Da sitzen sie also im Halbdunkel der Bar einer beliebigen Metropole wie Hoppers Nighthawks. Vereinzelt, den Blick gesenkt, urbane Erfolgsmenschen, die irgendwie leblos den letzten Drink nehmen oder die letzte Zigarette rauchen. Gleichzeitig gruppieren sie sich um ein Kaiserpanorama, hinter dessen runden Wänden die Zuschauer in den Zeiten vor dem Kino einen Blick in ferne Welten werfen konnten. So vereint die Bühne der Oper Die tote Stadt die beiden psychologischen Grundmuster des auf-sich-geworfen-Seins und des schmerzhaften Blicks auf das eigene Innenleben und dessen Abgründen. Nachdem die eigentliche Premiere am 4. Dezember 2020 exakt zum 100-jährigen Jahrestag der Uraufführung, die zeitgleich in Köln und Hamburg stattfand, nur per Video-Stream zu sehen war, nun also ein Opernabend mit einer Kraft, die das Staatenhaus zum Beben brachte.
Zahlreiche Eindrücke von der Video-Premiere finden sich in meinem Artikel Die Tote Stadt – ein musikalisches Psychogramm. Nun also live und in Farbe, wobei der Oper Köln die Interims-Spielstätte unter den aktuellen Umständen durchaus zupass kommt. Sie erlaubt ein üppig ausgestattetes Sinfonie-Orchester in Strauss- und Mahler-Dimensionen, einen stark besetzten Damen- und Kinderchor im gehörigen Sicherheitsabstand und bietet Platz genug, damit die Sängerinnen und Sänger sich – wie unter den seinerzeit strengsten Corona-Regeln geprobt – aus dem Weg gehen können.

Foto mit freundlicher Genehmigung der Oper Köln,
© Paul Leclaire
Aber sie berühren einander ja. Paul, dessen Herkunft und Schicksal wir nicht kennen, ein Maler in seinem Atelier, der offensichtlich als Privatier ein Leben zwischen Bohème und Bürgerlichkeit führt, ist von der Begegnung mit der Varieté-Tänzerin Marietta wie vom Donner gerührt. Gleicht sie doch aufs Haar seiner verstorbenen Frau Marie, deren Geschichte auch völlig im Dunklen bleibt und die er wie eine Heilige verehrt – mit Schrein und Haarzopf als Fetisch. Marie bringt das Leben in Pauls „Kirche des Gewesenen“, mit ihrer aggressiven, obszönen Erotik ins Wanken. Paul wird zum Stalker, das Besitzstreben über Marie überträgt sich nun auf ihre Wiedergängerin. Seine Fantasie- und Traumwelt macht ihn zum Doppel- und Selbstmörder.
Das Fin de Siècle brachte morbide Novellen wie Bruges la Morte von Georges Rodenbach hervor, die der Oper als Grundlage dient. Das Morbide, Graue, Undurchdringliche, die Überhöhung durch Symbolismus und der Hang zum Okkulten zeichnen bereits die literarische Vorlage aus. Erich Wolfgang Korngold setzt das Rauschhafte, den Blick in das Seelenleben der Protagonisten in schwelgende Musik um: mal große sinfonische Klänge, mal melancholische Träumerei, dann wieder nahezu schwülstig schlagerhaft im Heimatlied.
Dazu braucht es Musiker im Orchester, die so eine herausfordernde Partitur überzeugend gestalten. Und Sängerinnen und Sängern, die diese Vokalakrobatik mit höchster Professionalität meistern. Das Gürzenich-Orchester mit Gabriel Feltz am Pult ist vor Ort. Aber die Opernwelt pilgert momentan nach Salzburg, um die Wahnsinns-Performance der Aušrine Stundyte als Elektra zu feiern. Diese Weltklasse-Sopranistin entfaltet erst live (nicht auf dem Bildschirm) ihr Stimm- und Spielvermögen mit großartiger Bühnenpräsenz. Sie beherrscht die abgründigen Partien mit dem aufgewühlten Seelenleben der Figuren einzigartig und spielt einfach in einer ihr eigenen Liga.

