Der fliegende Holländer – Am Ende das Licht

Wagner auf der Flucht – ein Leitmotiv seines eigenen Lebens. Immer wieder floh er bei Nacht und Nebel, wenn seine Gläubiger ihm im Nacken saßen und die Schuldhaft drohte. Von Riga aus machte er sich in einer prekären Lebenslage auf den Weg nach London, um von da aus die Pariser Opernwelt zu erobern, der ehrgeizige und von seiner eigenen Genialität völlig überzeugte junge Komponist. Das kleine Schiff geriet in stürmische See, und diese lebensbedrohlichen Erfahrungen, untermalt von der Geschichte um eine sagenumwobene Kapitänsfigur von Heinrich Heine, legten wohl den Grundstein für die Oper Der fliegende Holländer. 1843 fand die Uraufführung in Dresden statt, bis 1860 hat Richard Wagner immer wieder an dem Stück gearbeitet. Dabei stand die Frage der Erlösung des verfluchten Holländers im Mittelpunkt. Die Oper Köln spielt nun die Fassung von 1860 – aber hier schreitet am Ende Senta in das gleißende Licht der Rettung.

Wir schreiben das Jahr 1841. Deutschland verharrt in der biedermeierlichen Puppenstube, Mythen und Sagen schwappen aus der Literatur der Romantik in die anderen Kunstformen über. Naturpoesie, die die Seele berührt, Sehnsucht und mystische Geheimnisse sind in en vogue. Nicht nur E.T.A. Hoffmann erzählt auch von den Schattenseiten, von Gespenstern, vom Teufelspakt und vom Wahnsinn. Schwärmerische Gefühle, die seit der Aufklärung eigentlich verpönt waren, haben erneut Konjunktur. Empfindungen und Sehnsüchte erfüllen die Protagonisten. Und da ist Wagner beim Dichten und Komponieren seiner ersten erfolgreichen Oper ganz Kind seiner Zeit. Eine „romantische Oper“ nennt er dieses Frühwerk, das von den revolutionären Ideen des Vormärz meilenweit entfernt liegt.

Die Geschichte um den Kapitän Holländer – gleichnamig mit seinem Geisterschiff mit blutroten Segeln – erzählt von einer Gotteslästerung und einem Satanspakt. Der Mann ist dazu verflucht, unermüdlich auf den Weltmeeren zu segeln. Alle sieben Jahre darf er an Land gehen und eine Frau suchen, die ihm Treue bis in den Tod verspricht. Mehrfach gescheitert, erkennt er nun die etwas einfältige und geldgierige Natur von Kapitän Daland, der wie er selbst wegen eines Sturms einen Zwischenhafen ansteuern muss. Sie werden schnell handelseinig: eine Kiste mit Gold gegen die Hand der Tochter. Deal! Hand drauf! Allerdings enthält die Schatzkiste in Köln keine Preziosen, sondern Waffen. Pistolen, Revolver, Sturmgewehre. Der Holländer ein Waffenschieber, der Daland damit zu seinem Komplizen macht? Knarren als Währung in kriegerischen Zeiten wie heute, der Kapitän deshalb mit seinem Schlägertrupp deswegen rastlos unterwegs, weil überall gejagt?

Kurz zurück zum Plot. Während die Männer dieses namenlosen Hafens oft monatelang auf See sind, verdienen sich die Mädchen und Frauen den Lebensunterhalt mit Spinnen. Dort trägt Senta die Ballade vom Holländer vor, die sie von ihrer Amme Mary schon früh und oft erzählt bekommen hat. In ihrem Zimmer hat Senta – wie ein schwärmerischer Teenie – ein Bild von diesem Mann, der ja auch uralt sein muss, aufgehängt. Mit einer Mischung aus Angst und Sehnsucht betrachtet sie es immer wieder. Der Holländer ist im wahrsten Sinne des Wortes ihr Traum von einem Mann, sie verklärt ihn zum Symbol ihrer Liebe, als Erfüllung ihrer Sehnsucht. Nun wäre die Geschichte schnell auserzählt, wenn nicht ein junger Mann Senta ebenfalls begehrte. Erik hat einen nordischen Namen, als Jäger ist er gut geerdet, der tagträumenden Senta wäre er als Partner das ruhig ausgleichende Element. Aber sie treibt die Sehnsucht nach der Ferne und dem Unergründlichen, im wahren wie im übertragenen Sinne.

In der Kölner Inszenierung von Benjamin Lazar bleiben sowohl der Holländer als auch Erik als zunächst zerrissene, dann gebrochene Männer zurück. Senta gewinnt – die Freiheit! Das macht sich mit der eindrücklichen Lichtregie am Ende gut, ergibt sich aber keineswegs als Konsequenz aus dem übrigen Geschehen. Ist sie die Fremde in der eigenen Gemeinschaft, das Kind, das sich dem Holländer zunächst zu Füßen, dann an den Hals wirft? Eine Lolita-Verführerin, die aber blind dem Vater gehorcht, als der sie richtiggehend verschachert? Eine Somnambule, die Traum und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden weiß? So selbstbestimmt, dass sie dem vergötterten Mann am Ende nicht in den nassen Tod folgt, zeigt sie sich erst im Abgang. Ein Mikro-Anteil feministischer Deutung durch die Regie, aber insgesamt eine wenig konhärente Interpretation.

