Marx in London – Another Day of Follies

Weltpremiere! So ein Ereignis feiert die Oper Bonn nicht alle Tage. Sie ließ Karl Marx  wiederauferstehen und setzte dem Übervater des Kommunismus ein musikalisches Denkmal. Ja, vieles drehte sich um das Kapital, sowohl im Plot als auch in Marx‘ großer Arie zur Mitte der Tragikomödie in zwei Akten. Heiteres wechselte sich mit Schwerem ab, die Fallhöhe der Ikone bot reichlich Raum für Menschliches, allzu Menschliches.

Schauen wir uns das Leben der Familie Marx in London am 14. August 1871 durch die Augen der Tochter Eleanor an, die alle nur Tussi nennen. Mit einem Damenfernglas vor den Augen erkundet sie die Welt, immer auf der Suche nach Abenteuern, nach einer Aufregung wie einen Spion oder Attentäter. Was erspäht sie? Ihren Vater, der im Arbeitszimmer der Haushälterin Helene an die Wäsche geht. Und einen jungen Mann, Freddy, der völlig unverhofft in ihr Leben purzelt. Beide Details sind alles andere als unerheblich: Stellt sich doch heraus, dass Karl Marx ein notorischer Schürzenjäger war, der nicht nur damit seiner Frau Jenny großes Ungemach bereitete, sondern dass er auch Freddys leiblicher Vater ist.  

Marx_GemäldeDamit erklärt sich natürlich schon das Ende der Handlung, wenn wieder Frieden herrscht  bei Marx zu Hause. Und mittendrin? Ist der große Theoretiker – wie immer – völlig pleite. Er, der soviel Theoretisches über das Kapital (kein Privateigentum!) ersann und beschrieb, verfügt im Leben über so wenig davon. So lassen die Gläubiger die Möbel aus seinem Haus abtransportieren und Marx greift zur ultima ratio. Er beschließt, das Familiensilber seiner Frau Jenny von Westphalen zu versetzen. Daraus ergeben sich wilde Verfolgungsjagden mit dem Pfandleiher und der Polizei, auf abenteuerliche Weise werden Geldtaschen vertauscht. Gleichzeitig – und das ist eins der Strukturelemente der Handlung – ruft Franz, der in den Kolonien zu viel Geld gekommen ist, zu einem Wettstreit der Kommunisten auf. Ein Podium rollt herein und der italienische Anarchist Melanzane zeigt sich in römisch-antiker Statuenpose. Lächerlich macht er sich selber durch seine affektierten italienischen Koloraturen und Engels persönlich drängt ihn aus dem Geschehen. 

Marx_EngelsAch ja, überhaupt Friedrich Engels. „My friend“, das schönste Duett des Stücks mit Reminiszenzen an die Freundschaftsarie aus Don Carlo, beschwört diese Männerfreundschaft. Stets ist Engels zur Stelle, wenn Marx in einer Kalamität hockt. Er sorgte seinerzeit für eine Adoptionsfamilie für den unehelichen Sohn, er beglich immer wieder Marx‘ Rechnungen.  Seine Grundregel für die Ratio von Arbeit und Geld: „Du musst säen, bevor du erntest“, bläst Marx selbstredend in den Wind und schenkt mit vollen Händen. 

Wir erleben Marx in der Library des British Museum. Er muss arbeiten,  beklagt aber – wissenschaftlich auf höchstem Niveau – sein Furunkel am Allerwertesten. So weit geht der Einblick in die menschlichen Aspekte des Gelehrten. Dann fällt er in einen tiefen Traum, der ihm „The German Ideology“ beschert. Lesende Arbeiter! Der Aufbruch! Arise! Awake! Schulterschluss! Männer und Frauen gemeinsam! Eine großartige Chorszene, wunderbar sein Arbeitstisch, aus Paletten gezimmert, auf dem prangt „The book you don’t read won’t help“. Marx erwacht, harscher Kontrast, tiefe Bläser aus dem Graben: „My silver, where is my silver?“ Traum und Wirklichkeit scharf dissonant!

