Sphärenklänge der Streicher umwabern entferntes Sprechen. Eine tiefe Frauenstimme murmelt Worte oder Sätze, dazu flüstert eine Männerstimme Unverständliches. Pizzicati der Geigen akzentuieren die Textfragemente. Sirenenklänge der beiden Violinen und Celli begleiten dialogisch-reflektierend die Arbeit der Mönchsgestalt. Dunkle Worte steigen aus dem Arbeitszimmer auf, in dem quasi-naturwissenschaftliche Experimente bei ständigem Strömen von Wasserdampf auf dem Aktionsplan stehen. Ein Alchimistenlabor und darin ein Gelehrter, der an einem enzyklopädischen Kompendium zur Erklärung der Natur arbeitet. Die Bücher allerdings stehen alle mit den Rücken zur Wand, die aufgefächerten Blätter blicken in den Raum. Ein iPhone, im Ringlicht gefangen, spiegelt den work in progress. Hier entsteht das Wissen der Welt – eines Intellektuellen, Instagrammers, Influencers?
Den Titel Speculum Maius gab Vincent de Beauvais, Benediktinermönch, Naturforscher und Gelehrter am Hofe Ludwigs IX, der von ihm verfassten ersten systematischen Erfassung der Natur und ihrer Entstehung, dem Abbild im „Großen Spiegel“. Ab 1244 und in den Folgejahren schrieb er drei Handbücher. Auf dieses lateinische Werk griffen nun die Komponistin Wen Liu, der Regisseur Martin Butler und der Dramaturg Benedikt Holtbernd zurück und nutzten es als Grundlage für ihr Abbild unserer dystopisch-orientierungslosen Gegenwart. Was als sicher galt, steht heute in Frage, wo der Mensch seinen Platz auf der Welt hatte, wirken nun fremde Kräfte auf ihn ein.

In Bonn feierte die erste Oper in EXtended Reality, kurz XR, ihre Weltpremiere. Gewohnte Pfade zu verlassen hieß für das Kreativteam auch, den traditionellen Raum der Oper gegen den amphiteatrischen Vortragssaal des Kunstmuseums zu tauschen. Hier ließen sich die Premierengäste, alle mit iPads ausgerüstet, auf den Sitzreihen nieder, umrahmt von allen sich gegenseitig akustisch und optisch spiegelnden Akteuren im Geschehen. Das Soundkonzept sah die Technik im Hintergrund vor, davor platzierte es die beiden Sängerinnen Ava Gesell (Sopran) und Ingrid Bartz (Mezzosopran) und, durch den Mittelgang getrennt, den Bariton Mark Morouse und den Tenor Johannes Mertes. Viel weiter auseinander breiteten die beiden Violinen (Ji Seon Seo und Elias Feldmann) und die beiden Celli (Elif Ünlüsoy und Merle Geißler) ihre Klangteppiche und -spitzen aus, indem sie wie im Echo verkürzte Antworten auf die Tonfolgen der anderen gaben. Stimmen und Instrumente mischten sich mit elektronischer Musik vom Band. Die Mönchsgestalt verkörperte die Tänzerin Maria Stamenković Herranz aus der Schule von Marina Abramović .
Wie sich das gestaltete, darauf hatten die Gäste phasenweise direkten Einfluss. Denn alles, was sie auf dem iPad unternahmen oder in welchem Tempo das geschah, bewirkte Variablen in der Musik. Alles, was man tat, hörte man auch.
Blumen auswählen*, Landschaften gestalten, Meeresbewohner anklicken und Erstaunliches über deren Art erfahren: Delfine bezeichnet man als Harfenisten der Meere und Wale tragen bei Sturm ihr Junges im Maul. Sie schnarchen, atmen wie durch eine Röhre und betören mit ihrem urtümlichen Gesang. Das Suchtpotenzial der bunten Spielewelt wird unmittelbar erfahrbar. Während das Publikum sich am Ausprobieren, an den Farben und Perspektiven der virtuellen Welten freut, arbeitet die Mönchsgestalt akribisch weiter. „Was dort ist, ist auch hier“, gibt sie als Erkenntnis aus – ihr Resümee einer Zeitspanne von 800 Jahren.

