Ein Kameraobjektiv in den dunklen Saal gerichtet, Scheinwerfer gleiten suchend über die Köpfe des Publikums. Was wie ein Fehler des Beleuchters wirkt, soll sich als zentrale Frage des Abends entpuppen. Was, wenn jeder und jede Einzelne am Ende des Lebens Bilanz zieht und alt, matt und allein das Resultat in vier Buchstaben fasst: Rien! Dieses Nichts als das globale Lebensgefühl während der 15-monatigen Pandemie? Auf sich selbst geworfen die Einsamkeit aushalten und sich mit existenziellen Fragen auseinandersetzen?
Die Oper Köln spielt live – angekündigt als last minute Angebot, nachdem die online Tickets für die Streaming-Premiere bereits bestätigt waren. Faust von Charles François Gounod war natürlich mit langem Vorlauf von der Oper Köln geplant, wirkt aber nun zum Auftakt einer neuen Kulturzeit mit Publikum – der platte Witz sei verziehen – wie die Faust aufs Auge. Wie die Blendenringe eines Objektivs schieben sich auf der schwarz-weißen Bühne ovale Öffnungen vor- und übereinander. So fokussiert sich die Corona gerechte Regie auf Handlung und Beziehungen: Physik meets Emotionen.
Et voilà! Wir sind mittendrin in der inneren Diskrepanz des Titelhelden. Dr. Faust, der mittelalterliche Prototyp des Universalgelehrten, weiß alles und fühlt nichts. Sein Hadern mit den Grenzen des Erfahrbaren innerhalb der Naturgesetze (dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält) gestaltet sich in Goethes Drama als ein Handlungsstrang neben der Handlung um Gretchen. Die deutsche Tragödie wurde 1808 uraufgeführt; aus Goethes Text schufen Jules Barbier und Michel Carré das Libretto für Gounods Oper, die mit der Premiere 1859 einen Meilenstein der Operngeschichte setzte.
Ausgezeichnet eignete sich für die Opernbühne das Geschehen um die verführte Unschuld, die aus Scham und Reue ihr Kind umbringt. Eine Kindsmörderin gehört aufs Schafott. Aber diese Margarete, die anfangs wie ein Kommunionkind schamhaft die Avancen des höhergestellten Herrn ausschlägt und mit rosa Schirmchen wie auf dem Hochseil balanciert, erfährt durch ihren festen Glauben an Gott ihre Rettung. Mephisto wütet, weil ihm der Zugriff auf ihre Seele misslingt, aber da ist ja noch Faust, der ihm für den teuersten Schatz, die Jugend, seine Seele verschrieben hat.

Von den Hörnern bis zu den Harfen (vier!) erstreckt sich der Graben wohl über knapp 40 Meter. Als der Kölner GMD und Chef des Gürzenich-Orchesters, François-Xavier Roth, sich seinen Weg durch die mit gehörigem Abstand platzierten Musikerinnen und Musiker bahnt, spaziert vor der Absperrung zum „Graben“ selbstverliebt Méphistophélès parallel zum Maestro. Genüsslich steckt er sich eine Zigarette an und demonstriert: Ich mache meine eigenen Regeln. Dirigent und Mephisto tragen die gleichen Hemden – eine erstaunliche Teilkongruenz.
Die Oper Köln bringt die noch nicht durchkomponierte ursprüngliche Fassung als deutsche Erstaufführung auf die Bühne. Die Sprechanteile gestalten sich nicht als Rezitative, sondern als gesprochene Dialoge. En français, naturellement, über Mikro verstärkt. Nun erklärt sich das alter-ego Erscheinen von Roth/Mephisto. Der Maestro am Pult spricht mit schöner Stimme die Dialogparts des Teufels. Ob dieser Regieeinfall den schwachen Französischkenntnissen von Samuel Youn geschuldet ist oder sich als Frage an das Publikum richtet, wieviel Diabolisches in einem Weltklassedirigenten steckt? Honni soit …
Der Deal des Teufels mit dem hinfälligen Greis im Rollstuhl, der sich der akribischen (Selbst-) Analyse der fahrbaren Kamera unterzieht, mündet in der großartig gelungenen Verwandlung in den jungen Mann. Young Woo Kim hat den groove, die Stimme, den Sex-Appeal und die Leidenschaft, die er mit Eitelkeit und Narzissmus paart. Er gehört nun zum Team Mephisto, trägt den gleichen Anzug in hellen Tönen. Er will seine Jugend, seine Potenz, seine Macht in vollen Zügen der Wollust ausleben. Das zahlt sich für ihn so lange aus, bis er in der Walpurgisnacht in den Abgrund des sexuellen Ausschweifens blickt. Toll, der Teufel trägt nun Rot, die Videoprojektion schwelgt im lasziven Lippen- und Zungenspiel tausend geiler Münder.
