Ein seliges Happy End in bombastischer Strauss-Musik! Wie im Vorjahr mit Les Troyens eröffnet die Oper Köln die neue Spielzeit mit einem Stück, das eigentlich als unspielbar gilt, Die Frau ohne Schatten von Richard Strauss. Reine Spielzeit knapp dreieinhalb Stunden, allerhöchste Ansprüche an Sängerinnen und Sänger, den Chor und das gesamte Orchester. Darüber hinaus eine hochkomplexe Handlung, die eine enorme Herausforderung für Regie, Bühne, Dirigat und Licht bildet. Soviel vorweg: Alle Beteiligten durchdringen Musik und Text bis in die feinsten Nuancen und begeistern das Premierenpublikum. Standing Ovations!
Richard Strauss und sein kongenialer Librettist Hugo von Hofmannsthal widmeten sich während des ersten großen Umbruchs des 20. Jahrhunderts gemeinsam der Komposition und Dichtung der Oper Die Frau ohne Schatten, von ersten Ideen 1911 bis zur Uraufführung im Oktober 1919 an der Wiener Staatsoper. Nach den expressiven Werken Salome und Elektra schwebte Strauss etwas Romantisches vor, eine mystisch-märchenhafte Geschichte, zu dem von Hofmannsthal ein Drama auf drei Ebenen dichtete. Die Sprache ist poetisch überhöht, mit zahlreichen Anleihen bei wagnerschen Alliterationen, Zaubersprüchen, voller Sprachbilder, gut musikalisch und szenisch umzusetzen.
Wie schon bei Mozart in der Zauberflöte finden sich ein hohes und ein niederes Paar und eine höhere Macht auf verschlungene Weise miteinander verknüpft. Der Kaiser herrscht über ein nicht näher bezeichnetes Reich – der Musik nach allerdings, die ihn begleitet, muss es im Orient, bei den Geschichten aus tausendundeiner Nacht liegen. Sein über alles geliebter Falke mit dem prägnanten Klangmuster von Piccolo, Flöte und Oboe führt ihn auf der Jagd zu einer weißen Gazelle, die sich als schöne junge Frau entpuppt. Diese märchenhafte Verwandlung ist ein Charakteristikum der Frau, die er dann heiratet. Die Kaiserin ist ein kristallines Geschöpf, halb höheres Wesen als Tochter ihres gottgleichen, richtenden Vaters Keikobad, einer Figur aus der persischen Mythologie, und halb Mensch durch ihre Mutter.

© Matthias Jung
Am anderen Ende der Skala haust ein Färber-Ehepaar mit den drei behinderten Brüdern des Mannes, dem Einarmigen, dem Buckligen, dem Blinden. Das stinkende, ekelerregende Färberhandwerk übt der gutmütige, fleißige Barak aus – der einzige, der außer dem nicht anwesenden Vater der Kaiserin mit Namen (dem eines biblischen Heerführers) bezeichnet wird. „Skala“ ist hier wörtlich zu nehmen. Bühnenbildner Johannes Leiacker ist ein Meister der sinnfälligen Reduktion. Seiner Vorliebe für weiße Flächen setzt er in Die Frau ohne Schatten auf der Kölner Breitbandbühne in eine riesige, raumfüllende Treppe um, deren höchste Stufe ein naturalistischer Felsblock krönt. Diese Terrassen bieten die Video-Projektionsfläche für Wasserkaskaden, Gewitter, Steinlawinen und ein riesiges Spinnennetz. Vor allem aber dienen sie der maximalen Fallhöhe zwischen Herrscherin und Proletariat; sie verbinden zwei Welten, deren Distanz realistisch unüberwindbar ist – außer im Märchen! Auch dort zieht der Prinz aus, um unter den Mägden seine Liebste zu finden.
Warum nun wagt die makellose, liebreizende Kaiserin (geschlüpft aus der weißen Gazelle) den Abstieg in eine Welt voller Armut, Schmutz, Enge und Gestank? Als fluides Wesen verfügt sie über keinen Schatten, der in dieser Dichtung von Hugo von Hofmannsthal Weiblichkeit, Fruchtbarkeit, Gebären und Mutterschaft, kurz Menschsein bedeutet. Ein Fluch lastet auf ihr: Wenn es ihr in zwölf Monaten trotz allnächtlicher Zusammenkunft mit dem Kaiser nicht gelingt, schwanger zu werden, also einen Schatten zu werfen, versteinert der geliebte Gatte. Es wäre sein Todesurteil.
Hier kommt die Amme der Kaiserin ins Spiel, für deren Figur sich der Dichter Hugo von Hofmannsthal sich bei Adelbert von Chamisso und Johann Wolfgang von Goethe bedient hat. Der Pakt mit dem Teufel, den eigenen Schatten, nämlich die Seele, für viel Geld zu verkaufen, steht im Mittelpunkt von Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Der Einflüsterer Mephistopheles verspricht dem lebensmüden Gelehrten Dr. Faustus für seine Seele ewige Jugend, sexuelle Ausschweifungen und unerhörte Abenteuer.

