Kurz vor Weihnachten zwei Repertoire Renner! Der 1. Dezember beschert der Opernregion Köln-Bonn in der Bundesstadt Puccinis Tosca, fast pünktlich zum 100. Todestag des Maestro, und der Domstadt am selben Tag Verdis Nabucco, mit dem der der junge Komponist 1842 seinen ersten großen Triumph feierte. Stehend bejubelte das Kölner Publikum die eigenwillige Inszenierung dieser wuchtigen Choroper – und das will im Staatenhaus etwas heißen!
Wie bei wenigen anderen Opern haben sich die Melodien aus Nabucco tief in das italienische Nationalgefühl eingefräst, während sich das ja gerade erst herausbildete. Im Norden des noch ungeeinigten Landes standen die österreichischen Habsburger als Okkupationsmacht, im Süden, aber auch in den Herzogtümern von Parma und Lucca die französischen Bourbonen. Verdi traf den Nerv der Zeit: Die Herausführung der Hebräer aus babylonischer Gefangenschaft bot eine leicht zu lesende Blaupause für den Wunsch der Menschen auf der italienischen Halbinsel, jede Form von Unterdrückung und Fremdherrschaft zu beseitigen. Der Stoff bot sich aber auch deshalb an, weil in der Fastenzeit Opern verboten, Oratorien aber oder Werke mit biblischen Stoffen von der Zensur gestattet waren.
Das Alte Testament erzählt die Geschichte des (historisch belegten) Königs Nebukadnezar, der um 600 v. Chr. über ein riesiges Reich herrschte. Er lässt Jerusalem mit dem Tempel der Hebräer zerstören und verschleppt die Israeliten in die babylonische Gefangenschaft. In seiner Hybris und grenzenlosen Selbstherrlichkeit, wie sie extrem narzisstischen Potentaten häufig eigen ist, erklärt er (in Verdis Oper): Ich bin nicht mehr König, ich bin Gott!

Aber er verfällt in Wahnsinn und in die Machtlücke zwängt sich Abigaille, eine illegitime Tochter Nabuccos mit einer Sklavin. Das Beweisdokument ihrer Herkunft vernichtet sie, um vor allem den Aufstieg der rechtmäßigen Tochter Fenena zu verhindern. Diese wiederum liebt Ismaele, einen Hebräer, dem sie zur Flucht verhilft. Zu Beginn allerdings sehen wir sie in Fesseln, denn sie wurde als Unterpfand gefangen genommen. Dass auch Abigaille Ismaele begehrt, treibt das Aggressions- und Intrigenpotenzial in weitere Höhen.
Zaccaria, der Hohepriester der Hebräer, malt wortreiche Bilder, um sein Volk mit Glauben, Hoffnung und Zuversicht auf bessere Zeiten einzustimmen. Die Hebräer jedoch liegen als Gefangene am Boden und verleihen ihrer Sehnsucht nach Freiheit und der nostalgischen Trauer über den Verlust des vergangenen Glücks mit dem Welthit „Va, pensiero, sull‘ ali dorate“ Ausdruck.*
Nabuccos verwirrter Geist zeigt sich (!) nach einer göttlichen Eingebung als geläutert, demütig und versöhnlich. Er schenkt den Hebräern die Freiheit und verspricht, den Tempel wieder aufzubauen und selbst dort zu beten. Als Abigaille erkennt, dass sie die Macht verliert, begeht sie Selbstmord. Hier wartet Regisseur Ben Baur mit einem überraschenden plot twist auf. Auch Fenena trinkt von dem Gift, sodass Ismaele nur noch um sie trauern kann. Dann knallt Nabucco den Oberpriester des Baal ohne Vorankündigung ab. Drei Tote! Schließlich findet auch Nabucco, dieser Wolf im Schafspelz, den Tod. Zaccaria ersticht ihn.
Welche Botschaft packt die Regie in dieses brutale Ende? Es gibt keinen Gott, das ist alles nur Inszenierung um der Macht willen? Es gibt keine Liebe, wenn auch das Schöne aus eigenen Stücken stirbt? Es gibt keine glaubwürdige Religion, wenn auch der Hoffnungsträger Zaccaria zum Mörder wird? Es gibt in diesen Machtkämpfen keine Gewinner, nur Verlierer?