Haben wir Tussi und Freddy aus den Augen verloren? Nein, wie erwartet flirten sie ein bisschen, küssen sich sogar (da droht ein antikes griechisches Drama am Horizont: Inzest!), reiten ein wenig erotisch aufreizend auf einer Pistole, nachdem sie auch verbal zweideutige Neckereien anschlagen. Sie inszenieren eine slow-motion Verfolgungsjagd und decken schließlich Freddys Identität auf. Kein Spion, kein Attentäter, aber immerhin ein Bruder.

Die Antipode zum kindlichen Tandaradei bilden die tiefe Trauer und die Verzweiflung der Gattin. Als Adlige geboren, bestimmt zur Lady of Leisure, hat Marx sie um alles gebracht und ist dies eine Mal nun zu weit gegangen. Sie beklagt ihr Schicksal und ihre Arie um die verlorenen Kinder geht zu Herzen. „Now the dark is closing in“ bewegt zutiefst, betrauert sie doch „the children I have lost.“ Von Komödie an solchen Stellen keine Spur! Mit der Haushälterin Helene und dem Hausfreund Engels sind sie „brother and sisters in arms“, die in einem feinen Terzett besingen, wie Marx sie um ihr Leben (Helene), ihr Geld (Engels) und ihr Lebensglück (Jenny) betrogen hat. 

Die düsteren Elemente finden sich ebenfalls im Bühnenbild und der Staffage. Wir fühlen uns an den Film Moderne Zeiten von Charlie Chaplin erinnert: bühnenfüllende hohe Wände, die allerlei Räderwerk und Mechanik repräsentieren, an denen Arbeiter zu expressiver Musik auch schrauben und drehen. Laut und dampfend vollzog sich die Industrielle Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Arbeiter tun das, was man von ihnen erwartet: malochen. Sie haben keine Stimme, sondern ziehen und schleppen, ausgemergelt und ölverschmiert, bewegen sich wie ehemals Südstaatensklaven, nur ohne Fußketten. Das entbehrt jeder Komik und findet seinen Höhepunkt, wenn Marx über den gebeugten Rücken eines schmächtigen Kerlchens als Stufe herabsteigt. Da herrscht null Solidarität, da fehlt jedes Verständnis. 

Orchestra_Marx_gedrehtOffensichtlich wollte das Trio Jürgen R-Punkt Weber, Jonathan Dove und Charles Hart als Regisseur, Komponist und Librettist genau diese Fehlbarkeiten zeigen. Marx lebte als Bourgeois, war ein echter Macho, aufbrausend und hochsensibel für seine eigenen Befindlichkeiten und wenig verantwortungsbewusst für seine moralischen Pflichten. Sie widmeten einem der weltweit am höchsten verehrten Gesellschaftstheoretikers eine Oper, die ihn zutiefst menschlich zeigt. Marx unter diesen – wie vielen anderen – Aspekten eine Figur der Geschichte, ohne die die Welt ärmer wäre. Also für zwei Stunden Spielzeit runter vom Podest (im wahrsten Sinne des Wortes) und willkommen in der Wirklichkeit. Eine Ent-zauberung, wie sie so bis heute ungesehen und ungehört ist. 

Die Regie sprüht vor unzähligen Details, die mit der kollektiven und individuellen Erinnerung des Publikums spielen. Die Modernen Zeiten (heute kommen sie smart, leise und digital daher) omnipräsent, der Schriftzug für den „pawnbroker“ wie auf dem Titel vom schüttelgereimten Bram Stoker für seinen Dracula. Wer ist hier der wahre Blutsauger? Über allem schwebt Tobbie in seinem roten Fliewatüüt, einer flugtechnisch unsicheren Kreuzung aus Doppeldecker, Gyrocopter und Drohne. Darin der Spion im Outfit des Roten Barons, der – an wen auch immer – berichtet, dass es nichts zu vermelden gibt. Außer lakonisch zum Schluss „End of act two!“

