LA CENERENTOLA – Liebe auf den ersten Blick

Respekt, Liebe und Güte – die Trias der klassischen romcom, der romantic comedy. Pretty Woman lässt grüßen. Da zieht ein hübscher Prinz übers Land, um im Nullkommanix eine passende Frau zu finden. Dann schlägt die Liebe ein wie ein Blitz. Und im Märchen wie in der romantischen Komödie lösen sich alle Widrigkeiten und Verwicklungen auf – sie kriegen sich. Wenn dazu die berauschend spritzige Musik von Gioacchino Rossini in seinem Dramma giocoso La Cenerentola erklingt, darf man sich im Staatenhaus auf einen fulminanten Abend in der Oper Köln freuen.

Vor gut 200 Jahren feierte La Cenerentola ossia la bontà in trionfo (Das Aschenputtel oder der Triumph der Güte) seine Uraufführung in Rom. Der Märchenstoff war in ganz Europa bekannt und Jacopo Ferretti gestaltete über Nacht daraus ein bezauberndes Libretto – so wird es kolportiert. Gesichert ist, dass Rossini mit ihm gemeinsam in Rekordzeit diese Oper verfasste, die sich zu einem echten Repertoire Renner entwickelte. Die rasante Ouvertüre stammt aus einem Stück, das floppte, das charakteristische Auf- und Abschwellen im Crescendo-Decrescendo drückt der Oper ihr Markenzeichen auf. Das Höher, Schneller, Toller zieht sich temperamentvoll durch das ganze Stück.

Die Zutaten zu diesem Meisterstück der italienischen Oper des frühen 19. Jahrhunderts: Da schuftet Angelina, eine der drei Töchter von Don Magnifico, wie eine Magd im Haus ihres Vaters, während sich die beiden Schwestern Clorinda und Tisbe wie verwöhnte Gören auf Outfit, Nagellack und perfekte Locken kaprizieren. Don Magnifico – nomen est omen – fühlt sich zu Großem berufen, träumt aber, er sei ein Esel. Tja, Selbst- versus Fremdwahrnehmung. Er steckt in finanziellen Kalamitäten; da kommen ihm die Heiratspläne des Don Ramiro gerade recht. Eins der beiden zickigen Girls wird das Rennen schon machen! Er selbst führt sein böses Regiment im Haus als großmäuliger, versoffener Depp, der sogar die Existenz der dritten Tochter leugnet.

Prinz sucht Frau – dazu haben sich Don Ramiro und sein Diener Dandini eine Posse ausgedacht. Beide tauschen die Kleider, damit das Herz sprechen wird und nicht die Aussicht auf eine exzellente Partie. Dandini genießt den Rollentausch, den er später sehr kleinlaut rückgängig macht. Aber bis dahin nimmt tatsächlich das Schicksal seinen Lauf. Angelina, der Engel, taucht auf dem Ball des Prinzen auf und blendet alle mit ihrer Schönheit und ihrem Liebreiz. Bei ihrem Anblick fällt der gesamte Herrenchor mit einem schmachtenden Seufzer in Ohnmacht – sehr hübsch gemacht! Im Märchen der Gebrüder Grimm begibt sich der Prinz nun nach der Ballnacht auf die Suche nach dieser märchenhaft liebreizenden Erscheinung und – wir wenden uns mit Grausen ab. Die beiden gehässigen Schwestern hacken sich Ferse und Zehen ab, um in das entzückende Pantöffelchen zu passen. Die beiden Italiener, weitaus weniger blutrünstig, statten Angelina mit zwei Armbändern aus. Eins davon schenkt sie Don Ramiro zum Abschied: Wer das Pendant trägt, ist die echte Braut.

