begleitet von herrschaftlichen Trompeten, in elegisch-nostalgische Zärtlichkeit für Amelia, seine „untreue“ Ehefrau. Harfe und Flöte begleiten diese zarten Töne. Giorgos Kanaris verzaubert das Publikum mit seinem kraftvollen, sehr virilen Bariton, um dann abrupt in das gefühlige, lyrische Sehnen nach vergangenem Glück zu wechseln. Die lieblichen Instrumente bewirken den alles entscheidenden Stimmungsumschwung und er entscheidet sich, seinen Freund Riccardo als den Schuldigen am Eifersuchtsdrama zu ermorden. Mit der Partie des Renato fügt Publikumsliebling Kanaris eine weitere, reife Facette dem Profil seines klangschönen Baritons hinzu.

Der Maskenball bietet als Kostümfest die perfekte Kulisse für diesen Mord. Zumal Renato es nicht als einziger auf Riccardos Leben abgesehen hat. Um Tom und Samuel (amerikanische Namen als winziges Lokalkolorit), gesungen von Martin Tzonev und Andrei Nicoarä, beide Bass, schart sich eine Gruppe von Verschwörern. Sie opponieren gegen Riccardos Maßnahmen. Wie die Panzerknacker, die original Beagle Boys, hocken sie in der ersten Szene verborgen unter dem Sarg. Ja, noch lebt Riccardo, aber wie eine Botticelli-Venus entsteigt er – nicht einer Muschel – sondern einem exquisit ausgepolsterten Sarg. Dort hinein legt er sich am Ende als Toter wieder: Anfangs- und Schlussbild identisch, das Leben ein Perpetuum mobile.

Wie Ernani wählen die Verschwörer Renato als Vollstrecker des Attentats aus. Das geschieht mit allerlei Bühnenzauber und einer Urne, deren Bedeutung die Wahrsagerin Ulrica wie in einem antiken Ritual zelebriert. Diese mit magischen Kräften ausgestattete, okkulte Figur kann die Zukunft vorhersehen und begibt sich in einer Séance und wie im Drogenrausch in eine Trance. Amelia weist sie den Weg zum schaurigen Galgenberg, wo das Heilkraut gegen eine unmögliche Liebe zu finden ist. Riccardo lauscht dieser Szene, als Fischer verkleidet. Klar nun: Er weiß, wo er die Angebetet allein treffen kann und dass sie ihn auch liebt. Ulrica, wie ihre Schwestern Azucena und Carmen eine Paria, eine Hexe, ein Mezzo-Sopran. Nana Dzidziguris erste Noten ließen das Publikum überrascht aufhorchen: eine wunderbar tiefe, geschmeidige Stimme, in die die junge Georgierin alle Bedrohung, aber auch gleichermaßen mütterliche Fürsorge legte. Sie hilft Amelia, einen Ausweg aus ihrem Liebes- und Loyalitätskonflikt zu finden und warnt Riccardo vor dem Attentat.

Yannick Muriel Noah gibt die Amelia mit ihrer großen, besonders vielseitigen und wandlungsfähigen Stimme. Sie interpretiert alles Leid einer verzweifelten Mutter, alle Leidenschaft, Angst, Verzweiflung und Zuversicht in ihre erste große Arie „Ecco l’orrido campo“ (Hier die Stätte des Grauens) differenziert. Die Kraft eines strahlenden Soprans verbindet sie mit ihrer agilità für die Koloraturen. Großer Applaus trägt sie von hier in das Duett mit Riccardo „Teco io sto“ (Ich bin bei dir) . Die Regie führt die beiden ein paar Minuten lang in großem Abstand, bis sie schließlich einander umarmen. Das Publikum hält den Atem und fühlt sich dem Liebespaar im Großmut des Entsagens tief verbunden. Innig verschmelzen sie nach diesem grandiosen Duett und Arthur Espiritu/Riccardo scheint von seinen eigenen Gefühlen überwältigt. Das Premierenpublikum versüßt ihm diesen Moment mit enormem Applaus und Will Humburg lässt Zeit … Ein ergreifend schöner Opernmoment!

Ensemble, © Thilo Beu

Der philippino-amerikanische Tenor Espiritu erobert als Riccardo in seinem Rollendebüt und in seinem ersten Auftritt am Rhein die Herzen des Bonner Publikums. Er singt und spielt, als ob er einen Opernhelden darstellt. Eitel befragt er den Spiegel, um seine eigene Achse kreist er als betriebsblinder und beratungsresistenter, etwas einfältiger Narziss. Leichtfüßig tanzend benötigt er immer das rote Buch – sein Libretto – als Gedächtnisstütze. Die Regie ironisiert das Image des gutaussehenden Tenors, dessen Eigenliebe seine intellektuellen Kapazitäten übersteigt. Dieser Riccardo hat immer gute Laune, macht Späße, vergnügt sich mit Verkleiden und Lauschen sowie Feiern, die er sich selbst zu Ehren organisiert. Amelias mehrfache Warnung und Aufforderungen zur Flucht schlägt er in den Wind – inmitten eines riesigen Fests wird er untergehen. Und er ist wahnsinnig verliebt, auf Distanz, platonisch, ganz ehrenwert. In Würde oder als Opfer sterben? Dazu ist der Regie der Typ zu sehr ans Herz gewachsen. Ein Alter Ego, ein Avatar wird erdolcht – Riccardo selbst zieht sich in seinen Luxussarg zurück. Das war ja alles nur ein Spiel! Arthur Espiritu begeisterte auf der ganzen Linie mit einer Glanzleistung: eine herrliche, frische Stimme, unangestrengt locker geführt, gepaart mit leichter, komödiantischer Spielfreude und offensichtlich ein Teamplayer. Ein echter Genuss, ihn als Riccardo zu erleben.