Lazar hat das Stück sehr statisch angelegt. Ein Containerhafen – links mit roten Stahlboxen für Holländer und seine Untoten, rechts das mit Fan-Fotos tapezierte hellblaue Zimmer Sentas, ebenfalls im Kasten. Die Oper hat drei Aufzüge mit drei Schauplätzen: die Steilküste für die Notlandung, Dalands Haus und den Hafen. All‘ das legt der Regisseur quasi simultan in die extreme Breite der Bühne im Staatenhaus1. Verbindungen schafft er durch Rohre wie im Inneren eines Hochseedampfers. In den Maschinenraum platziert er das Gürzenich Orchester, arg eingezwängt. Bevor er den Baton zu Beginn runtersausen lässt, grüßt GMD François-Xavier Roth durch das Rohrgeflecht. „Oh, Herr Roth hinter Gittern“, entfährt es mir und meiner Sitznachbarin gleichzeitig. Nahezu unwürdig für einen so großartigen Künstler wie diesen Dirigenten.

Wie fixiert stehen auch über weite Strecken die Solisten am Rand oder an der Rampe. So viel deklamatorischer Rampengesang war selten, große Distanz herrscht vor. Sehr verhaltene Interaktionen prägen die Personenführung. Liebe, Leidenschaft, Begehren – das vermittelt nur Young Woo Kim als Erik sehr eindringlich; ihm nimmt man die Verzweiflung ab, mit der er Senta immer wieder zur Umkehr mahnt. Für action sorgen die großen Chorszenen. Die Frauen und Mädchen erscheinen in bunten Kostümen, teils abgetragene Hippie-Klamotte, teils second-hand und arme-Leute Mode. Sie schmücken eine gigantische Holzpuppe, drehen Papierblumen wie für Girlanden beim Dorffest. Lazar fügt hier das russische Brauchtum der Masleniza ein, die traditionelle ostslawische Fastnachtswoche. Am Ende der feierfreudigen Tage wird diese Puppe verbrannt, den Kölnern als Ritual als Nubbelverbrennen bekannt. Warum? Es erklärt sich nicht.

Den Höhepunkt des derben Treibens bildet in Lazars Holländer die große Chorszene der Männer mit dem Matrosen- und Geisterchor. Ein exzessiver Mummenschanz, dessen Kostüme an eine Hunnentruppe erinnern, bei dem reichlich Alkohol fließt. Er endet in Gewaltszenen. Da ist richtig was los auf der Szene – leider bleibt die Bedeutung im Bühnennebel der Holländer-Container verborgen. Am Ende zündet Senta selbst die nunmehr aufgerichtete und fein dekorierte Puppe an. Sie lässt ihr altes Ich zurück. Welchen Sinn allerdings diese Nebenhandlungen erfüllen, bleibt das Geheimnis des Regisseurs.

Die Damen- und Herrenchöre der Oper Köln mit den Extrachören beweisen ein weiteres Mal ihre Sonderklasse. Rustam Samedov hat mit ihnen eine großartige, differenzierte Klangfülle einstudiert. Dalia Schächter als Mary, Sentas Amme, erkennt zu spät, welche „Spinnerei“ sie mit ihren Geschichten in Senta angelegt hat. Ihr gelingt – wie immer – ein glaubwürdiges Porträt zwischen Strenge und liebevoller Fürsorge für ihren Schützling und die anderen Mädchen und Frauen. Den Steuermann gestaltet der Tenor SeungJick Kim mit großer Spielfreude und seinem volltönenden, jungen Tenor. Young Woo Kim gibt den Erik: sängerisch auf hohem Niveau, auch in den Spitzentönen klar und differenziert, und hier darstellerisch besonders stark. Seine Textverständlichkeit ist vorbildlich. Das gilt gleichermaßen für den Bariton John Rutherford. Er gestaltet den Holländer mit stattlicher physischer Präsenz – so ein echter Seebär! Seine dunkle Lage verleiht den mystischen Erzählungen um seine Herkunft, seinen Reichtum und sein Leid Anlass zu schaurigem Mitempfinden. Im Duett mit Daland behält er allerdings die Oberhand. Karl-Heinz-Lehner, der neue Bass im Kölner Ensemble, gibt Sentas Vater, in seiner leichtgläubigen, altmodischen Haltung ebenfalls überzeugend präsentiert. Ingela Brimberg hat als dramatischer Sopran die Rolle der Senta bereits mehrfach an verschiedenen Häusern gesungen. Sie beherrscht die hohen Anforderungen allzu gut, aber weniger Dominanz, leisere Töne und differenziertere Textverständlichkeit würden der Befindlichkeit eines Teenagers besser zu Gesichte stehen.

In Richard Wagners Der Fliegende Holländer prallen Welten aufeinander: Rationalität und Handelsmann-übliche Geldgier bei Daland, Mythologie und Fluch des Holländers sowie Religiosität und Ergebenheit von Senta und die Realität in Eriks Erd- und Naturverbundenheit. All‘ dem verleiht der Dichter-Komponist musikalisch eindringlichen Zauber. Er malt dramatische Stürme und den süßen Südwind, lässt die Spinnräder behände surren und Verzweiflung im Orchester-Crescendo übermächtig werden. Roth zelebriert mit dem Gürzenich Orchester diese Musik, geht mit behutsamem Tempo vor. Die Themen der Protagonisten und das Erlösungsmotiv sind noch keine vollwertigen Leitmotive, eher Elemente mit Verweisungscharakter. Ihr Wiedererkennungswert schon hier sehr hoch, im Kaleidoskop der Seelengründe.

Fazit: Die Inszenierung wirft Fragen auf. Orchester, Chöre, Solistinnen und Solisten präsentieren musikalische Feinkost.

Die Oper Köln spielt Der Fliegende Holländer ohne Pause über zweieinviertel Stunden. Noch achtmal bis zum 7. Mai 2023. Infos und Karten gibt es hier.

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