Die programmatische Güte triumphiert. Don Magnifico und die zänkischen Töchter erwarten zerknirscht die gerechte Strafe für ihre Bosheiten, aber Angelina vergibt ihnen. Für das Konzept des großmütigen Ethos steht Alidoro. Im Original fungiert er als der Prinzenerzieher, der dem jungen Herrscher nicht nur die Kunst der Staatsführung vermittelt, sondern ein aufgeklärtes Konzept von Würde und Anstand, Respekt und Güte mit auf den Weg gibt. Diese Figur verfremdet die Regisseurin Cecilia Ligorio. Ihr Alidoro ist ein New Yorker Schriftsteller im Art Deco Ambiente, der sich kettenrauchend in einer Schaffenskrise befindet. Schließlich hat er den zündenden Gedanken, das Aschenputtel Märchen in die Zeit der roaring twenties zu verlegen. Wie ein allwissender Erzähler ist er omnipräsent, Angelina sinkt ihm am Ende dankbar in die Arme. Schließlich hat er das Wunder, diesen kometenhaften Aufstieg von der Magd zur royalen Herrscherin, herbeigeführt.

Ligorio inszeniert zum ersten Mal an einer deutschen Bühne und überzeugt mit vielen witzigen Details, die das Publikum mit spontanen Lachern kommentiert. Das Konzept des Dichters mit der Schreibblockade genauso wie die Transposition des Geschehens ins New York der 20-er Jahre zünden. Art Deco auf der Tapete und der Krawatte, der kristallene Whiskey Tumbler sowie das gesteppte Ledersofa legen den Schauplatz um 100 Jahre zurück, die Typografie für das Tanzlokal/den Prinzenpalast PALACE genauso zeitgemäß wie das Lichtdesign. Dann macht sie unbekümmert Anleihen aus den Romanzen der 50-er Jahre, großen Revuen und kleinen Tanzszenen, die die Diva in die Arme aller jungen Männer schweben lässt – mit nahezu akrobatischen Hebefiguren. In diese Zeit passen auch die Donnerfrisuren von Tisbe und Clorinda: wie seinerzeit Marilyn Monroe und Jane Russell als die ewig konkurrierenden Sexsymbole in blond und brünett.

Eine sehr glückliche Hand hat bewiesen, wer den Cast für diese Produktion zusammengestellte. International sowieso: Die Sängerinnen und Sänger stammen aus Kolumbien, Österreich, den USA, Italien und Deutschland. Die Stimmen harmonieren vorzüglich, ob im Duett, im Quintett oder den beiden wunderbaren Septetten. In La Cenerentola bildet ein knapp 30 Mann starker Herrenchor Don Ramiros Höflinge. Rustam Samedov hat die Sänger wie immer wunderbar vorbereitet: klar akzentuiert und beweglich in jeder Hinsicht. Das Ensemble ergänzen sechs Tänzer (Giovanni Buttacavoli, Leon di Domenico, César José Gutiérrez Salas, Spyros Ntogas, Kyle Patrick, Álex Vasquez Gala), die in verschiedene Rollen schlüpfen: als Alidoros Alter egos, als Angelinas Begleitgruppe zum Ball, als visuelle Schmankerl während des Zwischenspiels oder als stumme Kommentatoren der Ereignisse. Die Idee, wie im antiken Drama das Geschehen zu spiegeln, ist nicht neu, aber hier besonders schön anzusehen.

Drei Bässe weist die Oper auf, Dandini, Alidoro und Don Magnifico, Barone di Montefiasco. Letzterer ein Buffo-Bass par excellence. Allein der Name! Der Großartige, Baron vom Flaschenberg und auch Baron vom Reinfall. Omar Montanari gibt diese Partie mit ungeheurem Spielwitz, mit herrlichem Gesang und versöhnlichem Charme. Wer kann so einem selbstverliebten Narren wohl lange böse sein? Wolfgang Stefan Schwaiger, den das Kölner Publikum bereits als Barbiere feierte, glänzt mit Basskoloraturen und augenzwinkerndem Charme. Einmal Prinz sein … für Kölner ja ein geflügeltes Wort! Als seriöser Bass ergänzt Christoph Seidl, ebenfalls Ensemble-Mitglied der Oper Köln, die drei tiefen Lagen. Distanziert vom Geschehen behält er immer den Überblick und haut bei den richtigen Eingebungen kräftig in die Tasten seiner mechanischen Schreibmaschine. Natürlich im Takt der Musik. Als Künstler hat er für den sich entfaltenden Irrsinn die passende Metapher als Titel seiner Arie: „Il mondo è un gran teatro“ (Die Welt ist ein großes Theater) parat und als Philosoph, der deutlich für die Humanitas plädiert, mit „La del ciel nell’arcano profondo“ (Jenseits des Himmels, im tiefsten Arkanen). Von Stimme und Ausstrahlung genau die Figur, der Angelina gleich zu Beginn die ihr ureigene carità angedeihen ließ. Als Bettler versorgte sie ihn mit einem Frühstück, während ihre Schwestern gehässig über den schmutzigen Kerl lästerten.

