Achill, der Beste der Griechen

Götter, Helden-Halbgötter, Könige, Krieger, schöne Frauen und große Gefühle – Komponisten und Librettisten der Oper seit ihren Anfängen griffen nahezu ausschließlich zu den mythologischen Gestalten der Antike. Als Fundgrube diente dafür neben den Metamorphosen des Ovid vor allem Homers Ilias, die heute in wortgetreuen Übersetzungen, kindgerechten Erzählungen und wortgewaltigen Nachdichtungen vorliegt.* Neu auf Deutsch gibt es nun den biografischen Roman Das Lied des Achill von Madeline Miller zu lesen. Nähern wir uns dem Edelsten aller Griechen durch die Augen der britischen Autorin. Was hat es mit seinem Lied auf sich?

Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus …“ heißt es bei Homer und „von der bitternis sing, göttin – von achilleús, dem sohn des peleus …“ in einer mitreißenden Neudichtung des österreichischen Schriftstellers Raoul Schrott.*

Das Singen steht für das Erzählen. Nur mit Takt und Rhythmus der Homerschen Hexameter war es ja möglich, lange vor der Erfindung des Buchdrucks so umfangreiche Texte zu lernen und vorzutragen. „Das Lied des Achill“ also seine Geschichte, das Epos vom Sohn der Göttin Thetis, einer Meeresnymphe, und Peleus, dem Herrscher des kleinen Königtums Phthia. Das Leben und allzu frühe Sterben (live fast, die young) bilden als Mythos ein weltumspannendes Allgemeingut – bis hin zum Film Troja aus dem Jahr 2004. Hollywood bringt die crème de la crème der Stars auf die Leinwand und hält sich erstaunlich dicht an die literarische Quelle.

Und befindet sich damit in bester Gesellschaft mit zahlreichen Opern der letzten 400 Jahre. Den Auftakt machen Daphne, L’Orfeo und Odysseus (Il ritorno d’Ulisse in patria), dann tummeln sich bis zur Aufklärung Alceste, Idomeneo, Iphigenie, König Midas sowie Dido und Aeneas auf der Opernbühne. Makellose Charaktere, großer Edelmut, unerschütterliche Loyalität aber auch abgrundtiefe Greuel ließen sich eben am besten an exponierten Gestalten der Geschichte – immer aus königlichem Hause – darstellen. Auch im 19. Jahrhundert, als zwar weiterhin Herrscherhäuser „den Ton angeben“, allerdings bereits Dienerschaft und Advokaten sich unter die dramatis personae mischen, leuchten die Sterne der Antike. Gounod zaubert Philemon und Baucis, Berlioz Les Troyens als grand-opéras auf die Bühne, vorher komponierte Rossini Castor et Pollux.

Das 20. Jahrhundert entdeckt die – nun eindeutig tiefenpsychologisch angelegten – mythologischen Gestalten wieder. Richard Strauss schreibt Elektra, Ariadne auf Naxos, Daphne, und Die Liebe der Danae, Ernst Krenek widmet sich dem Leben des Orest, Othmar Schoeck der Amazone Penthesilea, Wolfgang Rihm Oedipus. Aribert Reimanns Medea und schließlich Manfred Trojahns Orest werden erst 2010 und 2011 uraufgeführt.

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Zurück zu unserem Titelhelden. Warum bildet eine Bühnengestalt auch heute noch solch ein Faszinosum? Erinnern wir uns an Peter Konwitschnys Penthesilea in der Oper Bonn 2017. Achill (Christian Miedl) trug eine blonde Perücke. Das war sein Markenzeichen. Eine Lichtgestalt, deren Strahlkraft im Blondschopf ihren Ausdruck findet und auf seine göttliche Herkunft schließen lässt. Madeline Miller begibt sich auf die Spur dieser Aura und entwickelt eine Plausibilität für die Figur, in der sich das Menschliche mit dem Übernatürlichen vereint.

Zunächst einmal: Achill ist keine kalte Kampfmaschine, kein Roboter, kein Terminator. Keine eindimensionale Figur wie der listige Odysseus, der machtgierige Agamemnon oder der gutmütige Menelaos. Sein Wesen oszilliert. Einerseits zwischen seinem übermenschlichen Kampfgeist plus seiner mörderischen Präzision und einer empfindsamen, zugewandten, verantwortungsvollen Seite. Andererseits zwischen den göttlichen Weissagungen und Instruktionen seiner Mutter Thetis und dem Eid eines Königssohns. Ja, er muss mit Agamemnon nach Troja segeln, ja, nur Odysseus gelingt es, ihn aufzuspüren und ihn zu zwingen, den Ehrenkodex der griechischen Fürsten einzuhalten. Achill verfügt über eine einzigartige Gabe. „Das göttliche Blut fließt unterschiedlich in jedem von einer Göttin geborenen Kind. Orpheus‘ Stimme brachte die Bäume zum Weinen, Herakles konnte einen Mann töten, indem er ihm auf den Rücken klopfte. Achills Wundergabe war seine Geschwindigkeit. (…) er bewegte sich wie Flüssigkeit, wie ein Fisch in den Wellen.“

Und er ist klug, analytisch, selbstbewusst und hält mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg, vor allem dem (nicht seinem) Kriegsherrn Agamemnon gegenüber. „Reichtum und Ruhm – dafür hatten unsere Leute immer getötet.“, Helena zu befreien sei nur der Vorwand eines gehörnten Ehemanns. Und stets die göttliche Prophezeiung im Kopf: Achills Ruhm werde den aller anderen Helden überdauern. Allerdings habe der erste Rang in der Hall of Fame seinen Preis. Nachdem er Hektor, den Erbprinzen von Troja getötet habe, werde er selber fallen. Das Finale kennen wir. Ausgerechnet der Schönling Paris, der im jugendlichen Hormonüberschwang die ganze Chose angezettelt hatte, erwischt ihn an seiner Achillesferse.1 (Das Motiv setzt sich in Siegfried & Lindenblatt fort.)