Das Premierenpublikum war offensichtlich wenig konsterniert vom Ende der Oper, das so deutlich von der Originalversion von Giuseppe Verdi und seinem Librettisten Temistocle Solera abweicht. Denn es feierte mit Jubelapplaus und stehenden Ovationen eine musikalisch hinreißende Aufführung. Ein Genuss, Sesto Quatrini beim Dirigieren zuzusehen: präzise, explizite Anweisungen trugen das Gürzenich Orchester zu einer Spitzenleistung. Um das Crescendo in Rossini oder Donizetti ähnlichen Passagen rollte er die Arme, die Einsätze der Soloinstrumente initiierte er vorausschauend. Es entstand ein Klang, der die Verdi-spezifischen Dauerkontraste von laut und leise, bombastisch und lyrisch, emotional und hymnisch wunderbar zu Gehör brachte. Allerdings legte er ein rasantes Tempo vor, das für Zwischenapplaus keinen Raum bot und sowohl dem Chor als auch den Solisten eine exzellente Atemtechnik und gute Kondition abverlangte. Aber so entstand ein Sog ohne Leerstellen, ein fulminantes Musikerlebnis, von fabelhaften Solopartien verfeinert: Cello, Harfen, Oboe, Flöten und Pikkolo setzten traumhaft schöne Akzente.
Die Sängerinnen und Sänger fanden sich in einem Einheitsbild – das Staatenhaus mit seiner spezifischen Hallenarchitektur erlaubt tatsächlich kaum Umbauten. T-Träger aus Stahl fungierten als Decke und Verbindung zwischen mächtigen Stadtmauern, von Eisenrohren gestützt. Davor meterhohe Holztore, die prima vista an die Waggons der Transporte in die Konzentrationslager erinnern. Kerker, Wildnis, Tempel, Palast – alles in derselben Kulisse. Die vorherrschende Farbe: düster. Grau, sepia, mattblau oder braun. Da ist wenig Heiteres oder Vergnügliches. Auch die Kostüme aller Beteiligten gleichen sich dieser Trostlosigkeit an. Einzig Abigaille, die Unsympathin, sticht hell aus der Menge hervor.

Die gesamte Besetzung glänzte mit einer gut artikulierten italianità – den leidenschaftlichen Wechseln der Arienteile von kontemplativ und ruhig zu leidenschaftlich und heftig im Ausdruck. Sprachlich waren die Muttersprachler im Vorteil. Der Bariton Ernesto Petti gab einen sehr überzeugenden Nabucco, der alle Schattierungen dieses wechselhaften Charakters gesanglich und darstellerisch überzeugend interpretierte. Marta Torbidoni als dramatischer Sopran präsentierte eine große Bandbreite ihres Könnens: sie führt ihre Stimme von Spitzentönen tief hinab ins Brustregister, verschafft sich laut Gehör und schlägt unter der Last ihrer Schuld schließlich zarte Töne an. Der Tenor mit der großen Stimme, Young Woo Kim, ist unüberhörbar zum Publikumsliebling der Oper Köln avanciert. Seine voluminöse Stimmkraft dosiert er sensibel, stimmt sie feinfühlig auf den Mezzosopran der Fenena ab. Ismaeles Leid und seine Liebe klingen mit Woos einzigartig schöner Stimme wie ein blauer Bergsee in dieser Tristesse .
Die Japanerin Aya Wakizono ist mit ihrem hohen Mezzosopran eine ausgewiesene Belcanto Expertin. Als Fenena setzt sie neben all‘ dem rasanten Geschehen um sie herum feine Akzente. Die Ensemblemitglieder Lucas Singer als Oberpriester des Baal, John Heuzenroeder als Abdallo und Claudia Rohrbach als Anna machten der Oper Köln wie immer zuverlässig große Ehre. Die wunderbare Claudia Rohrbach präsentierte vor dem 4. Akt das Gedicht „Einem Feldherrn“** von Ingeborg Bachmann, das als Schlüssel für Baurs zahlreiche Hinweise auf Flüchtlingselend, Übergriffe und Gewalt gelesen werden kann.