© Matthias Jung
Die Amme begleitet die Kaiserin auf allen Wegen und fädelt nun den Deal mit der hadernden Färberin ein: Schatten gegen ein aufregendes, lustvolles Leben. Womit sie nicht rechnet – die Kaiserin entdeckt ihre Menschlichkeit. Wie Jesus wäscht sie Barak die Füße. Sie fühlt plötzlich wahres Mitgefühl und Scham und will den Schatten schließlich nicht.
Die Kaiserin steht in einem entsetzlichen Dilemma: Mit ihrer Handlungsweise wird sie entweder für die Versteinerung des Kaisers oder für ein entseeltes und damit verfluchtes Dasein der Färberin verantwortlich. Die beiden Männer – Barak und der Kaiser – entwickeln sich parallel. Grenzenlose Wut und Enttäuschung führen zu mörderischen Absichten, ein bereuendes Entgegenkommen der Frauen veranlassen sie zum Einlenken und Vergeben. Empathie, Verantwortungsgefühl und Verständnis füreinander lassen alle vier Protagonisten reifen und lieben. Nur die Amme wird als bösartige Intriganten für immer verjagt.
Wie setzt nun die Regisseurin Katharina Thoma dieses fein verästelte, bisweilen kapriziöse Kunstmärchen dramatisch-szenisch um? Sie folgt den bei Hofmannsthal oft sehr präzisen Anweisungen des Librettos und erzählt die Geschichte so prägnant und bildmächtig, dass sie selbst dann einigermaßen verständlich wird, wenn das Publikum sich nicht vorher mit dem Stoff vertraut gemacht hat. Das große Thema der Frau ohne Schatten bildet der Ethos der Humanitas, der respektvollen Mitmenschlichkeit. Dies greift sie interpretatorisch auf, wenn sie Altkleider oder Lumpen en masse auf die Treppenstufen werfen lässt. Das bring einerseits Farbe ins Spiel und andererseits eine bildhafte Umsetzung der zahlreichen sinfonischen Elemente während der „Verwandlungen“. Wie mit Kameraschwenks leitet die Musik von einem Schauplatz zum anderen. Das große, fast 100 Instrumentalisten starke Gürzenich Orchester läuft dann zu überwältigender Strauss’scher Opulenz auf. Was Katharina Thoma damit aber verdeutlicht: Wir allen leben in einer Welt des Oben und Unten. In den armen Ländern des globalen Südostens werden unter menschenverachtenden Umständen Klamotten produziert, die der globale Westen billig konsumiert. Nach kurzer Zeit geht die ganze Ladung retour, als Wohlstandsmüll, der den Armen als Almosen zugeworfen wird.
Zwei weitere großen Themen der gegenwärtigen weltweiten Ungerechtigkeiten macht sie greifbar – die großen Flüchtlingsströme, insbesondere das Leid der Kinder, und die Reaktanz der westlichen Länder. Und schließlich zeigt sie deutlich, dass „das Wasser des Lebens“ keine märchenhafte Formulierung darstellt, sondern die Notwendigkeit, diese wichtigste Ressource weltweit gerecht zu verteilen und zugänglich zu machen. Dieses Einweben von aktuellen Bezügen macht Katharina Thoma nicht plakativ, sondern klug und subtil, ohne rührselig um Mitleid zu buhlen. Vierzig, fünfzig Kinder auf der Bühne (die Ungeborenen) aus Chor und Statisterie bringen ordentlich Leben in die Bude. In ihnen liegt die Hoffnung und die Zukunft.
Der hochgradig Strauss-affine Dirigent Marc Albrecht nimmt in dieser Inszenierung von Die Frau ohne Schatten eine wahre Mittlerrolle ein. Er leitet das Orchester quasi im Scheitelpunkt eines spitzwinkligen Rechtecks, von wo aus er gleichzeitig ganz nah bei den Sängerinnen und Sängern ist. Eine außergewöhnliche Anordnung, wie sie nur die Räumlichkeiten des Staatenhauses ermöglicht. Albrecht gestaltet Strauss‘ Musik als ein frisches Konglomerat aus allen Strömungen der Zeit. Es fließen romantische Elemente mit stampfenden Rhythmen der einsetzenden Motorisierung zusammen, das einsame Herrscher-Cello (Ulrike Schäfer) begleitet die Seelennöte des Kaisers, die Bass-Tuba gleich zu Beginn kündigt die Abgründe an, ein Fagott beklagt den Tod eines Geflüchteten, eine Sologeige (Torsten Janicke) spielt zum Verdikt des Auge Gottes und nach einer Generalpause verzaubert die Glasharmonika (Philipp Marguerre). Eine Komposition, die farbenreich Geschichte und Gefühle erzählt, bildet in ihrer Vielfalt und der überbordenden Instrumentierung die Musik dieses großartigen Werks. Ein ganz besonderes Verdienst des Dirigenten? Bei aller instrumentalen Fülle dämpfte er das Orchester so weit, dass alle Stimmen gut zur Geltung kommen konnten. Bravo!
