Eine verstohlene Träne entschied über seine Karriere als Sänger. In einem Wettbewerb in Treviso präsentierte Leonardo Caimi die Parade-Arie für junge Tenöre „Una furtiva lagrima“ aus der Oper L’elisir d’amore von Gaetano Donizetti. Wie ein Nemorino findet der junge Student schicksalhaft sein Glück. Denn die Jury war spontan von seiner wunderbaren Stimme überzeugt und man bat ihn, die Arie „Si ritrovarla io giuro“ des Don Ramiro aus Rossinis La Cenerentola unvorbereitet vom Blatt zu singen. Er kam, sang und siegte – nicht von ungefähr ähnlich dem legendären Spruch von Julius Caesar, dessen Geburtstag er teilt.
Trotz des Stipendiums für ein Gesangsstudium zweifelte Caimi an seinem Talent und der Sängerlaufbahn als eigenen Lebensweg. Schließlich hatte er bereits das Klarinettenspiel aufgeben müssen, weil die linke Hand Probleme mit den großen Griffen hatte, obwohl er als Instrumentalist bereits sein Diplom abgelegt hatte und vor dem Eintritt in die Akademie stand. Also widmete er sich intensiv dem Studium der Theologie und Philosophie an der Universität Messina, das er tatsächlich mit einem Bachelor mit den besten Noten und cum laude abschloss. Sein Lehrer jedoch hielt ihm sein strahlendes Gewinnerfoto des Wettbewerbs in der Zeitung entgegen. „Wenn du das Singen jetzt aufgibst, wirst du so ein Foto von dir nie wieder veröffentlicht sehen.“
An der Oper Bonn hat ihn das Publikum in den letzten Jahren kennen und lieben gelernt. Er glänzte als Henri in Die sizilianische Vesper und als Don Carlo in der gleichnamigen Oper von Giuseppe Verdi. Die beiden Heroinen Hélène und Elisabetta an seiner Seite gab jedes Mal Anna Princeva. Leonardo schwärmt von ihrer Sangeskunst und ihrer Bühnenpräsenz. Die beiden verbindet eine schöne Freundschaft. Will Humburg, der in Bonn fest den Verdi-Taktstock in der Hand hält, schätzt er sehr wegen seiner Professionalität bei den intensiven Proben. „Ein echter Verdi-Kenner eben, der durch seine langjährige Arbeit an der Oper von Catania auf Sizilien ein Gespür für die authentische Italianità entwickelt hat.“

Gerade erst hat ihn das Kölner Publikum als Calaf in Puccinis Turandot gefeiert. Den absoluten Opernhit Nummer eins „Nessun dorma“, von Luciano Pavarotti unsterblich gemacht, singt er immer wieder gern, aber nicht am liebsten. „Da musst du in wenigen Minuten alles geben in einem Gesangsstück, das nach klassischem Verständnis nicht einmal eine richtige Arie mit Rezitativ und Cabaletta ist. Man muss eher die Nervosität vor dem großen Auftritt zähmen als alle Register der eigenen Stimme ziehen. Aber wenn es dann gelingt und ein riesiger Saal spontan heftig applaudiert, geht einem das in jede Faser über.“ Hier macht Leonardo nachdenklich deutlich, wie wichtig für die seelische und mentale Gesundheit die Trennung von Person und Persona, von Bühnen-Ich und Alltags-Ich ist. In der Rolle bleiben bis zum Schluss, sich nicht vom Beifall überwältigen lassen und in Maske und Kostüm perfekt professionell weiterspielen.
Er räumt ein, dass er als Bühnenprofi wie ein Junkie süchtig ist nach Adrenalin und Applaus: „Franz Kafka sagte schon, wir alle haben das Bedürfnis, mehrere Leben zu leben. Dazu gibt einem das Theater jeweils für drei Stunden die Möglichkeit. Die Sucht nach der Bühne steigert sich und peinlich wird es erst, wenn jemand im Alter den Absprung nicht mehr schafft.“ Ich frage ihn nach einem Plan B, was würde er machen, wenn seine Stimme die herrlichen großen Tenorpartien nicht mehr bewältigen könnte? Würde er als vocal coach arbeiten? Wohl kaum, denn er lehnt es ab, einen jungen Sänger in seiner Entwicklung auf das aus Lehrersicht richtige Gleis zu setzen. In Italien – wie in allen Ländern mit Operntradition auch – gibt es keine internationalen Opernstudios, die den Nachwuchs nach ihrem Studium systematisch heranbilden. Das ist ein singulär deutsches Phänomen, ebenso wie die feste Anbindung an ein Haus im Ensemble. Als italienischer Sänger probiert man sich aus und muss klug selbst entscheiden, wann die eigene Stimme für welche Rolle reif genug ist.