Bei den grässlichen Schwestern paart Rossini einen leichten Koloratursopran mit einer expressiven Mezzosopranistin. Jennifer Zein als Clorinda verfügt über die schnippische Leichtigkeit und das kapriziöse Tänzeln. Charlotte Quadt erfreute in der vorigen Spielzeit bereits das Bonner Publikum als Tisbe mit ihrem komödiantischen Talent. Ihr feiner, tiefer Mezzosopran oszilliert zwischen gehässiger Schärfe und einschmeichelndem Timbre. Bravissime le due!

Das Traumpaar geben Adriana Bastidas-Gamboa und ihr kolumbianischer Landsmann Pablo Martinez. Ob das perfekte Zusammenspiel der selben Herkunft geschuldet ist? Dem Tenor hört (und sieht) man an, dass er bei Juan Diego Flórez Meisterkurse belegt hat. Fein prononciert, absolut sicher in den Höhen, eine strahlende Erscheinung, die mit der Parade-Arie „Si, ritrovarla, io giuro“ (Ja, Ich finde sie wieder, ich schwöre.) Begeisterung und großen Zwischenapplaus hervorruft.

Eine Ausnahmekünstlerin ist die Mezzosopranistin Adriana Bastidas-Gamboa. Ob als Carmen im combat suit, als Rosina im Rokkoko-Kleid, als Miranda im schlichten Schwarzen oder jetzt als Cenerentola in großer Oscar-Verleihung-Abendrobe – sie verfügt darstellerisch und sängerisch über eine enorme Bandbreite. Ihren ersten Auftritt bereitet ein großer Orchesterakkord vor, dem dann ihre betörend schöne Stimme nicht mit der Auftrittsarie, nein mit einem einfachen Lied, am Ofen zu singen, folgt. Die Canzone „Una volta c’era un re …“ (Es war einmal ein König) erzählt prospektiv ihre eigene dann folgende Geschichte. Nichts bereitet das Publikum darauf vor, wie sie in ihrer letzten großen Arie ihre Stimme höher und höher schraubt, ihre Koloraturen ins schier Unermessliche wachsen. Dieses Volumen und den langen Atem nach drei Stunden so leicht und scheinbar mühelos zur Verfügung zu haben – ganz großes Können, ganz große Kunst. Die letzten Töne lösen sich dann ganz entspannt wie von selbst – bravissima Adriana.

Matteo Beltrami am Pult gestaltet die Musik als Spiegelbild der Cenerentola-Welt von bescheiden-fein zu großartig-überschäumend. In der Ouvertüre lässt er das Gürzenich Orchester nur andeuten, zu welch bombastischen Crescendi die Oper noch aufsteigen wird. Er nimmt die Musikerinnen und Musiker so weit zurück, dass das Sängerensemble auf der dahinterliegenden Bühne auch die Piano-Passagen stimmlich gut gestalten kann. Fein ergänzt Theresia Renelt am Hammerflügel das Orchester. Sie begleitet die Rezitative, improvisiert aber hier und da auch mit Partitur-Elementen im Stil von Swing und Jazz. Nice!

Fazit: Das Aschenputtel all’italiana berauscht mit Musik, Gesang und Tanz. Die Rahmenerzählung fügt einen nostalgischen Flash back in den 20-er und 50-er Jahre American way of life hinzu, inklusive Gangstermilieu, halbseidene Gesellschaft und Paparazzi. Perlend präsentiert, eine sprühende Neu-Erfindung des jahrhundertealten Märchens vom Schicksal, das sich wendet.

Die Oper Köln spielt La cenerentola noch zehn Mal bis zum 8. Januar 2023. Infos und Karten hier.

2 comments

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  1. Joe Knipp

    Recht so. Hinreißend, in der Tat. Und witzig. Wie Sprache hier durch Musik und Gesang noch zusätzlich geschärft wird – Koloraturen, überirdisch, fast in eine Art Dadaismus führend. Faszinierend.

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