Neben dem Musikgenuss bereitete das Kölner Team dem Publikum auch eine hochästhetisierte Dramaturgie und Choreografie, unterstützt durch zunächst monochromatischen Kostüme. Der Kaiser in grau (umso besser konnten Licht und Video ihn dann versteinern lassen), der Falke in Feuerrot, die Amme in Schwarz, der Bote in engelsgleichem Beige, die Kaiserin zunächst im kindlichen Blümchenkleid, das Färberpaar in Arbeitsklamotten und die drei Brüder in ballonseidenen Trainingsanzügen, dem vor 30 Jahren billigen Outfit des Prekariats. Die Untoten und der Chor erscheinen in hellem Grau oder aber in strahlendem Weiß, im Schlussbild ein himmlischer Monoblock. Video (Georg Lendorff) und Licht (Nicol Hungsberg) gestalten Traum-Effekte, vom Goldglitter bis zum grauen Versteinern des Kaisers, wunderschön und gut dosiert eingesetzt.
Anspruchsvolle Partien prägen diese Oper von Richard Strauss wie allen anderen auch! Der Chor, einstudiert von Rustam Samedov, brilliert in kleinen und größeren Formationen auf und hinter der Bühne. Knaben und Mädchen der Kölner Dommusik glänzen durch ihre hellen Kindersoprane und setzen durch ihr perfektes Können Highlights. Der ambiguose Titel der Oper lässt zwei Deutungen zu. Wer ist die Frau ohne Schatten? Die Kaiserin, die ihn dringend für das Weiterleben ihres Mannes benötigt, oder die Färberin, die ihren Schatten schon quasi für die Verlockungen eines schönen Lebens verkauft hat? Lise Lindström, die schwedisch-amerikanische dramatische Sopranistin, hat die Färberin bereits seit acht Jahren in ihrem Repertoire. Sie verleiht ihrer Figur eine feministische Wendung, kraft ihrer Stimme und ihres Spiels. Indem sie sich von ihrem Mann emanzipiert, kann sie erst ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und äußern. Sehr intensiv und überzeugend dargeboten!

© Matthias Jung
Die Kaiserin verkörpert Daniela Köhler, ebenfalls dramatischer Sopran. Sie entfaltet ihre Stimme erst voll in den Schlussszenen, wo auch die Figur ganz und rund wird. Vom vaterhörigen und ehemannabhängigen Mädchen wird sie – vor allem stimmlich und gesanglich – zur selbstbewussten, liebenden Frau. Ihr zur Seite die Amme, die ihre eigene Agenda verfolgt. Irmgard Vilsmaier bestreitet ihr Rollendebut (wie außer Lise Lindström auch alle anderen) mit der gesanglichen Kraft einer Macherin, mit ständigem Wechsel zwischen Kopf- und Bruststimme. Ein dramatischer Mezzo-Sopran, wie die Rolle ihn verlangt. Jordan Shanahan gibt den Barak. Sein Bass-Bariton drückt authentisch sowohl seine Gutmütigkeit, seine Hilfsbereitschaft, aber auch seine Unbedarftheit aus. Sein Leid ertönt ohne jegliche Larmoyanz. Sehr überzeugend. Imposant als Bote der Bass-Bariton Karl-Heinz Lehner, in seinem Kostüm nicht zu erkennen, wohl aber an seiner volltönenden Stimme. Giulia Montanara singt und spielt (!) den zarten Falken mit ihrem jungen, frischen Sopran, dem gleichsam Flügel wachsen. Für das aktuelle Barbie-Fieber sorgt der Jüngling, der nach Märchenart dreimal verführerisch in Pailletten-Briefs und oben ohne erscheint. Ken ist an Bord, wenn der sexy Tenor von Bryan Lopez Gonzalez erklingt. Hierarchisch und stimmlich thront über allen der Kaiser, den AJ Glueckert mit wunderbar imperialen Tenor gestaltet.
Fazit: Ein grandioser Opernabend, an dem alle Künstlerinnen und Künstler gemeinsam eine faszinierende Facette des Opern-Oeuvres von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal darboten. Es stimmte einfach alles und selten bin ich so glücklich aus einer Vorstellung nach Hause gefahren.
Die Oper Köln spielt Die Frau ohne Schatten noch sechsmal bis zum 11. Oktober 2023. Informationen und Karten gibt es hier.
Anschaulich und informativ zugleich – wie immer brillant geschrieben, liebe Mechthild…Sei bedankt von Susanne Gundelach
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[…] und romantischer Liebe ihre Heimat haben. Große Oper eben! Katharina Thoma, die im Vorjahr mit Die Frau ohne Schatten von Richard Strauss das Kölner Publikum begeisterte, inszeniert diese […]
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[…] P.S. Wer sich mit dem Inhalt der Originalversion vertraut machen möchte, findet meine Besprechung der Kölner Inszenierung von 2023 hier. […]
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