MIRANDA – Showdown in der Kirche

Ein Kirchenraum, ein Kammerspiel, die Kostüme thirty shades of black and grey. Naturalistisch im Hier und Jetzt die Vorbereitungen für eine feierliche Beerdigung mit weißen Lilien auf dem Sarg der Verstorbenen. Der graue Sichtbeton des Brutalismus als Rahmen für die sukzessive Entlarvung von Schuld und Verstrickung. So kehren die Figuren aus William Shakespeares letztem Drama The Tempest jetzt mit der Musik Henry Purcells auf die Opernbühne zurück. 2017 an der Pariser Opéra Comique uraufgeführt, begeistert Miranda nun in Köln zum ersten Mal an einer deutschen Oper das Publikum.

Rund 100 Jahren liegen zwischen den Werken des großen englischen Dramatikers des elisabethanischen Zeitalters und des Barockkomponisten. Purcell selbst nutzte die literarischen Vorlagen Shakespeares für seine semi-operas, die gesprochene Dialoge mit Arien und Chören, ähnlich wie in geistlichen Oratorien, verbinden. Diese Form entwickeln die Regisseurin Katie Mitchell, die Librettistin Cordelia Lynn sowie Raphaël Pichon und Miguel Henry im musikalischen Arrangement weiter. Ein Pasticcio von (fast ausschließlich) Purcell-Kompositionen entsteht; diese „Recycling-Methode“ war schon zu Purcells Zeiten üblich.

Üblich ebenfalls, bei Beerdigungen nur Gutes und Schönes über den oder die Verstorbene zu äußern. Auch hier: Mirandas Vater Prospero, ihr Ehemann Ferdinand und ihr Sohn Anthony erinnern sich voller Trauer an ihre Güte und Schönheit. Aber Ungemach deutet sich an mit gehörig Theaterdonner und ungebetenen Gästen, die die so hübsch arrangierte Trauerfeier stören und gehörig durcheinanderwirbeln. Eine Braut – unter weißem Schleier und hinter schwarzer Maske – erscheint und erhebt schwere Anklage. Missbraucht und vergewaltigt worden sei sie, ihre Heimat habe sie verloren, als Kind bereits verheiratet worden. Prospero, der eigentlich einem neuen Lebensglück mit Anna, seiner jungen schwangeren Frau, entgegenblickt, ist erschüttert. Vor der gesamten Gemeinde sieht man ihn im wahrsten Sinne des Wortes die Fassung verlieren, denn mit vorgehaltener Waffe zwingen Miranda und ihre Gang ihn, endlich zuzuhören und die Wahrheit zu akzeptieren. Am Ende stirbt er.

Die Oper handelt wenig bis gar nicht vom Leben der Verbannten auf der Insel, von den Geistern und dem guten Ende des Shakespeare-Dramas. Die Handlung hier begibt sich auf eine Reise in die dunklen Kammern der Vergangenheit, wo die Dämonen hausen. In pantomimisch choreografierten masques werden Traumata sichtbar, die Musik aus dem Graben dazu liefern die Celli, die traditionell für Einsamkeit und Leid stehen. Wie in einer psychotherapeutischen Familienaufstellung räumt Miranda mit den verlogenen Familiengeheimnissen auf, zieht sich am Ende den Mantel über, nimmt ihre Handtasche und geht. Ihr Werk ist getan.

Miranda ist von der Wortbedeutung aus dem Lateinischen die, die zu bewundern ist. In der Oper allerdings fordert sie ein, dass sie zunächst einmal gehört, dann verstanden wird. Ihr gebühren Respekt und Empathie, Liebe und Wärme. Feministische Forderungen? Eher allgemeinmenschliche, hier verkörpert von einer jungen Frau, die als einzigen Ausweg den Selbstmord wählt.

Das Werk erzeugt einen konzentrierten Sog, der sich in frenetischem Beifall löst, als Adriana Bastidas-Gamboa vor den Vorhang tritt. Makellose Barock-Koloraturen, starker Ausdruck, eindringliches Spiel, die Wärme ihres flexiblen Mezzosoprans und die bedrohliche Tiefe, die sie kontrastierend einsetzt, zeichnen die Performance dieser fantastischen Sängerin aus. Verletzlichkeit und Kraft schwingen in ihrer Stimme gleichermaßen wie Schmerz und Entschlossenheit. Ein stummes alter ego spielt die schrecklichen Erfahrungen der Vergangenheit, sie ragt als Braut in Weiß und als emanzipierte Frau am Ende immer aus der Menge heraus.

