Hänsel und Gretel – Volkslied und große Oper

Alle Jahre wieder … kommt im Weihnachtslied das Christuskind auf die Erde nieder, in den Opernhäusern allerdings die Familienoper Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck auf die Bühne. Ein beliebtes Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm. Also ein Kinderspiel? Von wegen! An der Oper Köln nimmt Generalmusikdirektor François-Xavier Roth persönlich – nun nicht den Taktstock – einen Bleistift in die Hand und stimmt mit dem Gürzenich Orchester das Vorspiel an. So sanft, so zärtlich, wie die Hörner klingen, ist in den ersten Minuten klar: Das wird ein zauberhafter Opernabend.

Das gut achtminütige Vorspiel erzählt in musikalischen Motiven die (Vor-)geschichte. In einer fröhlichen Familie stirbt die Mutter und hinterlässt einen verzweifelten Mann und zwei niedergeschlagene Kinder. Hier gleich ein Hinweis zur Deutung dieser Situation in zahlreichen Märchen. „Die gute Mutter muss sterben. Früh!“ heißt es bei namhaften Psychologen und Pädagogen. Denn nur ohne das overprotecting der guten Mutter erlangen Kinder eigene Reife und Tiefe, lernen sie, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, Krisen aus eigener Kraft zu bewältigen. Zur Hölle also – zur Hexe vielmehr – mit den Helikoptereltern!

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Miljenko Turk als Peter, Besenbinder
Foto mit freundlicher Genemigung der Oper Köln, © Paul Leclaire

Der Vater heiratet erneut (Motiv böse Stiefmutter), verliert seinen Job, aber nicht seine gute Laune. Alles so schön bunt bei diesen Leutchen. Keine graue Tristesse im prekären Milieu, sondern eine poppig kolorierte Welt, in der sich in einem mit Wasch- und Kaffeemaschine vollgestopften Konsumchaos die Kinder balgen. Das Ganze vor einem Wohnwagen am Waldrand. Es könnte eine antiautoritäre tiny house Idylle sein, aber alle im Publikum wissen es: Die Mutter schickt die Kinder zur Strafe für einen zerbrochenen Milchtopf in den Wald, damit sie Erbeln (Erdbeeren) suchen. Diese missmutige Frau bietet den perfekten Spiegel für den betrunkenen, aber gut gelaunten Mann, der mit vollen Einkaufstaschen nach Hause kommt. Er macht ihr nun Vorwürfe. Schließlich handelt es sich um seine leiblichen Kinder!

Wer kennt das gute Ende der Geschichte nicht? Nachdem 14 Engel den Schlaf und das Schicksal der Kinder bewachen, gelingt es den beiden mit List, die böse Hexe in den Ofen zu schubsen und nebenbei noch 20 andere Kinder zu befreien. Mission accomplished! Auch mit den Eltern sind Hänsel und Gretel am Ende wieder vereint. Wie hält also eine Inszenierung die Spannung bis zum letzten Moment? Wie schafft sie eine Magie, der Groß und Klein gleichermaßen (im bis auf den letzten Platz besetzten Staatenhaus) erliegen?

Die Regisseurin Béatrice Lachaussée, mit dem Götz Friedrich Studiopreis 2014 ausgezeichnet, hat sich außer mehrfach in Köln auch an anderen Häusern mit viel beachteten Produktionen einen Namen gemacht. Hänsel und Gretel inszeniert sie zunächst einmal exakt auf die Musik. Diese Kongruenz verleiht dem Stück hier im Saal 2 eine überzeugende Leichtigkeit, denn die Musik trägt die Handlung zu jeder Zeit. Dann knallt sie bunte Farbeffekte in den Raum; sie scheut weder das Kitschig-Überzeichnete noch den rosaroten Zuckerguss. Das Süßigkeiten-Ensemble rund um den gigantischen Ofen der Hexe hat Muffins, Eiskrem, Torten, Kuchen, Lollis, Kekse und eine Zuckerwattemaschine im Angebot. Kauf mich, schreit es dort schrill. Ist das die verlockende Welt der amazing zone, wie der Schauplatz heißt? Und die buchstäbliche Nähe zum digitalen Shopping Paradies amazon gewollt? Die Botschaft lautet: Wir sind alle verführbar im Konsumwahnsinn, die Kinder ganz besonders.

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Dalia Schaechter als Knusperhexe
Foto mit freundlicher Genehmigung der Oper Köln, © Paul Leclaire

Das Traumland, in dem Hänsel und Gretel ihr Abenteuer erleben, wird im Wald durch die bereits arg lädierte Leuchtschrift Dreamland angezeigt. Dieser Ort hat längst seine Unschuld verloren. Ist es legitim, von dort Michael Jackson’s Neverland zu assoziieren? Denn die Hexe erscheint über ihre Boshaftigkeit hinaus in einem zweifelhaften Licht. Ihren überdimensionalen Zauberstab alias candy cane benutzt sie in eindeutig sexualisierter Absicht. Dieser Hänsel soll ihr nicht nur zum Fraß, sondern vor allem zum pädophilen Vergnügen dienen!

