Abend-Andacht

Innig an etwas denken, das Hier-und-Jetzt völlig abstreifen, meditieren … Eine Andacht als eine spirituelle Auszeit, ein Reflektieren und – im kirchlichen Sinne – ein Dankesgebet, eine imaginäre Reise nach innen. Das Ensemble paper kite hat mit seiner zweiten CD eine Abend-Andacht geschaffen, deren Musik und Texte einen Funken Hoffnung und das Denken an ein besseres Morgen verbinden. Genau das als Trauma- und Krisenbewältigung, was so viele Menschen jetzt wie Balsam für ihre Pandemie-müde Seele willkommen heißen.

Begleiten wir also das Ensemble paper kite auf ihrem literarischen und musikalischen Weg in die Zeit des Frühbarock, in die Wirren des 30-jährigen Kriegs. 2018 erweckte Daniel Kehlmann mit seinem Roman Tyll auf anschaulichste Weise den Schrecken, das Grauen, das Sterben, die Seuchen, das Plündern und Morden der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zum Leben. Zeitgleich entwickelte sich zur Zeit des frühen Barock mit seinen berührenden Kantaten eine Musik, die die Weichen stellte für die Arien einer reichen Opernliteratur. Nahezu folgerichtig begab sich Marie Heeschen, Sopranistin an der Oper Bonn, auf die Spur nach den Ursprüngen ihrer Kunst.

Zwei Jahre nachdem sie mit den Musikern ihres Ensembles paper kite die erste CD felice un tempo veröffentlichte, widmete sie sich erneut dem Barock. „Ich tauche ganz in die Zeit ein, entdecke neue – alte – Komponisten, begeistere mich für die ursprüngliche Notation, die zeitgemäße Aufführungspraxis von Trillern oder den Möglichkeiten der damals improvisierten Verzierungen.  So spüre ich den Geist der Zeit auf und verbinde Historie mit Musik und Schicksalen.“, erläutert Marie Heeschen.

Ihre Art von Konzeptalbum, in dem sie die CD als ein konzeptionell zusammenhängendes Werk produzieren, nennt sie es, wenn Musik & Poesie einer Periode eine Liaison eingehen. Wie viele tolle Projekte wurde auch dieses „Baby“ zu Hause auf der Terrasse gezeugt. Über einem Teller Pasta mit Thomas Dehler, den Bonnern als Lehrer und Erzähler aus Echnaton (Premiere am 13.3.2018) noch ganz lebendig im Ohr, nahm das Projekt schnell Gestalt an. Dehler rundete die Textauswahl mit dem Gedicht „Abend“* von Andreas Gryphius (1650)* ab und sprach alle Texte für die CD ein.

Nicht von ungefähr rinnt die Zeit in der Sanduhr auf dem Cover der CD Abend-Andacht unerbittlich. Das Ablaufen unserer Zeit auf Erden steht im Zentrum des Vanitas-Motivs** im Barock. Auf den Punkt gebracht: Unser Leben im Hamsterrad mit dem Streben nach Geld & Gut, Macht & Einfluss ist nichtig. Im religiösen Sinn solle es zur Erlösung durch Gottes Gnade streben. Der Tageslauf dient als Metapher für das Wachsen, Werden und Vergehen. Daher auch das Bild vom Lebensabend. Eingebettet finden sich die Texte in Barockmusik von eher bekannten Komponisten wie Heinrich Schütz und nur in Kennerkreisen gespielten und gehörten Stücken von Philipp Heinrich Erlebach und anderen. Zwei Violinisten, Antonio de Sarlo und Rafael Roth, der Cellist Guillermo Turina, der Organist Felix Schönherr und der Lautenist an der Theorbe, Sören Leupold (den die Bonner aus dem Barockorchester der Oper Xerxes kennen), bilden das Instrumental-Ensemble. Alle perfekt aufeinander eingespielte Musiker, die sich der historischen Aufführungspraxis verpflichtet fühlen.

