The Broken Circle – Singen als Antwort auf das Leben

Auf einem Autofriedhof, ganz hinten, wo die abgefahrenen Reifen liegen, führen Elise und Didier ihr alternatives Leben. Aus dem Bauernhof des ursprünglichen Dramas von Johan Heldenbergh und Mieke Dobbels ist eine trostlose graue Halde geworden, die mit den kahlen Bäumen eine Warten-auf-Godot Assoziation weckt. Simon Solberg hat für die Werkstatt des Theater Bonn The Broken Circle als ein emotional dichtes, schauspielerisch und sängerisch sensationelles Stück inszeniert.

Die intime Atmosphäre der kleinen städtischen Bonner Bühne bildet den idealen Rahmen für ein Seelendrama, das sich zwar zwischen zwei Personen abspielt, aber die ganze Welt beinhaltet. Worum geht’s? Didier und Elise verlieben sich ineinander. Er träumt von einem anarchisch-autarken Leben auf einer Farm, sie findet sich jäh mit einer ungewollten Schwangerschaft konfrontiert. Das Aus für das flippige Partyleben mit sex & drugs & … rock’n’roll. Die Verantwortung für das ungeborene Kind und Didiers (oder Monroes) Leidenschaft für Countrymusik, präziser Bluegrass, prägen nunmehr ihr Leben.

von links: Philip Breidenbach, Daniel Stock,
Julia Kathinka Philippi, © Thio Beu

Die schönsten, traurigsten, hoffnungsfrohsten Balladen begleiten die Achterbahnfahrt der Gefühle, die Monroe und Alabama (die Alias Namen der Protagonisten) hoch- und niederwerfen und emotional extrem durchrütteln. Die Leidenschaft ihrer Liebe, das Glück der Geburt, die Sorge um das kranke Kind, die Verzweiflung angesichts des Todes – Dialog, Spiel und Gesang bilden eine dicht und fein gewebte Einheit.

Oben auf der großen Bühne des Opernhauses spielt zeitgleich Verdis Don Carlo; dort stirbt es sich edel im royalen Ambiente. The Broken Circle spielt im Milieu der Außenseiter, der Tattoo-Studios und Pick-ups, der jungen Menschen, denen das Schicksal eine riesen Bürde auferlegt hat. It’s in the genes – nicht nur ein Songtitel im Stück, sondern das erdrückende Erbe von zwei Familien, die in prekären sozialen Verhältnissen leben. Alkohol, Lügen, Selbstmord, Mangel an Verantwortung, absente Väter, überforderte Mütter … das Schicksal wiederholt sich (nicht!).

Über die Wupper gehen, über den Jordan oder mythologisch über den Styx – alle Ausdrücke als Euphemismen für das brutal-nüchterne Sterben. Dem zentralen Thema „Wofür dann überhaupt leben?“ verleiht Solberg eine funktionale Anschaulichkeit. Ein Fluss trennt die beiden Hälften der Bühne. Hier landen Autoreifen als Symbole für die einzelnen Toten, hier beklagen die Eltern das tote Kind, hier stirbt auch Elise. Dualität als Gestaltungsprinzip des Stücks: Mann – Frau, lebend – tot, früher – heute, Hoffnung – Verzweiflung, Glaube – Wissen, Liebe – Hass.

In Vor- und Rückblenden, in fiktiven Gesprächen mit Verstorbenen, in liebevoller Nähe und hasserfüllten Vorwürfen ent-wickelt sich das Geschehen. Verbunden, verwoben, verklärt durch die Musik. Sie gibt Kraft, Trost, Energie, Gemeinschaft. Daniel Stock strotzt vor expressiver Kraft, physisch und stimmlich. Julia Kathinka Philippi tanzt sich vom Partygirl in die abgrundtiefe, vernichtende Trauer einer einsamen Frau und Mutter. Ihre weiche Stimme im Solo und im Duett berühren; sie erzeugt wahre Empathie in Gesang und Spiel. Die Beiden wecken Erinnerungen an das legendäre Country-Duo Johnny Cash und June Carter, die ihre echte Liebe in ihre Songs legten.

Zum live-Konzert Gefühl trägt Philip Breidenbach (call him Phil B.R.) bei. Mit Akustikgitarre und soft percussion sowie als zweite oder dritte Stimme untermalt er wild bis zärtlich die musikalischen Passagen. Die sängerische Qualität der beiden Hauptfiguren ist verblüffend, ebenbürtig mit ihren herausragenden schauspielerischen Leistungen. Wie Daniel Stock mit Gott & Glauben hadert oder Julia Kathinka Philippi die hartherzige Behandlung der Tochter Maybelle im Krankenhaus im Stakkato anprangert, da stockt dem Publikum der Atem.

Mit nur wenigen Requisiten gestalten sie alle Facetten ihrer Lebensreise: Autoreifen und Leinenlaken. In ihrem kraftvollen Schauspiel werden die Reifen zu Leichen und zum Geburtsbett. Das Laken machen Didier und Elise gestalterisch wunderbar zum Bindeglied ihrer Beziehung, zum Kind. Als alles zu nichts zerrinnt, zeigt sich das wahre Element des Lebens, von diesem Duo mit der Ballade „If I needed you“* gefeiert: The lights of love.

Gefeiert hat auch das Premierenpublikum diese großartige Produktion mit seinem hervorragenden Cast. Zehn „Vorhänge“, stürmischer Applaus, Jubel und Standing Ovations. Glückwunsch an alle Beteiligten!


Das Theater Bonn spielt The Broken Circle noch achtmal bis zum 28. April 2022. Infos und Karten hier.

Der Soundtrack des gleichnamigen, hochgelobten Films von 2012 findet sich auf Spotify und amazon music.

*If I needed you, would you come to me?
Would you come to me for to ease your pain?
If you needed me, I would come to you
I would swim the sea for to ease your pain

Well, the night’s forlorn and the morning’s born
And the morning’s born with the lights of love
And you’ll miss sunrise if you close your eyes
And that would break my heart in two

If I needed you, would you come to me?
Would you come to me for to ease my pain?
If you needed me, I would come to you
I would swim the sea for to ease your pain

Baby’s with me now since I showed her how
To lay her lovin‘ hand in mine
Who could ill agree, she’s a sight to see
A treasure for the poor to find

If I needed you, would you come to me?
Would you come to me for to ease my pain?
If you needed me, I would come to you
I would swim the sea for to ease your pain

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