„Lyrische Szenen“ nannte Pjotr Tschaikowsky sein Bühnenwerk Eugen Onegin, das ihm nach der Uraufführung 1879 in Moskau endlich den lang ersehnten Erfolg bescherte. Als Quelle nutzte er das russische Nationalepos von Alexander Puschkin mit demselben Titel. Der Dichter zeichnete in seinem „Roman in Versen“ ein ironisch gebrochenes Gesellschaftsbild im Russland des frühen 19. Jahrhunderts, das insbesondere die tiefe Kluft zwischen dem Französisch sprechenden Hochadel in den Metropolen, dem einfachen Landadel und den Massen an bitterarmen Bauern und Leibeigenen auf dem Land veranschaulichte. Die Titelfigur erscheint dabei als versnobter Mann von Welt, der die spontane Liebe eines jungen Mädchens als die Schwärmerei eines Teenagers abtut. Nun inszeniert der russische Regisseur Vasily Barkhatov die Oper in Bonn.
12 Jahre lang hat Barkhatov Eugen Onegin auf verschiedenen renommierten Bühnen immer wieder in Szene gesetzt. Dem Bonner Publikum präsentiert er für den ersten und zweiten Akt einen variablen Bühnenaufbau aus braun-grauen Wänden für das Landgut der Familie Larin, darin enthalten eine gutbürgerliche Stube, davor eine Tenne und zwei Schrägen, die vor- und zurückfahren und als Schlittenbahn, Seeufer, Duellschauplatz und Sehnsuchtsort fungieren. Mit einem Zeitsprung von 10 Jahren setzt sich das Geschehen in Sankt Petersburg fort. Wir sehen einen festlich beleuchteten Empfangssaal, der auf dem piano nobile auch Hotelzimmer beherbergt und dem rastlosen Treiben einer Bahnhofshalle einen Schauplatz bietet. Spontaner Applaus braust auf, als sich der Vorhang für den dritten Akt hebt: Ein so hell designtes, kühl ästhetisiertes Ambiente für das Finale trifft den Geschmacksnerv des Publikums.
Die große Uhr an der Stirnseite symbolisiert Barkhatovs Grundidee für diese Oper. Es handle sich um eine tragische Verknüpfung der verpassten Chancen, in der Menschen sich zur falschen Zeit am falschen Ort befinden, um das Timing im individuellen Lebenslauf. Wer sind nun die Protagonisten für dieses traurige Spiel um die Liebe und die Ehe? Nach dem Tod ihres Ehemanns sieht sich die Witwe Larina gezwungen, mit ihren beiden Töchtern Olga und Tatjana aufs Land zu ziehen. Von der einstigen Noblesse des gesellschaftlichen Lebens zeugen noch das Grand Piano und ein Ballkleid: ersteres, früher der Adelsschlag der höheren Bildung, dient nun dem Abwasch und allerlei profanen Aktionen. Das Ballkleid, bereits leicht ramponiert, kommt später als abgeschmackter Fummel beim clownesken Monsieur Triquet zum Einsatz, der als Französischlehrer die Töchter auf eine bessere Zukunft vorbereitet. Was neben den Koffern mit nunmehr nutzlosem Zeug dominiert, sind Tatjanas Bücherstapel.
Die beiden Schwestern könnten unterschiedlicher nicht sein: Tatjana scheu, in sich gekehrt, selbst- reflektierend, intellektuell. Olga dagegen temperamentvoll, burschikos auf dem Herrenrad, lebenslustig und aufmüpfig. Da fliegen auch schon mal Teller! Sie ist mit dem Dichter Lensky verlobt, einem narzisstischen jungen Künstler, der seine Liebe in kleinen Poemen auf ebensolchen kleinen Zettelchen notiert. Mittellos wie sie ist, fördert die Mutter die Heiratsaussichten der Töchter. Und zwar bald, bevor der jungfräuliche Mädchencharme verfliegt.
