Grandios, was Giacomo Puccini mit Tosca gelungen ist. Mühelos lässt sich der Politthriller um die Stellung der Kunst in einem totalitären System, das Drama um Schönheit, Liebe, Eifersucht, Sadismus und Terror in eine andere Zeit transponieren. Ursprünglich spielte die Handlung um den liebenswerten Maler Mario Cavaradossi, die Primadonna Floria Tosca, den Polizeichef Scarpia und den politischen Aufrührer Cesare Angelotti in Italien um 1800; die Uraufführung der Oper erfolgte 1900 in Rom, unweit vom Schauplatz der Tragödie. Die Oper Köln zeigt Tosca in der Regie von Thilo Reinhardt, dessen Inszenierung in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts spielt. Und das funktioniert ausgezeichnet: mitreißend, furchteinflößend, niederschmetternd. Puccini selbst sah sich als den Komponisten der Gefühle: Wenn Chio-Chio San sich den Dolch in die Brust rammt, Mario Cavaradossi dem Todesschuss erliegt oder Tosca von der Engelsburg in den Tod springt, ist jeder im Publikum erschüttert.
Nach zweieinhalb Stunden Tosca (eine Wiederaufnahme von 2012) waren die Gemüter gleichermaßen erregt wie erschöpft. Vier Tote – davon zwei Menschen erschossen, zwei Selbstmorde durch Gift oder Kopfschuss. Dabei spielt der historische Kontext der Kämpfe gegen Napoleons Vorherrschaft keine Rolle für das Verständnis und die Wirkung des grausamen wie packenden Dramas. Der Überwachungsstaat im Faschismus bildet das Setting. Der Plot geht dem Zuschauer nahe, betroffen machen ihn allerdings die Wirkmechanismen der Polizeistaats.
Mario Cavaradossi liebt die selbstbewusste Sängerin Floria Tosca und gerät unvorhergesehen in eine politische Intrige, indem er Angelotti, soeben als politischer Häftling aus der Engelsburg geflohen, Unterschlupf gewährt. Der Polizeichef Scarpia, ein sadistischer Emporkömmling, spinnt nun eine Intrige aus Verdächtigungen und Eifersucht. Er lässt Cavaradossi als Unterpfand verhaften, lässt ihn foltern, mit Dornenkrone ans Kreuz nageln. Diese Brutalität dient ihm dazu, Tosca zu erobern: Sex gegen das Leben des Geliebten. Dabei befriedigt ihn mehr, die Angst und den Hass in den Augen seines Opfers zu sehen, als sanfte Hingabe zu erlangen.
Gewalt, ein ausgeklügeltes Helfersystem mit Subalternen und die ständige Verbreitung von Angst haben sich schon immer als probate Mittel eines Terrorsystems erwiesen. Diese Elemente bringen Regie, Licht und Kostüme in unverhohlener Analogie zum Gestapo-System des deutschen Faschismus auf die Bühne. Das Geschehen spielt in allen drei Akten im Inneren eines Kirchenraums, eine Anklage gegen das Reichskonkordat von 1933, mit dem der Vatikan Hitler „hoffähig“ machte. Die Kostüme samt Breeches und Koppel eindeutig, das schillernde Kardinalsrot der Tosca-Roben spricht Bände.
Es ist kaum zu glauben, dass diese Produktion der Tosca schon 2012 zum ersten Mal aufgeführt wurde. Der Appell des „Nie Wieder“ bringt mit den politischen Entwicklungen der letzten Jahre eine noch stärkere aktuelle Brisanz zum Ausdruck. Bewundernswert darüber hinaus auch, wie ein kompletter neuer Cast in dieser populären Puccini-Oper einen leidenschaftlichen Sog einhaucht. Sang damals der Weltstar Jose Cura den Cavaradossi, glänzt nun Young Woo Kim mit seinem wunderbaren Tenor. Er gestaltet die gesamte Gefühlspalette des jungen Malers – vom neckischen Verliebtsein über das politische Verschwörertum, exzeptionellen Mut, entschlossene Leidensfähigkeit und größte Trauer – in allen Nuancen seines großen Stimmvermögens. Inklusive eines Schluchzers in seiner Schicksalsarie „E lucevan le stelle“. Zu Recht wurde ihm tosender Applaus zuteil.
Kann Kunst sich aus Gesellschaft und Politik raushalten? Diese seit Jahrhunderten virulente Frage thematisiert Puccini in Floria Toscas zentraler Arie „Vissi d’arte“ – Ich habe (nur) für die Kunst gelebt. Aurelia Florian gestaltet diese anspruchsvolle Partie eindringlich; auch sie spielt auf der gesamten Gefühlsklaviatur der Puccini-Musik. Intrigant und sinister bestimmen die Hauptmerkmale des Baron Scarpia; er ist ein Gefühlsmonster, weidet sich am Leid der anderen. Jordan Shanahan ließ diese Figur mit seinem Bariton an manchen Stellen zu viel Harmlosigkeit und zu leise Töne. Wer aus der Gruppe der Schergen deutlich hervortritt, ist Martin Koch. Mit schneidendem Stahl in der Stimme gibt er den Handlanger der Macht. Allein wie er genüsslich vor jeder Schandtat die Handschuhe überstreift … „Seht her, ich habe mir die Hände nicht schmutzig gemacht.“
Das Gürzenich Orchester unter Giuseppe Finzi hielt eine spannungsreiche Balance zwischen den dramatischen Ausbrüchen der Musik und der feinen Begleitung der Solo-Szenen. Dennoch war das Orchester an einigen Stellen einfach zu laut und erschwerte es den Solisten, deutlich hörbar darüber hinwegzukommen. Immer eine Freude, den Chor der Oper Köln einschließlich der Knaben und Mädchen der Kölner Dommusik auf der Bühne zu erleben. Rustam Samedov hat die Kirchenszenen wunderbar mit ihnen einstudiert und schafft damit eine maximale Fallhöhe vom engelsgleichen Gesang zu den Abgründen der menschlichen Seele.
Die Oper Köln spielt Tosca noch zwei Mal, am 11. und am 13. April 2024. Infos und Restkarten hier.