Der Tanz um das Goldene Kalb findet im Künstleratelier statt. Es fehlen die vier nackten Jungfrauen, die 70 Greise und die Sexorgie in der zentralen Szene von Arnold Schönbergs Oper Moses und Aron, die jetzt in der Inszenierung von Lorenzo Fioroni am Theater Bonn Premiere feierte. Eine extrem vielschichtige Präsentation eines Werks, dessen Realisierung nur wenige Häuser wagen. Minutenlanger, frenetischer Applaus für die Solisten und die Chöre. Diese Interpretation des alttestamentarischen Stoffs und die Szenografie von Paul Zoller – ein Opernereignis!
Erst 1957 wurde das Opernfragment Moses und Aron in Zürich uraufgeführt – sieben Jahre nach dem Tod des Komponisten und 25 Jahre, nachdem Schönberg die Oper mit zwei kompletten und einem ansatzweise erstellten dritten Akt fürs Erste abschloss. Für Handlung und Libretto wählte Schönberg Elemente aus dem zweiten Buch Mose, wo Gott Moses den Auftrag erteilt, das Volk Israel aus der ägyptischen Knechtschaft ins gelobte Land zu führen, wo „Milch und Honig fließen“.
Dabei fallen Moses zwei schier unerfüllbare Aufgaben zu: die Israeliten sicher durch Wüsten und Gefahren zu lotsen und gleichzeitig eine monotheistische Religion zu etablieren als Gegenzug zur pharaonischen Vielgötterei. Darüber hinaus sieht sich der kontemplative Moses außerstande, die neuen Ideen rhetorisch zu vermitteln: Für die Überzeugungskraft fehlt ihm das Wort. Dieses legt er seinem Bruder Aron in den Mund, der gleichermaßen das ergänzende Gegenstück darstellt. Hier der Denkende, dort der Handelnde, hier der Philosoph, dort der Macher.
Die Dualität dieser Kräfte symbolisiert Fioroni mit der äußerlich völligen Übereinstimmung des Bruderpaares, der eine das Alter Ego des anderen, wie die sich aufeinander beziehenden Prinzipien des Yin und Yang. Ein wahrer Glücksgriff hat dazu den Bariton Dietrich Henschel, hier nur mit Sprechstimme, die aber voll und rund und wohltönend, mit dem Tenor Martin Koch gepaart. Dessen Stimme intoniert einen unmissverständlichen stählernen Klang, den gern Demagogen in Szene setzen.
Nun begibt sich Moses in die 40-tägige Einsamkeit auf dem Berg Sinai, wo er das ethische Konstrukt der 10 Gebote in nahezu psychotischem Wahn „gebiert“. In einer Performance, wie sie seit Dada-Zeiten und insbesondere in den 1970ern sehr en vogue waren, holt er im wahrsten Sinne des Wortes alles aus sich heraus, während er sich gleichzeitig die Produkte, die 10 Elemente des mosaischen Moralkompasses, einverleibt. TOTAL entsteht auf der Leinwand seines kreativen Schubs, wo zunächst mit einem Α und Ω als Anfang und Ende unseres Sprachvermögens erscheinen. Eine 25-minütige Sequenz der Aktionskunst lang tobt er sich in seinem Kasten (seiner Zelle, seiner Eremitage?) aus, zertrümmert Inventar, zelebriert Bodypainting auf seinem nackten Körper, kreiert einen eigenen Soundtrack zu seinem Schaffensprozess. Das knallt und poltert, das prasselt und dröhnt, zusätzlich zu den expressiv-ekstatischen Klängen aus dem Graben.
Denn … die leidenschaftliche Entrücktheit der kultischen Handlungen bleiben ungesehen, aber nicht ungeschehen. Während Moses‘ Abwesenheit war das Volk von Zweifel und Ungeduld geplagt. Seit der Antike wird es dann mit enthemmten Festen befriedigt. Hier sammelt Aron das Gold der Frauen ein und schafft so ein symbolisches goldenes Kalb, das die Menschen anbeten, um anschließend zu vergewaltigen und zu morden. Aron entgleitet das Geschehen, denn er ist eben keine moralische Instanz, sondern nur das Sprachrohr des reflektierten, wirklich gläubigen Moses.
Anstatt wie im Alten Testament die Gesetzestafeln zu zertrümmern angesichts der Leichenberge nach dem Massaker, rammt sich Moses ein Messer in den Leib. Bergen-Belsen, Gaza, Israel, alle Kriegsschauplätze und Krisengebiete sind plötzlich präsent. Und die Frage nach dem einen Gott, der all‘ das Leid zulässt, steht unausgesprochen im Raum. Ein verstörendes, pessimistisches Weltbild präsentiert diese Inszenierung, die eigentlich auch ein Stück über das Theater selbst auf die Bühne bringt.