Quasi aus dem Nichts erscheint nun Eugen Onegin, ein offensichtlich reicher Mann mittleren Alters, in den sich Tatjana Hals über Kopf verliebt. Sie ist so reif für die erste (und einzige große) Liebe und in tiefstem Herzen davon überzeugt, dass Onegin der Richtige ist. „Ihr Schutzengel oder Verführer?“ sinniert sie. Es wird sich anders zeigen. Denn er weist sie zurück und präsentiert allen Umstehenden, wie oberflächlich er mit Frauen umzugehen pflegt: Im Original flirtet und tanzt er ausschließlich mit Olga, bei Barkhatov ergötzen sie sich eng aneinander geschmiegt am Schlittenfahren.
Lensky kündigt ihm aus Eifersucht die Freundschaft und fordert ihn zum Duell. Das Volk gafft. Endlich was los auf dem Land! Aber nicht die Pistolen besiegeln Lenskys Schicksal, sondern in einem Handgemenge kommt er zu Tode.
Jahre später kehrt Onegin nach rastlosen Reisen zurück nach Sankt Petersburg, der damaligen Hauptstadt des Russischen Kaiserreichs. Auf einem Empfang muss er feststellen, dass Tatjana einen rasanten gesellschaftlichen Aufstieg vollzogen hat als Gattin des Fürsten Gremin. Es gibt eine Aussprache, während der Tatjana ihm für seine Impertinenz eine Ohrfeige verpasst, ihm aber auch ihre Liebe gesteht. Dennoch: Sie stellt Pflicht über Leidenschaft, bleibt ihrem Gatten treu und loyal. Onegin, der Mann ohne Bindungen, ohne Vergangenheit und Zukunft, hat gelernt zu lieben. Am Ende bleibt er als verzweifelter Mann zurück.
Dramaturgisch lebt die Oper von Gegensätzen: zwischen Stadt und Land, Intimem und Öffentlichem, Mann und Frau, Frau und Frau, Pflicht und Leidenschaft, arm und reich, alt und jung, offen und geschlossen, oben und unten, spontan und beherrscht, schwärmerisch und reif. All dies wird in der Figur der Tatjana offensichtlich, der Anna Princeva Stimme und Gestalt verleiht. Diese fabelhafte Sopranistin spielt stimmlich souverän auf der Situations- und Gefühlsklaviatur. Das junge Mädchen, empfindsam und wehmütig, fühlt sich vom Landleben mit seinen derben Späßen angewidert. Dann schlägt die Liebe ein wie ein Blitz! Sie schreibt Onegin einen Brief. Knapp 15 Minuten lang gibt sie im Sterntalerhemdchen ihr Innerstes preis und mit der Musik prescht ihre Stimme vorwärts, wenn sie sich ihrer Gefühle sicher ist, und verfällt ins zweifelnde Stammeln, wenn ihr der neue Wunsch nach Entscheidungsautonomie bewusst wird. Eine Frau, die einem Mann Avancen macht und sehr deutlich formuliert: „Ich will dich“. Zu Puschkins und Tschaikowskys Zeiten einfach unerhört! Da wurde frau verheiratet – mit 13 Jahren, wie die Amme Filipjewna zum Thema Liebe, dieser bürgerlichen Erfindung des späten 19. Jahrhunderts, als Erzählung beisteuert.
Anna Princeva präsentiert ihre fantastische, vielseitige Sanges- und Schauspielkunst in der Ausformung der weiblichen Hauptrolle wunderbar als Charakterstudie(n). Sie singt drei Tatjanas: das junge Mädchen vor und während der zentralen Briefszene mit ihren herrlichen Melodiebögen und feinstem messa di voce, von zartestens gehaucht bis zum prägnanten Forte. Nach dem fatalen Brief ist sie als Fürstin eine andere geworden. Mit Finesse verkörpert sie ihre gesellschaftliche Stellung und hält ihre Emotionen unter Kontrolle. Das Publikum spendet ihr langen, begeisterten (Szenen-)Applaus und bestätigt: So geht Primadonna!