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Marie Heeschen als Vokalsolistin macht ihre wunderbare Stimme zum Zentrum der 70-minütigen Aufnahme. Mit warmem Timbre bringt die Sopranistin Liebesschmerz (Vulnerasti cor meum – du hast mein Herz verletzt) genauso überzeugend zum Ausdruck wie den Lobgesang auf göttliche Allmacht (Mein Herz ist bereit, Gott, dass ich singe und lobe.) Sie vermag einfach so viel Gefühl in die Kantaten zu legen, dass sie uns sinnlich berühren. Ein wunderbares Hörerlebnis!

Marie selbst deutet es so: „Die Menschen waren im 30-jährigen Krieg in einem Maße auf das nackte Leben reduziert, dass diese Musik wie eine Mischung aus Trost und Traumabewältigung wirkte.“ Nahezu verblüffend dabei die zeitliche Koinzidenz mit der aktuellen Wahrnehmung unserer Welt, die ja auch aus den Fugen geraten ist. Das Konzept war komplett fertig, geprobt und vor Publikum präsentiert, bevor die Pandemie gerade Kunstschaffende vor existenzielle Fragen stellte.

Kaum zu glauben, dass die Idee zur Abend-Andacht bereits 2017 entstand. Mit dem Blick von heute antizipierte das junge Ensemble eine globale Krise, die aktuell tatsächlich die gesamte Menschheit betrifft und so beklagenswert viele Opfer fordert. Mit dem Konzept ging paper kite (vor der Studioaufnahme 2019) auf Tour, wo sie das Programm zwölfmal in traumhaft schönen Locations spielten. Alte Kirchen in Brandenburg und Potsdam mit einer faszinierenden Aura spiegelten genau das, was vor 350 Jahren Lebenswirklichkeit war.

Marie beschreibt das so: „Nur wenig Publikum erschien zu den live gigs – wie damals, als die Bevölkerung sich so dramatisch dezimierte. Sologesang war oft nur von der Laute begleitet, weil andere Musiker verhungert, an der Pest gestorben, bei Kriegshandlungen gestorben oder marodierenden Banden zum Opfer gefallen waren.“ Persönlichen Trost fand sie in dieser Arbeit, als sie selbst um einen geliebten Menschen trauerte. Ihre tiefe Empfindsamkeit der Musik und den wirklich relevanten Themen gegenüber atmet jede Note, die sie mit ihrer wunderbaren Stimme singt.

Mein Tipp (gerade jetzt zur Karwoche): Gleichgültig ob gläubiger Christ oder selbstreflektierender Mensch – Die Abend-Andacht von paper kite still und andächtig hören, spüren, erleben.

*Abend
Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn /
Und führt die Sternen auff. Der Menschen müde Scharen
Verlassen feld und werck / Wo Thier und Vögel waren
Trawert itzt die Einsamkeit. Wie ist die zeit verthan!

Der port naht mehr und mehr sich / zu der glieder Kahn.
Gleich wie diß licht verfiel / so wird in wenig Jahren
Ich / du / und was man hat / und was man siht / hinfahren.
Diß Leben kömmt mir vor alß eine renne bahn.

Laß höchster Gott mich doch nicht auff dem Lauffplatz gleiten
Laß mich nicht ach / nicht pracht / nicht lust / nicht angst verleiten.
Dein ewig heller glantz sei vor und neben mir /

Laß / wenn der müde Leib entschläfft / die Seele wachen /
Und wenn der letzte Tag wird mit mir abend machen /
So reiß mich auß dem thal der Finsterniß zu dir.

(modernisierte Fassung zitiert nach deutschelyrik.de)

**Es ist alles eitel
Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden.
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein:
Wo jetzt noch Städte stehn, wird eine Wiese sein,
Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.

Was jetzt noch prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch’ und Bein,
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
Ach! Was ist alles dies, was wir für köstlich achten,

Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;
Als eine Wiesenblum’, die man nicht wieder find’t.
Noch will, was ewig ist, kein einzig Mensch betrachten.
(modernisierte Fassung zitiert nach wikipedia.org)

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