Mazeltov, Rachel’e

Banal der Ort des Geschehens: zwei Zimmer, Küche, Treppe, Bad in Köln-Mülheim. Eine alte Dame bereitet das Pessach-Fest vor. Grandios: Isoldes Liebestod am Ende der Revue. Eine Mezzo-Arie, die alles Gefühl dieser Welt umfasst, komponiert von einem dezidierten Antisemiten. An der Küchenwand ein Plakat mit dem Konterfei einer schönen Sängerin. Lea Singer chante Richard Wagner. Das Spannungsfeld des Jubiläums von „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ gestaltet Christian von Götz mit einer 90-minütigen musikalischen Farce in der Oper Köln. Ein atemloser Ritt durch weitgehend unbekannte Nummern jüdischer Komponisten, der die Gefühlsklaviatur von herzhaftem Lachen bis zu mitfühlenden Tränen bespielt.

Lea bereitet Matzenknödel zu. Ihr junges Ebenbild, im gleichen gelben Kleid, tanzt als ihr Widerpart durch die bürgerlich-biedere Einrichtung. Blau-weiß die Küche, weinrot das Biedermeiersofa, giftgrün das Bad, Bahama-beige das 70-er Jahre Telefon. Mittendrin ein fliederfarbener Koffer voller Erinnerungen. Die offensichtlich todkranke Lea unternimmt nun eine Reminiszenz-Reise in die erfolgreiche, schillernde, erotisch aufgeladene Vergangenheit ihrer Urgroßmutter Rahel. Tataaaa … wie ein Springteufel entsteigt sie dem Schrank.

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Dalia Schaechter, Foto mit freundlicher Genehmigung der Oper Köln, © Paul Leclaire

Eine Diva von Fuß bis Kopf. Denn dort thront ein Kopfschmuck wie aus einem Revuepalast in Berlin oder Paris. Ein Star wie sie empfängt in ihrer Garderobe Liebhaber reihenweise, Champagner und Kaviar halten ihre Stimme klar.

In der Pessach-Nacht erhält sie nun Besuch von ihren Ahnengeistern. Und da geht echt die Post ab. In raschem Wechsel bereichern der Geiger Leyser Janowski, Uroma Gisse, Israel Teitelbaum, der Schächter, der Essensbote, der Regieassistent und Abraham Goldfaden die nächtliche Zusammenkunft. Das Ensemble punktet auf der ganzen Linie. Dalia Schaechter ist ein Ereignis, Claudia Rohrbach sängerisch und darstellerisch top, Matthias Hoffmann glänzt mit seinem Bariton in drei Rollen und rockt die Bühne mit seiner Spielfreude, Dustin Drosdziok (Tenor) und Stefan Stefan Hadžić (Bariton) glänzend besetzt. Die Oper Köln kann sich glücklich schätzen, solche Künstlerinnen und Künstler für dieses nicht-Repertoire Stück im Ensemble zu haben.

Der Verein Jüdisches Leben in Deutschland hat sich mit zahlreichen Veranstaltungen im Jubiläumsjahr 2021 zum Ziel gesetzt, die religiöse und kulturelle Bedeutung des Judentums auf den verschiedensten Plattformen zu veranschaulichen. Eine davon Saal 3 im Staatenhaus in der Oper Köln. Den kleinen Sprachkurs Jiddisch gibt’s inklusive. Schlamassel und Stuss, meschugge und Mischpoke, Schmock und Goj, Schlemihl und Tales, Git Shabbat und Mazeltov. Ganz nebenbei und gratis im Programmheft das Rezept für Matze Kneydelech, die Knödel von Ur-Uroma Rahel.

Unsere Rahel wurde 1854 geboren und erlebte das große Pogrom 1881 in Odessa. Von Kiew oder Lemberg nach Paris, Wien oder New York, die Emigrationsrouten sind bekannt. Dass die Menschen ihre Musik mitnahmen, mündet auch in von Götz‘ Revue in ein Kaleidoskop von Shtetl-Musik mit slawischen, deutschen, amerikanischen Elementen. Künstlern, die heute weitgehend unbekannt sind, setzt er ein musikalisches Denkmal. Dabei walzert es übermütig und die Fidl spielt auf, aber die Bratsche begleitet die Zeile „Sollen wir uns in Asche verwandeln und durch den Kamin hochfliegen?“ Bühnennebel für die Gaskammern und ein zittrig angesteckter Davidstern – genug, um alle historischen Bilder zu vergegenwärtigen.

Abraham Goldfaden, russischer Theatermacher, Komponist, Schauspieler, schwärmt vom Jewish Broadway in der 2nd Avenue in New York. Hier reihte sich Theater an Theater, hier hat er es zu etwas gebracht. Herrlich, wie Matthias Hoffmann näselt. Marcel Reich-Ranicki hätte seine Freude an diesem Auftritt. Ein Kostverächter in erotischen Anspielungen darf man und frau auch bei diesem Stück nicht sein. Die Sulamith aus dem Hohelied des Alten Testaments bereitet sich auf ihre Hochzeit vor und Rahel legt einen Orgasmus auf die Bühne, der an physischem Einsatz (ohne Worte!), Gestik und Mimik selbst den fake orgasm im Film Harry und Sally wie die Version für den Kindergeburtstag wirken lässt. Und weil’s so schön war, dürfen auch Sofa- und Bettlehne wie das Treppengeländer für die intimen Solo-Momente der Frauen dienen. Frech und witzig im besten Sinne. Auch das ein Allgemeinplatz – in der jüdischen Familie hat die Frau, die jiddische Mamme, die Hosen an.

Selbstironie zeichnet den jüdischen Humor aus. Davon hat diese Revue einiges auf Lager. Die Vorliebe der Juden für ihren shrink, den Psychoanalytiker, die Großzügigkeit bei der Gattenwahl (egal, wie moralisch verwerflich, wenn’s nur kein Goj ist!), die Geduld, wenn alles schief läuft: Der Mensch dachte und Gott lachte. Und schließlich das Zitieren von Nächstes Jahr in Jerusalem, dem Gruß, mit dem sich Juden nach dem Versöhnungstag verabschieden und auch der Titel des ironisch-satirischen Roman von André Kaminski.

Die Würze des Abends verleiht das Mini-Gürzenich Orchester mit Gästen dem Menü. Ob langgezogene Klarinette, Charleston-Piano, Tanz-Akkordeon oder Erinnerungs-Bratsche sowie Cello, Kontrabass, Schlagzeug und Klavier – Gerhard Diering, Joachim Griesheimer, Johannes Esser, Francois de Ribaupierre, Dorrit Bauerecker, Bernd Schmelzer und Rainer Mühlbach reißen das Publikum mit. „Hudel, Strudel, Mazeltov“ animiert, mal gleich mitzutanzen und die elegische Weise „… denn was gewesen ist, ist gewesen, ist vorbei“ als wirkliche Lebensweisheit einfach anzunehmen.

Das Ende impliziert schon der Anfang: Nach diesem musikalischen Parforce Ritt und einer aufregenden Nacht mit den Ahnengeistern schließt Lea Singer die Augen für immer. Die Tochter Zions bleibt nicht nur im Klagelied allein. Keine große Oper wie sonst für die jüdische Mezzo-Sopranistin Dalia Schaechter, die tatsächlich auch Wagnerrollen singt, sondern ein Stück, das ihr wie auf den Leib geschrieben ist. Der Star in Rahels Lebensrückblick und der glänzende Mittelpunkt in einer Inszenierung, die dem Publikum einen wunderbaren Abend beschert.

Die Oper Köln spielt das Stück bis zum 22. Juni 2021. Details hier.

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