Alle Rollen sind ausnahmslos glänzend besetzt. Giorgos Kanaris in der Titelrolle changiert zwischen zugewandtem Freund, arrogantem Lebemann, patronisierendem Macho und gebrochenem Individuum. Für Onegin geht es um Ehre und Rivalität. Dieser Figur verleiht Kanaris‘ Bariton in den Duetten mit Lensky, Gremin und Tatjana und den großen Solo-Auftritten Kraft und Glaubwürdigkeit. Seine elegante, warm timbrierte Stimme und der exquisite Gesang passen ausgezeichnet zu Protagonisten wie dem alten Germont in La traviata oder Onegin hier.
Santiago Sanchez beherrscht beides, die lyrische (Selbst-)Verliebtheit und die dramatische Strahlkraft seines jungen Tenors. Seine Solo-Arien über die Liebe zu Olga und über die Zeit nach seinem Tod rühren das Publikum. Sehr schön gesungen und mit Szenenapplaus bedacht. Davon räumt allerdings den heftigsten Pavel Kudinov als Fürst Gremin ab. Ihm legt Tschaikowsky eine zu Herzen gehende Bass-Arie über die Liebe in die Stimme: Jubel allenthalben noch vorm Verklingen des letzten tiefen Tons. Charlotte Quadt begeistert als Tatjanas freche Gegenspielerin. Tschaikowsky setzt sie in eine runde Altstimme, Barkhatov lässt sie radelnd singen. Chapeau! An ihr ist – trotz Tutu – ein Junge verloren gegangen. Ihre Antwort auf Lenskys Eifersucht? Girls, they wanna have fun!
Fürsorglich und verständnisvoll bewegt sich auch Rena Kleifeld als die Amme Filipjewna im nahezu gutturalen, tiefen Alt. Darin steckt das Frauenleid zahlloser Generationen und die mütterliche Liebe für die verträumte Tatjana. Sie und Eva Vogel als Larina sind die beiden einzigen Gastsängerinnen, alle anderen gehören zum Ensemble. Auch Johannes Mertes, der mit viel Verve den Triquet als bösartigen Buffone gibt.
Eugen Onegin beglückt auch als große Chor Oper. Ob bei der „Petersburger Schlittenfahrt“, den Mädchen beim Bade oder als sängerische Interpretation des feudalen Balls – die Damen und Herren unter der Leitung von Marco Medved geben dem Geschehen seine musikalische couleur locale mit viel russischer Seele. Wunderbar charakterisieren auch die Kostüme von Olga Shaishmelashvili Schauplätze und Ereignisse: in graubraunen Bauernkitteln mit einem roten Tupfer hier und da bis hin zu den eleganten Cocktailkleidern im fürstlichen Palais.
Tschaikowskys Komposition sprüht vor musikalischen Finessen, die stets den Klangteppich für das Geschehen bereiten. Dunkle Bläser und Cello-Soli, lyrische Intermezzi zwischen den Szenen, Temperament in den Tänzen wie dem berühmten Erntedank-Walzer oder der Fürsten-Polonaise bieten Abwechslung in rascher Folge. Hermes Helfricht dirigiert das Beethoven Orchester Bonn mit der feinen Balance zwischen poetischen und dramatischen Passagen. Das Publikum dankt ihm und allen Mitwirkenden mit stehenden Ovationen für den fantastischen musikalischen Genuss.
Fazit: Eine sehr gelungene moderne Inszenierung, mit dem Bonner Ensemble und dem BOB mit hinreißender Musik und fabelhaftem Gesang die beste Produktion der Spielzeit.
Das Theater Bonn spielt Eugen Onegin noch zehnmal bis zum 1. Juni 2024. Karten und Infos hier.
Wieder einmal mehr so kundig und anschaulich geschrieben…Herzlichen Dank!!!
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