Für die Menschen der Antike und in deren Weltbild nimmt Achill eine Sonderstellung ein. Der Krieger, der alles niedermetztelt, was sich ihm in den Weg stellt, hat eine musische und menschlich-wertschätzende Erziehung genossen. Er spielt die Lyra ganz vorzüglich, am liebsten das Instrument, das Patroklos‘ Mutter gehörte. Dieser mickrige, vom eigenen Hof verstoßene Knabe entwickelt sich zum Therapon (=Diener) des größten Kriegers aller Zeiten, zum Wingman, zum Vertrauten, zum Geliebten, zum one & only. Gemeinsam genießen sie eine dreijährige Erziehung durch den Zentauren Chiron, der ihnen Medizin, Musik und Menschlichkeit nahebringt – alles nur, um sie „als Mörder ins Leben zu entlassen.“

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Physis, Auftreten, Wirken – in allem könnten die beiden Heranwachsenden nicht unterschiedlicher sein. Wie Yin und Yang ergänzen sie sich, füllt einer die körperliche und emotionale Lücke des anderen aus. Homoerotik – insbesondere in jungen Jahren – war in der Antike nicht verwerflich, auch wenn Aristoteles das „Beieinanderliegen“ nur zum Austausch von Gedanken und ehrenhaften Ideen billigte, von lustvollen Freundschaften abriet. Auch Achill zeugt einen Sohn und Patroklos lässt sich von einer Frau verführen.

Eine starke, eifersüchtige, dominante Frauenfigur ist Achills Mutter Thetis, mit der er immer wieder die Zwiesprache sucht. Sie treibt den Keil in die innige Beziehung zwischen ihrem Sohn und Patroklos, der von Hektors Hand fällt, weil er die Kriegsmoral der Griechen mit einem Cameo-Auftritt in Achills Rüstung rettet. In mörderischem Wahn rächt er seinen Intimus und tötet Hektor. Damit ist auch das Schicksal des Besten aller Griechen besiegelt. Am Ende – die Griechen segeln schon nach Westen – gewährt Thetis versöhnlich Patroklos das Nachleben im Schattenreich an der Seite des Halbgottes Achill. „In der Dunkelheit zwei Schatten, die die Hände in der schweren, hoffnungslosen Dunkelheit ausstrecken. Ihre Hände finden einander und Licht ergießt sich wie eine Flut, wie einhundert goldene Gefäße, die die Sonne ausgießen.“

Was Patroklos noch einmal zu hören ersehnt: Achills kunstfertiges Spiel auf der Lyra, seine schöne Stimme. Da schließt sich der Kreis: Das goldene Licht und die Musik bleiben!

Lesetipp: Madeline Miller, Das Lied des Achill. Eisele 2020. Madeline Miller, The Song of Achilles, Bloomsbury 2011
In einer leichten, harmonisch schwingenden Sprache lässt sie „die alten Griechen“ sehr lebendig werden.
Filmtipp: Troja. Monumentalfilm auf historisch und literarisch gut getroffener Grundlage.
Hörtipp: Antike HeldenConsider them armed and dangerous. CD/Spotify

Bewaffnet und gefährlich … trotz des englischen Untertitels alle Texte von und über Heldinnen und Helden wie Medea, Elektra, Ikarus und Herkules auf Deutsch. Aus der Opernwerkstatt am Rhein, 2020. Ein szenisches Hörspiel mit Monologen und der Musik von Rainer Quade und Ella Rohwer.

1 Nur in Schoecks Penthesilea tötet die Amazone den strahlenden Helden im Wahn. Nach Homer aber versetzte Achill Penthesilea den Todesstoß, als sie den Trojanern mit ihrem Frauenheer zu Hilfe kam.





Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,
Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte,
Und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aïs
Sendete, aber sie selbst zum Raub darstellte den Hunden,
Und dem Gevögel umher. So ward Zeus Wille vollendet:
Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten
Atreus Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus.“
– Johann Heinrich Voß (Deutsche Übersetzung von 1793)
von der bitternis sing, göttin – von achilleús, dem sohn des peleus
seinem verfluchten groll, der den griechen unsägliches leid brachte
und die seelen zahlloser krieger hinab in das haus des hades sandte
die blutvollen leben dann nur noch fleisch an dem die hunde fraßen
den vögeln ein festmahl – und wie zeus`wille sich dadurch erfüllte …
sing, muse, und beginn mit dem moment wo der göttliche achilleús
sich in einem streit mit seinem kriegsherrn agamemnon entzweite.
(Raoul Schrott, Homer. Ilias. 2008)
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