Der Funke springt sofort über. „And all that jazz“, die Eingangsnummer des Musicals Chicago, reißt das Publikum schon fast von den Stühlen. Parkett und Ränge bis auf den letzten Platz besetzt – das hätte man sich vor einer Woche nicht mal träumen lassen. Die erste Premiere der neuen Spielzeit ein echter Knaller, dieses Vaudeville-Stück, in dem Killer Girls Karriere machen und der zweifelhafte Leitspruch der Justiz „In dubio pro Roxie“ lautet. 1975 wurde das Musical in New York uraufgeführt. Der Handlung liegt das Buch einer Reporterin zugrunde, das 1926 erschien. In diese Zeit der Prohibition und Korruption, als Chicago sich den Ruf als Gangster City erwarb, verlegen der Komponist John Kander und der Texter Fred Ebb ihr Stück.
Mord und Totschlag, Eifersucht, Habgier, Intrigen, Geld, Machismo & Sex, eine korrupte Justiz und eine willfährige, sensationsgeile Presse – darum dreht sich alles in Chicago. Dazu bemerkt Velma Kelly, wegen eines Kapitalverbrechens im Frauenknast eingebuchtete Sängerin und Tänzerin, analytisch und kurz: „Die Moral ist im Arsch.“ Wie sie den ihrigen allerdings rettet und schließlich zur Partnerin und Freundin ihrer vormaligen Feindin und Konkurrentin wird, das erlebt das Bonner Publikum in einer spritzigen, frechen Neuinszenierung des Musicals.
In grünen Puffpantöffelchen und Pin-up Federnegligé erschießt Roxie Hart ihren Lover Fred Casely, weil er sie im Bett nur benutzt hat, anstatt ihr die nötigen Connections für eine Karriere über ihre Nebenrollen als Revuetänzerin hinaus zu verschaffen. „Das geschah ihm recht, so die Erklärung für die schnell gezückte Pistole. Übrigens der Standardspruch aller blutrünstigen Mörderinnen auf der Grundlage der Erkenntnis „Ich habe noch nie von einem Mann gehört, der ermordet wird und es nicht verdient hat.“
Im Gefängnis führt Mamma Morton als Herzogin der Handschellen und Königin des Kittchens ein strenges Regiment. Bei ihr erkauft frau sich Annehmlichkeiten wie warme Decken, leckere Mahlzeiten, gebügelte Klamotten und ein gutes Wort bei einem renommierten Anwalt. Im tief dekolletierten S-M Outfit aus Wendepailletten steht sie in direktem Kontakt zu Billy Flynn, der gegen saftige Zahlungen die inhaftierten Frauen bis zu ihrer Gerichtsverhandlung begleitet. Vom Sockenhalter bis zu den Gamaschen, vom Nadelstreifen bis zur Zigarre ganz der Typ Schmierenanwalt, der die Pressevertreter wie Marionetten manipuliert und vor Gericht eine Riesenshow abzieht. Kein Wort seines Plädoyers ist wahr, aber mit den emotionsheischenden Details kriegt er seine Mandantin Roxie Hart frei.
Im Gefängnis konkurrieren zwei Mörderinnen um die maximale Pressepräsenz. Beider großer Traum: einmal mit Foto auf den Titelseiten der seriösesten Zeitungen zu prangen. Beide müssen aber auch schmerzlich erfahren, dass das Interesse der Meute als auch des Publikums schnell erlahmt, wenn eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird. Die Sensationsgier verlangt unentwegt nach neuen Exzessen. Zwei oder drei Morde verkaufen sich medial besser als einer, ein wohlhabendes Milieu erzeugt mehr Auflage als die Schicksale der kleinen Leute.