Der Regisseur schöpft dabei offensichtlich aus seiner eigenen Freude am Spiel mit Epochen und Stilen. So stattet er die beiden lebendigen Puppen im Kasten des Kasperletheaters mit allen diskriminierenden Stigmata der europäischen Juden aus. Sie tragen Masken mit den stereotypischen Merkmalen: Bart und Schläfenlocken sowie Teufelshörner. Auf dem Kopf sitzt der mittelalterliche Judenhut, der spitz zuläuft und oben einen Knauf hat, weite Umhänge und gelbe Handschuhe mit Glöckchen markieren die Zugehörigkeit zum Judentum.
Szene für Szene wandelt sich die Bühne. Der intime Rahmen des Kasperletheaters macht Platz für die Guckkastenbühne des Barock. In Fisheye Optik mit naiver Pastoralstaffage (Schafe!) führt er das Publikum in die Wüste Sinai, die aber eher verlockend als lebensfeindlich erscheint. Dann geht es in einen bürgerlichen Salon, in dem das Volk in der Mode des Fin de siècle auftritt, alle in Schwarz. Vor den mehr als 70 Sängerinnen und Sängern entwickelt sich mit einer Videoprojektion eine fantastische Spiegelung der Seelenzustände: die leibhaftig präsenten Menschen im Film gespiegelt mit ihren tiefsten Ängsten (die Schlange!) im Stil des Films Nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau (1922). Selten hat ein eingespielter Film auf der zarten Gaze so erhellend für das Verständnis einer kollektiven Gefühlslage gewirkt!
Am Ende die weißen Stühle, möglicherweise als Symbole für das Hissen einer weißen Fahne und damit dem Wunsch nach Frieden, übersät mit geschändeten Leichen. Der endgültige Auszug des Volkes Israel und ein sterbender Moses. Seine Mission ist gescheitert, sowie es Schönberg offensichtlich nicht gelungen ist, die beiden diametral entgegengesetzten Charaktere – oder besser Ideen – zu vereinen. Auch aus dieser schmerzlichen Erkenntnis heraus mag ihm, der zeitlebens antisemitischen Ressentiments ausgesetzt war, die Kraft für die Vollendung gefehlt haben.
Insgesamt fünf Jahre lang hat der Maestro del Coro in Bonn, Marco Medved, die Aufführung von Moses und Aron mit dem Chor des Theater Bonn, verstärkt durch das Vocalconsort Berlin, vorbereitet. Ein Riesenprojekt, das ganz im Rahmen und im Geiste der Reihe FOKUS|’33| in den Spielplan aufgenommen wurde. Verschüttete Werke und verfemte Komponisten sollen hier zu ihrem vollen Recht gelangen. Das ist mit Moses und Aron brillant gelungen. Wie ein Champion riss Marco Medved die Arme hoch, als das Publikum seine Chöre mit überwältigendem Applaus bedachte. Zu den sängerischen Leistungen auf der höchsten Qualitätsstufe in den unsäglich schwierigen Passagen von Schönbergs Zwölftonmusik kam die ausgesprochen sinnfälligen Choreografien der Massenszenen hinzu.
Den beiden Titelhelden, Dietrich Henschel und Martin Koch, brausten Begeisterungsstürme entgegen. Die Verzweiflung, der Rausch, die Angst, die Verantwortung, der Zweifel, die Reue, die Kraft – das gestalteten beide sängerisch und in melodischem Sprachrhythmus, vor allem auch darstellerisch einfach fabelhaft. Grandioses Zusammenspiel, tolle Textverständlichkeit, überzeugend vom Gangbild über die Gestik.
Und wer bisher bei Zwölftonmusik abwinkte, den belehrte die musikalische Interpretation aus dem Graben eines Besseren. Der Bonner Generalmusikdirektor Dirk Kaftan führte das Beethoven Orchester souverän durch die Herausforderungen der Partitur und gestaltete so eine stimmige „Harmonie“ zwischen Bühnengeschehen und Musik. Dabei wirkte gerade die Performance der verstörenden Szenen auch in ihrer Länge als Einladung zur multiperspektivischen Reflexion auf zahlreichen Ebenen: zum Denken UND Handeln.
Fazit: Ein once-in-a-lifetime Opern Event. Großartig gespielt, gesungen, gesprochen und choreografiert.
Die Oper Bonn spielt Moses und Aron noch fünf Mal bis zum 13. Januar 2024. Infos und Tickets finden Sie hier.
Ach „Moses und Aaron“ – schon lange nicht mehr gesehen, was für ein tolles Stück, hat mir immer sehr gut gefallen, läuft irgendwie nirgends mehr. Schade….. herzlichst! A.
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Lieber Adrian, für mich war es das „erste Mal“. Aber die Oper hat mich gleich in ihren Bann gezogen. Ich schaue es mir hier unbedingt nochmal an.
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Wieder hast Du präzise und anschaulich zugleich dieses „sperrige“ Werk beschrieben, liebe Mechthild.
Bin sehr froh drüber, daß nur das sogenannte Fragment aufgeführt wurde…ich empfinde es als sehr stimmig…
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Ja, liebe Susanne, die Bilderflut, die expressive Musik und die grandiose Darstellung waren schon ein besonderes Ereignis. Und auch ich bin froh, dass die Regie uns mit dem eigentlichen Massaker verschont hat. Weniger Blut, aber mehr Gedankentiefe!
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