Komplett abgeräumt hat die zauberhafte Koloratursopranistin Lada Bočková in ihrer abendfüllenden Rolle als Page Oscar. In ihr steckt ein Kobold, ein Puck, ein Michael Jackson und eine Rockröhre, Bikerbraut und Komödiantin. Sie ist niedlich, keck, sexy, hintergründig, androgyn. Und vor allem ihrem Herrn Riccardo völlig ergeben. Sie ist die eigentlich tragische Figur der Oper. Unwillentlich gibt sie die Riccardos Verkleidung preis und versetzt ihm so quasi selbst den Todesstoß. Ein Wirbelwind auf der Bühne und eine Tänzerin auf den Stimmbändern, in den hohen Lagen ganz klar und mit einer erstaunlichen Beweglichkeit. Diese nahezu omnipräsente, schillernde Figur hat Verdi mit extrem schwierigem Gesang bedacht – Lada Bočková meistert die Herausforderung virtuos „spielerisch“.

Dem Theater als Scheinwelt verleiht Sir David Pountney mit seiner Verdi-Maschine Ausdruck. Wie schon in Die sizilianische Vesper ereignet sich die Handlung in drei riesigen, aber unterschiedlich breiten Rahmen, die zu insgesamt 50 unterschiedlichen Portalen verschoben und neu kombiniert werden. Dazwischen bewegen sich Reihen von Kinosesseln und meterhohe Schiedsrichtertürme. Es entwickeln sich Szenarien von „Wenn der Beobachter den Beobachter beobachtet“, der Kybernetik 2. Ordnung. Dabei greift der passionierte Theatermacher in die Vollen: Er spielt mit dem Spiel. Das Spiel von Identitäten, von Tod & Teufel, von politisch, persönlich und privat. Ob das Stück in Stockholm, Boston oder Bonn spielt – die historische Einordnung spielt tatsächlich keine Rolle, Pountney dreht keinen historischen Dokumentarfilm. Vieles ist überzeichnet, over the top, weckt Assoziationen, verspottet Graf Dracula und die Innenausstattung der Limousine eines amerikanischen Varieté-Stars. Er jongliert mit Vorurteilen, Zuschreibungen und Stereotypen, was der happy mix der Kostüme (Marie-Jeanne Lecca) vom Justaucorps und großer Damentoilette bis zu Abendanzug und Leder-Outfit sehr augenfällig machen. Verdi erzählt keine realistische Geschichte mit stringenter Handlung und Pountney nimmt diesen Ball auf und spielt ihn weiter.

Dramaturgisch lebt das Stück von den Tänzen. Riccardos Scheinwelt wird im traditionellen höfischen Menuett des 17. Jahrhunderts porträtiert, ins Gegenteil verkehrt und in ihrem hohlen Spiegelbild entlarvt. Der Totentanz erfolgt in Skelettkostümen; Wo man einen Marche funébre erwartet, schmettert das Orchester eine Hymne zu einem schwedischen Fahnenmeer. Verdi lebte immer wieder in Paris und verehrte Jacques Offenbach für seine schwungvolle Operettenmusik sehr. Daran lehnt sich die Tanzszene im 1. Akt an – wie ein Tanz auf dem Vulkan oder die letzte Party vor dem Untergang der Titanic. Michael Spenceley hat die hübschen Choreografien mit Chor, Solisten und Statisten einstudiert und bewegt mehr als 100 Menschen über die Bühne, davon 50 Sängerinnen und Sänger. Sehr beeindruckende Massenszenen.

Will Humburg und das Beethoven Orchester bedachte das Publikum mit reichlich Vorschusslorbeeren, völlig übertroffen allerdings durch den Riesenapplaus, als der Dirigent auf die Bühne trat. Der „ständige“ Gastdirigent Humburg absolvierte in Bonn ein Heimspiel und diese Tradition hat Verschiedenes hervorgebracht: musikalische Leistungen auf hohem Niveau, mit Temperament und Präzision, und ein Publikum, das auf das Charisma des Maestros vertraut. Enthusiastische Zwischenapplause für die Sängerinnen und Sänger kündigte an, was die Premiere zu einem großen Erfolg werden ließ: Stehende Ovationen und rhythmisches Klatschen. Das Regieteam holte sich kräftige Buh-Rufe ab. Pountney wird sich gedacht haben „You can’t please them all“ und quittierte die Bekundungen des Missfallens mit einem Lächeln.

Die Oper Bonn spielt Ein Maskenball noch dreizehn Mal bis zum 16. April 2023. Infos und Karten gibt es hier.

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