Liegt es am Termin – Bundestagswahl 2021 – oder an dem einigermaßen exotischen Stück, dass heute nur rund 60 Interessierte den Weg ins Foyer der Oper Bonn finden? Im Mittelpunkt steht Leonore 40/45 von Rolf Liebermann, 1952 erfolgreich in Basel uraufgeführt, um dann in Berlin und Mailand komplett durchzufallen. Michael Struck-Schloen, Musikredakteur im WDR3, moderierte exzellent vorbereitet die Matinee. Sein Gespräch mit dem Regisseur Jürgen R. Weber und dem Dirigenten Daniel Johannes Mayr, musikalische Kostproben von Santiago Sanchez, Pavel Kudinov und Igor Horvath am Klavier und zahlreiche Einspielungen beantworten die Gretchenfrage: Ist die Oper schön oder modern?
Vor der 12-Ton Musik schrecken selbst eingefleischte Opernfans im allgemeinen zurück: zu repetitiv, eher mechanisch als melodiös, schräg, dissonant. Mit diesen Vor-Urteilen räumt ein Einspieler aus, Liebermanns Furore, das energiegeladen jazzt und swingt, wilde Rhythmen und Latin-Elemente vereint, eher klassisch-retromodern statt fortschrittlich und zukunftsweisend, so D.J. Mayr. Kurz, Liebermann sei unter den 12-Ton Musikern eher gemäßigt, binde lyrische Passagen mit ein, strophenhafte Lieder. Rolf Liebermann wechselte vom Komponieren für die große Bühne ins Kulturmanagement, war in der 1960-er bis 80-er Jahren Intendant der Hamburger Staatsoper und der Pariser Oper.

Der Inhalt der Oper ist schnell erzählt. Ein quasi-epischer Erzähler und später deus ex machina, Monieur Émile, stimmt im Prolog auf den plot ein. Der junge deutsche Musikstudent Albert erhält – acht Tage vor seinem Diplom als Oboist (mit einem Mendelssohn-Stipendium!) – seinen Einberufungsbefehl. Mit den Besatzungstruppen kommt er nach Paris und dort lernt er Yvette kennen. Aber – eine Ehe unter Feinden ist verboten. Nach dem Abzug der Deutschen werden sie getrennt, finden aber schließlich doch wieder zueinander. Die Hochzeitsfeier endet mit dem Gesang „Alles wendet sich zum Guten in der besten aller Welten.“
Hört sich ziemlich klar an, und dennoch sind sich Weber und Mayr einig: Das Stück ist schwer zu spielen und zu dirigieren. Das Libretto von Heinrich Strobel enthalte keine explizite Antikriegsbotschaft, auch kein Statement gegen die NS-Zeit; Kriege und alle Kämpfenden sind per se böse. Das Finale bedeute einen Aufstand gegen die Bürokratie, gegen die Unmöglichkeit, zusammenzukommen. Der Librettist, selbst mit einer Jüdin verheiratet, hegte eine ausgeprägte Antipathie gegen die Regeln der Entnazifizierung, wohlwissend, dass die die Alt-Nazis in Deutschland und Italien diesen Blick auf die Jahre 1939 bis 1947 nicht teilen wollten. Das Libretto auf Französisch und Deutsch sei ein typischer Helvetismus – sich aus allem raushalten.
So wie Weber gleichermaßen „vom Blatt“ inszeniere, so gestaltet Mayr auch die musikalische Umsetzung. Liebermann knüpft an die Befreiungs- und Rettungsoper des 18. Jahrhunderts an; kein Wunder, dass Albert und sein Vater dem Quartett aus Fidelio lauschen, als die Mobilmachung am Volksempfänger bekanntgegeben wird. Mayr entgrätet die Eingangsmelodie (die mit den identischen Tonfolgen auch das Ende der Oper markiert), identifiziert die 12 Töne – die Anordnung „relativ normal“- und zeigt, wie durch die Durakkorde Tonalitäten erkennbar sind. Er hilft dem Matinee-Publikum auch bei den zahlreichen musikalischen Zitaten und Referenzen auf die Sprünge: Leoncavallo, Wagner, Liszt, Debussy und Beethoven sind auszumachen.
Webers Ansatz verfolgt ein realistisches Szenario, dabei so emotional wie möglich. Eine Liebesgeschichte eben, mit nur wenigen abstrakten Elementen, z.B. die französische Marianne, aber mit einem problematischen Ende. „Es klappert dramaturgisch“, so Weber wörtlich. Stilistisch und moralisch sei die Oper das Produkt eines merkwürdig Schweizer Suchenden. Dirigent Mayr legt ergänzend Wert auf die expressive Musiksprache, durchaus auch Filmmusik ähnlich, und die berührende Sinnlichkeit der Komposition.

Das Besondere an dieser Produktion – auch und vor allem Corona geschuldet? Daniel Johannes Mayr schildert die pragmatischen Aspekte, die das Proben stark erschwerten. Da das Orchester hinter der Bühne platziert ist, sieht und hört er die Sängerinnen und Sänger nicht – und vice versa. Der Chor singt auf der Seitenbühne, Verständigung für alle nur über Monitore. Die Produktion war bereits im vorigen Jahr fertig und muss jetzt mit wenig Vorlaufzeit auf die Bühne. Aber das Fazit der beiden Macher: Es hat sich gelohnt.
Fazit der Matinee-Gäste: Fasziniert von der musikalischen Ausdruckskraft und einer Tonalität, die sich als viel leichter entpuppt als vorher befürchtet (schließlich eine Opera semiseria), wächst die Freude auf die Premiere der Leonore 40/45 am 10. Oktober 2010.
Infos und Karten hier bei Theater Bonn.