Die gleichzeitigen Ereignisse der 24-Stunden-Marx-Special finden auf zwei Eisenbahnwaggons statt, die gezogen, geschoben, arrangiert und rausrangiert den einzelnen Szenen ihre Plattform bieten. Weber und sein Bühnendesigner Kittel strukturieren das Geschehen darüber hinaus mit dem bewährten upstairs-downstairs der britischen Erfolgsserien Das Haus am Eaton Place oder Downton Abbey. Besonders hübsch auch die period costumes mit Gehrock für die Herren und full skirt für die Damen. Auch die Maske bewies eine herausragende Kunstfertigkeit und ließ Marx förmlich leibhaftig werden. Hatte Mark Morouse nicht nur die Statur und die Stimme, machten ihn Bart und Outfit zu einem beeindruckenden look-alike. 

Damit sind wir bei Ähnlichem – in diesem Falle absolut beabsichtigt. Wir starten mit Alice in Wonderland und landen bei der Hochzeit des Figaro oder ein toller Tag.  Wie verrückt geht es in der Welt der Erwachsenen zu? Ein untreuer Ehemann, eine enttäuschte Gattin, die sich mit der Dienerschaft am Alkohol gütlich tut, ein Spion, ein wiedergefundener Sohn … Doch wo der Schürzenjäger Graf Almaviva mit „Contessa, perdono“ auf die Knie geht, bleibt Marx stoisch „You are the only one (hüstel!)“.  Ob es mit beiden Helden am nächsten Tag genauso weitergeht? 

Wer wollte, sah und hörte auch ein bisschen My Fair Lady und Annie Get your Gun, ein wenig West Side Story aus der Musical-Ecke, die Repititionen des Philip Glass und die Expressivität eines Britten oder Stravinsky. „Fair enough“ würde der Komponist sagen. Jonathan Dove zeigt einen pragmatischen Eklektizismus – modern, aber schön! Einzelnen Figuren ordnet er – wie weiland Verdi – Instrumente zu: Marx das baritonale Horn, Jenny die zarten Streicher, Engels die Trompeten. Den Retter, den knight in shining armour, kündigen royale Töne an. Dirigent David Parry, der bereits zwei vorige Opern von Jonathan Dove uraufgeführt hat, leitete das Beethoven Orchester sehr sicher durch die tempo- und abwechslungsreiche Partitur. Da waren klare Ansagen für die zahlreichen Taktwechsel gefragt! Zu recht gab es für die Leistung aus dem Graben begeisterten Beifall. 

Christian Georg und David Fischer.jpgDas Publikum teilte sich in diejenigen, die sich zu Applaus-Stürmen und standing ovations hinreißen ließen und denen, die sitzend sehr enthusiasmiert klatschten. Verdient haben es alle Akteure ausnahmslos. David Fischer als Spion aus der Vogelperspektive, Christian Georg als suchender Tamino mit der Glöckchenmelodie fürs Medaillon, oops, den Serviettenring, Marie Heeschen, deren Spielfreude und Stimme immer wieder aufs Neue erfreuen, Cerie Williams, die im Mezzo mit Marx alle Höhen und Tiefen auslotet, Johannes Mertes, dessen Tenor den großen Bogen führt und strahlt, Yannick-Muriel Noah, die wie wenige die desillusionierte, leidende Frau in ihren wunderschönen Sopran kleidet, und Mark Morouse, prädestiniert für die Titelrolle, die er bravourös darbot. 

Als familienfreundlich und cool kündigte der Regisseur die Oper an. Viel action macht das Werk tatsächlich auch für das jüngere und junge Publikum sehenswert. Karten für die nächsten Termine gibt es hier.

 

 

 

4 comments

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  1. Susanne Krüger

    Das war ja dann am Sonntag wirklich ein Kontrastprogramm! Die Kritiken machen mich so neugierig, dass ich gern mal wieder in die Oper gehe. Weihnachten steht vor der Tür und ich habe noch Wünsche frei…
    Herzliche Grüße von der Sitznachbarin
    Susanne Krüger

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