Unbeirrt schreitet sie auf ihrem Weg fort, auf den „infinite lines in time“. Gleichzeitig begibt sich unser Avatar auf einen Lauf durch die Naturelemente: Luft, Erde, Feuer, Wasser. Hier schließt sich der Kreis. Die Mönchsgestalt definierte damit am Anfang ihr Forschungsgebiet. Am Ende verschwindet der geisterhaft-rochenähnliche Avatar, unser Pendant in der Welt der animierten Spielwiese, und wir finden uns am Ursprung allen Lebens wieder, im Meer.
Knapp 50 Minuten dauert das Spektakel. Erleichterung und Freude auf den Gesichtern der Macher: Für die Technik mit iPads, App und Spieldesign zeichnete das K8 Institut für strategische Ästhetik aus Saarbrücken verantwortlich. Alexander Hackl lieferte mit Sounddesign und live Elektronik die perfekte Show. Großer Applaus für die Künstlerinnen und Künstler. Ein Blick in die Partitur ließ erahnen, welche Herausforderung gerade die Sängerinnen und Sänger meisterten. Einsame Töne bis zur schrillen Exaltation, Vierteltöne und außergewöhnliche Taktzahlen, dazu die digitale Musik über Kopfhörer im Ohr – selbst für erprobte und bewährte Opernprofis eine Tücke. Zum Glück entschied man sich im Verlauf der Proben, Pauli Jämsä mit dem Dirigat zu betrauen, das ursprünglich nicht vorgesehen war.
„It’s an experiment on many fronts“ (Es handelt sich um ein Experiment an verschiedenen Fronten), ließ der Regisseur Martin Butler noch am Tag der Premiere verlauten. Das Kriegsvokabular lässt vielleicht darauf schließen, dass die Faktorenkomplexion eines solch anspruchsvoll-experimentellen Projekts viele Unwägbarkeiten und ein mögliches Scheitern einbezieht. Wer Grenzen überschreitet, geht Risiken ein. Diese lagen weniger im musikalischen oder szenischen Bereich: Die Mitmach-Oper hat dem Premierenpublikum offensichtlich Spaß gemacht. Die Unschärfen und selbstkritischen Fragen liegen offensichtlich im Genre-Begriff. Braucht eine Oper eine stringente Handlung? Einen verständlichen Text, ein dialogisches Libretto? Eine Exposition, einen Konflikt, eine Lösung? Eine Kohärenz von Plot, Affekten, Musik und Gesang? Benötigt sie dramatis personae, die das Ganze tragen? Taugt eine anonyme, amorphe Masse als Protagonist? Der Vorhang zu und viele Fragen offen, frei nach Bertolt Brecht. Aber Chapeau für diesen ersten Aufschlag, über alle Grenzen des Repertoires hinwegzugehen und die Ideen von progressiven, digital-affinen Opernschaffenden zu bündeln und auf die Bühne zu bringen. Man darf gespannt sein, welches Bild von diesem Spiegelbild zurückgeworfen wird, welches Echo diese Bonner Inszenierung hervorruft.
Mit einer direkten Aufforderung verließen die Menschen das Event. Bitte nochmal den QR Code scannen und ein persönliches Feedback hinterlassen. Genau das geschah ungesteuert ganz analog über die Gleise der S-Bahn hinweg. Begeisterte Operngänger zeigten neben ihrem Respekt für die künstlerische Leistung ebenfalls die Ratlosigkeit in Hinblick auf das eigene Mitwirken. Sie hätten sich eine „Einweisung“ gewünscht, es ging ihnen zu schnell, sie fühlten sich überfordert. Vielleicht auch das ein Spiegel? In dieser rasanten Welt mit vielfältigsten Eindrücken und Anforderungen, wo die Menschen permanent einer Überdosis von Impulsen ausgesetzt sind, vermissen viele klare Ansagen. Überträgt man dieses Gefühl des lost in translation auf die Selbstreflexion, landet man konsequenterweise bei Kants Grundfragen der Philosophie: Was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen, was ist der Mensch?
XR Oper – Speculum Maius findet noch zweimal statt, am 10. und 11. Dezember 2022. Die Teilnahme ist kostenlos, aber eine Registrierung notwendig. Einfach hier die Kamera des Smartphones auf den QR-Code halten und zack, ist man drin.