Lachaussée hält aber klug Haushalt mit den psychologischen und konsumkritischen Allusionen. Sie hat die Kinder im Blick und verwirklicht deren Lust auf Magie und bunte Bilder. Mit Grégoire Pont hat sie einen kongenialen Videofilmer zur Seite, der Erwachsene wie Kinder gleichermaßen mit zauberhaften, japanisch angehauchten Animationen beglückt. Da flattert der Kuckuck durch den halbtransparenten Wald, da verstreuen Sand- und Taumännchen glitzernde Sterne in der Luft, alle Waldbewohner wie Häschen, Rehe, Igel, aber auch Nemo-Fische schauen vorbei. Bei „Ein Männlein steht im Walde“ erscheint eine mannsgroße rote Glühbirne, die keck bis verschreckt die Gretel anschaut. Nebelgeister, Waldfeen und ein Flaschengeist schweben, flirren, tanzen um die Kinder herum. In einer feinen Ästhetik das Gegenspiel zur knallbunten Hexenwelt.

Wenn Humperdinck das hätte sehen und hören können! Mit der musikalischen Interpretation wäre er sehr zufrieden gewesen. Er galt ja lange als Wagner-Epigone, der erst spät zu einer eigenen musikalischen Sprache fand. Ein glühender Verehrer des großen Maestro, der auch als dessen Assistent arbeitete. Zweifellos finden sich mehr als die gleißenden Geigen oder das gewaltige Wagner-Crescendo in dieser Oper wieder. Auch sprachlich lehnte sich die Librettistin Adelheid Wette, die Schwester des Komponisten, eng an die Sprache Wagners an: kraftvolle Verben und Nomen, die sich in heftigen Alliterationen gegenseitig unterstützen. Auch das sagenhaft Fabulöse kennen Wagner Fans. Schließlich dirigierte Richard Strauss selbst am 23. Dezember 1893 in Weimar die Uraufführung. Seit fast 130 Jahren erfreut sich also Hänsel und Gretel der Wertschätzung großer Maestri und erzeugt weihnachtliche Wiedersehensfreude bei allen Generationen.

Nur 30 Kilometer östlich von Köln wurde Engelbert Humperdinck 1854 in Siegburg geboren. Die Stadt hatte damals knapp 4.000 Einwohner und es ist leicht vorstellbar, dass die Volkslieder, die er in Familie und im Umfeld hörte, Eingang in seine Musik fanden. Allerdings waren nur „Suse, liebe Suse …“ und „Ein Männlein steht im Walde“ allgemeines Kulturgut. Das heitere „Brüderchen, komm tanz mit mir“ und der zu Herzen gehende „Abendsegen“ stammen aus Humperdincks Feder und machten eine rasante populärmusikalische Karriere von der Opernbühne in jedes Haus.

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Anna Lucia Richter als Hänsel und Kathrin Zukowski als Gretel
Foto mit freundlicher Genehmigung der Oper Köln, © Paul Leclaire

Als Geschwisterpaar groovten Hänsel und Gretel mit lässigen moves das Tanzlied. Kathrin Zukowski brachte bereits für die Pamina der Zauberflöte die glockenhelle Tessitura ihres Soprans ein. Mit Anna Lucia Richters jungem, sehr hellen Mezzo als Hänsel bildete sie ein Duo, das im „Abendsegen“ magische Minuten erzeugte. Wunderbare Harmonie und großartiger Gesang! Miljenko Turk gab den Peter, Besenbinder, mit augenzwinkerndem Charme, toller Bühnenpräsenz und seinem kraftvollen Bariton. Da saß jeder Ton und jede Silbe kam zielgenau über dem großen Sound des Orchesters im Saal an. Ein Kölner Publikumsliebling, zweifellos! Das Gleiche gilt für Dalia Schaechter, die den dritten Akt dominierte. Sie gurrt so tief, dass allen angst und bange wird und ihre Stimme schneidet, wenn sich Widerspruch regt. Sie mag offensichtlich abgründige Charaktere und hatte hexische Freude an ihrer Bosheit. Als Rollendebüts gaben Judith Thielsen die Mutter Gertrud und Ye Eun Choi das Sandmännchen und das Taumännchen. die die Traumsequenz so sphärisch rein aus hoher Höhe am Anfang und am Ende umrahmten.

Dominique Wiesbauer hat die Bühne und die Kostüme entworfen. Ihre gestalterische Fantasie und Expertise gipfelte im Design des Hexenakts. Sensationell das Kostüm der Knusperhexe, das mit jeder Show in Las Vegas mithält. Fazit: Ein kurzweiliger, optisch verführerischer, musikalisch und gesanglich großartiger Opernabend, vor allem auch wegen des fabelhaften Gürzenich Orchesters unter François-Xavier Roth.

Die Oper Köln spielt Hänsel und Gretel noch 16 Mal bis zum 23. Januar 2022. Infos und Tickets hier.

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