Foto mit freundlicher Genehmigung des Theater Bonn, © Thilo Beu
Also Roxie Hart, the dumb blonde, manövriert sich mit ihrem unüberlegten Geplapper bis an der Rand des Galgens, bis Billy Flynn auch sie vertritt. Velma Kelly verfügt im Gegenzug über kühlen Durchblick, Strategien und ebenfalls über die Hilfe des Staranwalts Flynn, der für fünftausend Dollar einen Freispruch garantiert. Die „amerikanische“ traurige Wirklichkeit an der Stelle? Wer als Immigrantin die Sprache nicht beherrscht und keine Beziehungen hat, den lässt Uncle Sam exekutieren. Als erste Frau nach 47 Jahren im Staat Ilinois!
Der – auch intellektuell – bescheidene, aber aufrichtig gutherzige Gegenpart zu der verruchten Frauenclique ist Roxies Ehemann Amos. Er kratzt das Geld zusammen, verpfändet seinen Lohn und will einfach nicht kapieren, dass nach monatelangem Stillstand der ehelichen Erotik ein Baby (das Roxie bauernschlau kurzfristig erfindet) keineswegs von ihm sein kann. Dennoch spielt er die Schmierenkomödie vor Gericht mit und verhilft Roxie zur Freiheit – leider auch von ihm. Eine rührende Ballade, die seine Trauer über die eigene Bedeutungslosigkeit zum Ausdruck bringt, erreicht auch die Herzen des Publikums. Er fühlt sich wie Mr Cellophane, den niemand wahrnimmt, nicht einmal die eigenen Eltern!
Auf der anderen Seite jazzt die Presse Mordanklagen und -prozesse hoch, angeheizt durch den gewissenlosen Publicity-Fuchs Flynn. Die Meute zeichnet sich durch maskenhafte Gleichförmigkeit aus, aber eine, Miss Mary Sunshine, sticht aus der Menge hervor. Sie hat Klasse und einen Solo-Auftritt vom Feinsten. Wie die Königin der Nacht schwebt sie mit opulentem Sternenkopfschmuck auf in ein Sternenzelt, von Schinkels Ur-Bühnenbild inspiriert. Ein Sopran, der formidabel die Höhen meistert – meint man. Denn in dieser (Bühnen-) Welt sind die Dinge nicht immer so, wie sie scheinen. Ohne Business-Kostüm und Perücke entpuppt sich die Lady als ein Mann. Der Countertenor Victor Petersen verkörpert diese Rolle, die traditionell mit einem Mann besetzt wird, einfach toll.
Willkommen, bienvenue, welcome … diese Vaudeville-Bühne auf der Bühne transportiert das Publikum unmittelbar in die Theaterwelt der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Da atmet alles die erotisch aufgeladene Szenerie, da bietet die stufenweise beleuchtete Showtreppe eine großartige Kulisse für die Solonummern, da kreiert die weißbefrackte Big-Band der Bühnenmusiker den typischen Sound der Zeit. Rotgefärbter Bühnennebel, wenn Blut fließt, und die imposante Silhouette Chicagos, wenn es amtlich wird im Gerichtssaal. Die Drehbühne erlaubt wahnwitzig schnelle Umbauten vom Knast zum Gerichtssaal, vom Schlafzimmer zum Schafott.

Vaudeville lebt vom temporeichen Wechsel von Musik, Tanz und Gesang. Da brannte auf der Bonner Opernbühne ein Feuerwerk an Choreografien, Soli, Duetten und Chören ab. Großartige Kostüme, die die Gewandmeisterei in vielen Monaten in feiner Handarbeit angefertigt hatte. Tolle Lichtregie, die in Sekunden Atmosphäre(n) zauberte. Jubel und nicht enden wollender Beifall für alle. Bettina Mönch, die in Bonn bereits als Evita begeisterte, teilte sich als Velma Kelly die Begeisterungsstürme mit Elisabeth Hübert als Roxie Hart. Sängerisch, tänzerisch und physisch ergänzen sie einander perfekt. Dionne Wudu gab die Knastmutter Mamma mit der nötigen, dem Geschäft eigenen Kaltschnäuzigkeit. Die Überraschungsnummer mit Victor Petersen glückte sehr und die Herzen schlugen für den schön gesungenen Schmerz von Enrico de Pieri als Amos Hart, Roxies gutmütigen Ehemann. Einzig die männliche Hauptfigur, Anton Zetterholm als Billy Flynn, den ganz Chicago nahezu anbetet, war in den gesprochenen Dialogen schlecht zu verstehen. Seinem Schauspiel, Gesang und Tanz tat das aber keinen Abbruch.
Im Publikum hatten sich zahlreiche Mitglieder des Bonner Ensembles eingefunden. Wie den Premierengästen sah man auch ihnen die Freude und die Erleichterung nach diesem sensationellen Einstieg in die neue Spielzeit an. Es herrschte ein kollektives Gefühl wie im Märchen Der Froschkönig, als der Prinz lautes Krachen vernimmt, vermutlich von einem gebrochenen Wagenrad. Der eiserne Heinrich erklärt das Phänomen auf:. Nein, mein Herr, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen …“
Chicago wird der Renner der Saison. In optimistischer Voraussicht hat das Theater Bonn 21 weitere Termine in der Spielzeit 2020/21 geplant. Tickets werden monatlich freigeschaltet. Alle Infos hier.
Besondere Wertschätzung erfahren alle an dieser Produktion Beteiligten wie Technik, Maske, Ankleiderinnen, Licht & Ton und Werkstätten, indem sie namentlich in der Besetzungsliste aufgeführt werden. So bekommen alle, die in den letzten Monaten, auch in Kurzarbeit, für diese prächtige Wiedereröffnung gearbeitet und zum Gelingen der Produktion beigetragen haben, einen Namen.

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Schauen Sie gern mal auf mechthildtillmann.de nach Infos und Details.
Na, da habt ihr ja einen ziemlich coolen Cast für die Show, ist ja schon ziemlich anspruchsvoll, ich habe mittlerweile noch andere Inszenierungen gesehen, aber das Original ist halt doch immer noch die beste Version! Es lebe der Broadway…. herzlichst aus Zürich nach New Musicaltown Bonn…. 🙂
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Genauso gut wie die Show war die super Stimmung im Haus. Mensch, wie haben alle danach gelechzt. Ich ganz besonders. Als nächste Premiere steht ARABELLA, Marelli inszeniert. Also ein Hauch Schweiz wird über die Bonner Bühne wehen. Liebe Grüße nach Zürich.
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