Foto mit freundlicher Genehmigung der Oper Köln, © Paul Leclaire
Als Paul ihr stimmgewaltiger Partner Stefan Vinke, weltbekannt als Wagner-Heldentenor, der all‘ diese großen Rollen in Bayreuth gesungen hat. Welch ein Volumen, welch eine Kraft in der Stimme! Ihm gebührt der allergrößte Respekt für die Energie, die ihn durch zweieinhalb Stunden nahezu ununterbrochener Bühnenpräsenz und Gesang trägt. Bis hin zum Schluss, wo er nüchtern feststellt: „Ein Traum hat mir den Traum zerstört.“ Dort und an anderen Stellen, wo der Protagonist in sich gekehrt und reflektierend seine eigenen weichen Seiten darstellt, hätte man sich zartere Töne gewünscht: neben dem Tornado dann auch ein laues Sommerlüftchen, die lyrische Zerbrechlichkeit.
Neben dem – auch physisch – starken Stefan Vinke begeisterte Miljenko Turk in zwei Rollen mit seinem schlanken Bariton. Er gab den Frank geerdet, redlich, realistisch und den Impresario der Revuetruppe keck, derb, sexy. Ein sehr beglückendes Wiedersehen und -hören. Dalia Schaechter gestaltete die Rolle der Haushälterin Brigitta auf unnachahmlich imposant-subtile Art und Weise. Viel zu singen gab es für sie nicht, aber ihre Darstellung und vor allem ihre Mimik erzählen die Geschichte auf einer Meta-Ebene. Wie sie ihrer Zufriedenheit über Mariettas Tod und dem Entsetzen über Pauls Selbstmord Ausdruck verleiht – absolut sehenswert!
Einst ein Renner des Repertoires in der Nachfolge von Puccini und Strauss, geriet Die tote Stadt nach Korngolds Emigration in Vergessenheit und verschwand vom Spielplan. Keineswegs, weil es dem Stück an musikalischer Qualität mangelte, sondern weil die politischen Verhältnisse und Deutschlands mehr als zwanzigjähre Isolation das herbeiführten. Korngold selbst fasste schnell in den USA Fuß, wurde zweimal für eine Filmmusik mit dem Oscar geehrt und residierte in einer Villa in Bel Air. Seine seriöse Reputation im ernsten Opernfach hatte er damit verspielt – eine Rückkehr nach Deutschland war aber ohnehin wenig verlockend.
Was wäre gewesen, wenn … die Oper in Deutschland und Österreich sich weiter hätte entwickeln können wie vor 1933? Was bedeutet diese Leerstelle für die Operngeschichte in unserem Land? Welche neuen Formen der Musiksprache und des Musiktheaters hätten sich entfaltet bei einer fruchtbaren Kontinuität? Diesen Fragen widmet sich zum Beispiel die Oper Bonn unter dem Titel „Fokus ’33 – Forschungsreise zu den Ursachen von Verschwinden und Verbleiben“. Der Oper Köln ist es mit der Tatjana Gürbacas Inszenierung des Stücks Die tote Stadt außerordentlich gut gelungen, einen dieser alten Schätze zu heben.
Die Oper Köln spielt das Stück noch fünf Mal bis Ende September. Infos und Tickets hier.

Neues aus der Schreibwerkstatt: Ich schreibe auch für Sie.
Schauen Sie gern mal auf mechthildtillmann.de nach Infos und Details.
Tolle Oper, tolle Musik, interessante Handlung und Aušrinė Stundytė ist natürlich eine grossartige Besetzung, die ihr da habt. Wunderbar. Enjoy! Habe sie zuletzt als Renata im „Feurigen Engel“ in Zürich gesehen – toll! Und wie schön, endlich wieder Oper live!
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