Weltklasse der Chor! Mit seinen 68 Sängerinnen und Sängern studierte Rustam Samedov die einzigartigen Chorpassagen ein und arbeitete feinste Nuancen heraus: am beeindruckendsten das messa di voce, das langsame Auf- und Abschwellen der Lautstärke aller Stimmen hin zu einem perfekten Klangbild. Als dann die geschundenen Hebräer aus dem Dunkel des Bühnenhintergrunds langsam ins Licht kamen und „Va pensiero“ sangen, hielt das Publikum den Atem an und belohnte diese fantastische Leistung am Ende mit donnerndem Applaus.
Fazit: Die Inszenierung monochrom und im Finale verstörend, Musik und Gesang auf Spitzenniveau. Anschauen, aber mehr noch unbedingt anhören!
Tipp: Lesen Sie das reich bebilderte Programmheft mit den sehr aufschlussreichen Texten!
Die Oper Köln spielt Nabucco noch 14 Mal bis zum 12. Januar 2025. Infos und Karten hier.
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| Va, pensiero, sull’ali dorate; va, ti posa sui clivi, sui colli, ove olezzano tepide e molli l’aure dolci del suolo natal! Del Giordana le rive saluta, die Sionne le torri atterrate … Oh mia patria si bella e perduta! O membranza si cara e fatal! Arpa d’or dei fatidici vati, perche muta dal salice pendi? Le memorienel petto raccendi, ci favella del tempo che fu! O simile di Solima ai fati traggi un suono di crudo lamento, o t’ispiri il Signore un concento che ne infonda al partire virtù | Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen, lass dich nieder auf jenen Hängen und Hügeln, wo sanft und mild der wonnige Hauch der Heimaterde duftet. Grüße die Ufer des Jordan, die zerfallenen Türme Zions… O mein Vaterland, du schönes, verlorenes! O Erinnerung, du teure, verhängnisschwere! Goldene Harfe der Schicksalsverkünder, warum hängst du stumm am Weidenbaum? Entzünde neu die Erinnerung in den Herzen, sprich uns von den Tagen von einst! O passend zu den Schicksalen Jerusalems bring einen schmerzlichen Klageton hervor! Möge dir der Herr einen Klang eingeben, der Kraft zum Leiden verleiht. |
** EINEM FELDHERRN
Wenn jenes Geschäft im Namen der Ehre
ergrauter und erblindeter Völker
wieder zustande kommt, wirst du
ein Handlanger sein und dienstbar
unsren Gemarkungen, da du’s verstehst,
sie einzufrieden mit Blut.
Voraus in den Büchern schattet
dein Name, und es verleitet
sein Anflug den Lorbeer zum Wuchs.
Wie wir’s verstehen: opfre keinem vor dir
und rufe auch Gott nicht an. (Verlangte ihn je
teilzuhaben an deiner Beute? War er je
ein Parteigänger deiner Hoffnungen?)
Eins sollst du wissen:
erst wenn du nicht mehr versuchst,
wie viele vor dir, mit dem Degen
den unteilbaren Himmel zu trennen,
treibt der Lorbeer ein Blatt.
Erst wenn du mit einem ungeheuren Zweifel
dein Glück aus dem Sattel hebst und selbst
aufspringst, verheiß ich dir Sieg!
Denn du errangst ihn nicht damals,
als dein Glück dich besiegte;
zwar sanken die Fahnen des Feindes
und Waffen fielen dir zu
und Früchte aus Gärten,
die ein andrer bebaute.
Wo am Horizont der Weg deines Glücks
und der Weg deines Unglücks
in eins verlaufen, richte die Schlacht.
Wo es dunkelt und die Soldaten schlafen,
wo sie dir fluchten und von dir
verflucht wurden, richte den Tod.
Du wirst fallen
vom Berg ins Tal, mit den reißenden Gewässern
in die Schluchten, auf den Grund der Fruchtbarkeit,
in die Samen der Erde, dann in die Minen von Gold,
in den Fluß des Erzes, aus dem die Standbilder
der Großen gehämmert werden, in die tiefen Bezirke
des Vergessens, Millionen Jahre von dort,
und in die Bergwerke des Traums.
Zuletzt aber in das Feuer.
Dort reicht dir der Lorbeer ein Blatt.
(Ingeborg Bachmann, 1953)
[…] eine feine Auswahl an Solisten freuen: Marta Torbidoni (bereits im Dezember 2024 als Abigaille in Nabucco zu erleben), die Ensemblesänger Insik Choi als Carlo und Young Woo Kim als Räuberhauptmann Ernani […]
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