Adriana Bastidas-Gamboa, © Sandra then

Die Menge bildet hier die Trauergemeinde aus Chorsängerinnen und -sängern. Großartig, wie deren Gesang teils als antiker Chor kommentiert und als Familie und Freunde empathisch mitgeht. Auf der Bühne zu erleben die Chorleiterin Bang-In Jung, die gemeinsam mit dem Maestro del Coro Rustam Samedov diese Partien einstudiert hat. Sehr überzeugend Joseph Alfords Choreografie des Chors – wie die Damen und Herren gemeinsam schwanken, sich zusammenkauern, quasi aneinander festhalten und zack, auf die einsilbigen Kommandos von Mirandas Body guards „up“ oder „move“ wie ein homogener Körper die Stellung wechseln.

Einen fabelhaften Prospero gibt Alastair Miles: Sein Bass löst beim Zuhören und Zuschauen „Furcht und Mitleid“ aus, Verzweiflung und Hoffnung packt er in die Entwicklung seiner Figur. Emily Hindrichs als Anna, Ed Lyon als Ferdinand und John Heuzenroeder als Pfarrer präsentieren stimmlich und darstellerisch überzeugende Charaktere in diesem Familiendrama. Zu Herzen geht allerdings der feine Knabensopran von Jakob Geppert, der die Rolle von Mirandas und Ferdinands Sohn Anthony ausgezeichnet singt und spielt. Auch er leidet unter der groben Herrschaft seines Großvaters Prospero. Unweigerlich drängt sich der Vergleich mit den englischen Prinzen auf, als ihre Mutter Diana starb. Wie können Kinder funktionieren, wenn sie eigentlich in Trauer erstarrt sind? Wie entwickelt sich ihr weiteres Leben, nachdem der emotionale Anker ihres jungen Lebens in einer Holzkiste ausgestellt wird?

Der sakrale Raum und der barocke Chorgesang laden auf wunderbare Art und Weise zum meditativen Abgleiten in eine harmonische Welt ein, die möglicherweise (k)eine Erlösung bereithält. Über, hinter, unter, mit allem wirkt die grandiose Musik von Henry Purcell. George Petrou, der international renommierte Experte für Purcell, Händel & Co, dirigiert das Gürzenich Orchester in seiner Barock-Besetzung. Einfühlsam führt er die brillanten Einzelleistungen der Musikerinnen und Musiker zu einem außergewöhnlich schönen Klangbild zusammen: von den Königstrompeten für den aristokratischen Glanz zu zeittypischen Instrumenten für die dunkle Note. Ganz großartig interpretieren den die Theorbe (Sören Leupold), das Cembalo und die Truhenorgel (Fernando Aguado) sowie das kleine Barockcello (Ioannou Iason), das so unnachahmlich Seelenreisen abbildet.

Am Ende kann nur der Tod Prosperos Vergehen und Schuld begleichen; wie im Barock üblich nimmt sein „I die“ fast kein Ende. Aber Mirandas Schlusssentenz muss – anders als bei Shakespeare – zynisch wirken: „O brave new world, that has such people in’t.“ Die Ironie in Mirandas letzten Worten nutzte bereits Aldous Huxley als Titel für seinen dystopischen Roman von 1931 – diese Welt und ihre Menschen verkörpern eine beängstigende Zukunft.

Fazit: Mit Miranda gelingen 100 Minuten großes Opernglück, das sich unbedingt mitzuerleben lohnt.

Die Oper Köln spielt Miranda noch bis zum 22. Oktober 2022 insgesamt sechs Mal. Infos und Tickets gibt es hier.

Auf YouTube gibt es tatsächlich die gesamte Oper Miranda aus der Opéra Comique in Paris zu sehen – in exakt der gleichen Inszenierung wie in Köln. Zur Einstimmung hübsch anzuschauen, aber für das sinnliche Erlebnis mit anderen Menschen, mit live Musik und Gesang, lohnt sich der Besuch im Staatenhaus. Nix wie hin!

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