Zurück zur Frage und zum Coaching. In der Pandemie war er – wie alle Künstlerinnen und Künstler weltweit – isoliert, unbeschäftigt und von der Droge Bühne entwöhnt. So saß er in seinem Haus an der kalabrische Küste, nicht weit von Lamezia Terme, wo er aufgewachsen ist. Vor seinen Augen das Meer und in respektabler, aber erreichbarer Ferne der Stromboli, der Vulkan im Tyrrhenischen Meer nahe den Liparischen Inseln. Am schnellsten überquert man die Distanz im Boot – und spontan meldete er sich für den ersten Segelkurs an. Mittlerweile besitzt er drei Segelpatente und beherrscht Wellen, Wind und Meer so gut, dass man ihn als Segellehrer einstellen wollte. Aber er lehnte dankend ab …
Zum Glück für die Opernwelt und seine Fans. Leonardo Caimi hat die berühmtesten Tenorarien im Repertoire, wohl an die 50: Radames in Aida, Don José in Carmen, Rodolfo in La bohème, Pinkerton in Madama Butterfly, Manrico in Trovatore … to name but a few. Zu Gast war er in der renommiertesten Häusern der Welt. Der große Bogen reichte von Buenos Aires, London. Florenz, Berlin, Santiago di Chile und Rio de Janeiro bis nach Berlin, Leipzig, Darmstadt, Köln und Bonn, Frankfurt, Madrid, München, Brüssel und ans Teatro dalla Scala in Mailand. um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Völlig überwältigt war er allerdings bei Carmen und Aida in Tel Aviv. Mehr als 100.000 Menschen kamen zu den Open Air Vorstellungen im Ha’Yarkon Park. Selbstredend arbeitete er mit den weltbesten Regisseuren und Dirigenten zusammen: Ricardo Muti und Franco Zeffirelli seien exemplarisch genannt. Weit und breit ausschließlich italienische und französische Komponisten im persönlichen Portfolio. Mozart hat er wie viele junge Opernsänger bereits hinter sich gelassen und seinerzeit mit Don Ottavio in Don Giovanni geglänzt. Aber langsam hält er sich und seine Stimme für reif für Wagner. Der Lohengrin vielleicht?
Zunächst einmal aber probt er gerade in Bonn die Rolle des Riccardo in Un ballo in maschera von Giuseppe Verdi. Er liebt diese Figur: komisch, total verliebt und lang ausdauernd im Sterben. „He must be funny, madly in love and then die.“ Das verlangt vom Tenor, mit seiner Stimme die leichtfüßige Unbeschwertheit der heiteren Passagen, den Liebesschmelz der Amelia-Szenen und das leidenschaftliche Entsagen zu gestalten. Was für eine Stimme benötigt man dafür? Leonardo antwortet selbstbewusst und ein wenig kokett: „My Italian voice – la mia voce italiana.“ Bereits am 21. Dezember 2022 und dann wieder am 15. Januar 2023 tritt er in Bonn im Maskenball auf.
Abseits vom Trubel der Weihnachtsmärkte und des Xmas-Shopping haben wir uns in ein kleines Eiscafé zurückgezogen. Leonardo bestellt eine heiße Schokolade, die er sich nur ausnahmsweise genehmigt, weil er ein paar Tage bühnenfrei ist. „Latte e cioccolato sono dannosi per le cordi vocali e la gola“ – heißer Kakao beeinträchtigt nämlich Stimmbänder und Hals. Unsere zauberhafte Plauderstunde im happy Italiano-English Mix neigt sich dem Ende zu. Bei der Suche nach einem ruhigen Ort beschwerte sich Leonardo, dass es für einen Süditaliener bei Temperaturen um den Gefrierpunkt viel zu kalt sei. Und überhaupt, welchen Sinn mache Kälte ohne Schnee??? Süditalien weckt bei mir Sehnsüchte nach der fantastischen kalabrischen Küche. Rossini kochte und Pavarotti aß – Caimi beweist sich am Herd als Meister der Arincini di riso und der Pasta alle amatriciana. Sollte mich mein Weg demnächst nach Lamezia Terme führen, freue ich mich auf eine Einladung zu hausgemachten Spezialitäten vom Meister selbst.
Bei meinen Künstlergesprächen gibt es zwei Rituale. Am Anfang bitte ich mein Gegenüber, zunächst einmal mir drei Fragen zu stellen. Die lauten häufig gleich: Wie habe ich meine Opernpassion entwickelt, welches ist meine Lieblingsoper, wie bin ich zum Bloggen gekommen? Am Ende spüre ich im Gegenzug immer einem kleinen Geheimnis nach. Was findet sich weder auf Operabase noch auf der Homepage? Da kommt Leonardo noch einmal richtig in Fahrt. Er wirkt in einem Hollywood-Film mit. Penelope Cruz und Adam Driver spielen Enzo Ferrari und seine Frau Laura. Es geht in diesem Biopic um den Aufstieg des Autobauers Ferrari in den 50-er Jahren. Michael Mann führt Regie. Lauter preisgekrönte Weltstars und Leonardo mittendrin. Und das kam so: Für eine Sängerrolle suchte man einen italienischen Tenor mit Augen wie der große Filmschauspieler Tyrone Power. Leonardo bewarb sich, durchlief mehrere Auswahlverfahren und es lief nach seiner Devise „veni, vidi, vici.“ Die Dreharbeiten sind abgeschlossen, der Film kommt voraussichtlich im Herbst 2023 in die Kinos.
Schön war dieser Nachmittag mit einem so sympathischen, erzählfreudigen und weltweit erfahrenen Künstler, der mit einer gehörigen Portion Humor und Selbstironie für viel Heiterkeit und herzliches Lachen sorgte. Geduldig war er beim Fotografieren und ganz zufrieden mit meinen Amateur-Ergebnissen. Grazie mille, caro Leonardo, für dieses Weihnachtsgeschenk: per due ore, just the two of us.
Leonardo Caimi singt den Riccardo in Ein Maskenball von Giuseppe Verdi am 21. Dezember 2022 und am 15. Januar 2023 an der Oper Bonn. Infos und Tickets gibt es hier.