Rien – auch das empfindet Faust als Nichts. Stattdessen erscheint ihm Marguerite in ihrem Liebreiz und ihrem Leid als Vision. Aber auch in der „zweiten Runde“ hat Faust nichts gelernt. Als Mensch, an Verantwortung, an Empathie. Marguerite habe ihr Kind getötet – auf die Idee, dass es seins ist, kommt er nicht.
Die „erzählte“ Zeit der Oper beträgt genau ein Jahr: vom Osterspaziergang und dem ersten Treffen zwischen Faust und Marguerite bis zum Glockenläuten der Erlösung und Auferstehung am Ostersonntag ein Jahr später. Kirchenfeste gliedern das Geschehen und Kirchenmusik setzt emotional aufrüttelnde Akzente. Noch hinter den Harfen steht die Orgel, die Valentins Tod und Gretchens Himmelfahrt in sakral-choraler Opulenz begleitet. Das wirkt in der Wucht genauso, wie die fein strukturierte Instrumentierung in der gehörigen räumlichen Distanz die Ohren mit minutiösen Details verwöhnt.
Dabei brennt Gounod ein wahres Feuerwerk von musikalischen Preziosen ab. „Da reiht sich Hit an Hit“, so eine Stimme des begeisterten Premierenpublikums. Er komponiert eine Mélange aus großer Arie, Volkslied, Militärmarsch, marche funèbre, Walzer, Choral und fügt als Entr’acte nach der Pause eine quasi zweite Ouvertüre hinzu. Vieles findet sich bei den späteren Franzosen George Bizet und Jacques Offenbach wieder. François-Xavier Roth dirigiert im Sitzen und springt auf, wenn Einsätze auch seine volle physische Präsenz verlangen. Und das Gürzenich Orchester geht mit, sensationelle Spielfreude, großartige Präzision. Eine wahre Wiedersehens- und hörensfreude!
Méphistophélès gilt als der böse Ur-Bariton. Seine verderbliche Boshaftigkeit zeigt sich im Faust allerdings nicht in der Konkurrenz um die schöne Frau, sondern im Vernichten an sich, in der Demonstration hässlicher Macht. Samuel Youn gibt ihn bassig als Macho, als Lude, als Strippenzieher. Er ist omnipräsent, auch wenn er im Hintergrund wirkt. Das jungenhafte Gegenstück präsentiert Miljenko Turk – auch in der Tonlage. Valentin betrachtet Marguerite quasi als sein Mündel, übernimmt gleichzeitig die Rolle des beschützenden Vormunds und des verspielten Kindes, das mit dem Schmusehasen in den Krieg zieht. Wird er irre? Kehrt er mit einem posttraumatischen Syndrom heim? Gibt es gar eine inzestuöse Beziehung mit Marguerite? Analog zur aktuellen Situation der knapp 90.000 Corona-Toten in Deutschland die Feld- und Lazarettbetten mit Namensschildern an den Zehen der Leichen. Der Tod – die ultimative narzisstische Kränkung des Menschen, der Faust mit Abscheu ins Auge blickt.
Marguerite und Faust glänzend besetzt. Mit der Gastsängerin Anne-Catherine Gillet hat die Oper Köln einen Glücksgriff getan. Sie entpuppt sich als Idealbesetzung: mit dem zarten, jugendlichen Erscheinungsbild zwischen Ballkleid und Büßerhemd genauso wie mit ihrem wandlungsfähigen lyrischen Sopran. Fantastisch in ihrer entrückten Szene „am Abend.“ Sie singt das Lied vom König in Thule, unterbricht aber nach jeder Strophe, um ihre Beziehung mit Faust Revue passieren zu lassen. Hier perlen die Koloraturen, es walzert beim Anlegen des Schmucks, dem Sinnbild für die Verderbtheit. Zur Erinnerung: Der König von Thule war treu bis in den Tod. Aber auch bei ihm weiß man nicht, ob die Buhle die Gattin oder eine Liebschaft war. Gillet rührt die Herzen und verzaubert die Ohren – ein musikalisches, librettistisches und gesangliches Meisterstück.
Young Woo Kim überzeugt mit seinem herrlichen Tenor. Er hat die Kraft, selbst das Orchester zu überstrahlen, und die Finesse, intime Momente zu schaffen. Die große Tenorarie „Salut, demeure chaste e pure“ füllt er mit der Ambivalenz, die dem Text gebührt. Grüßt er die „reine und keusche Wohnstätte“ oder bedeutet die Arie den Abschied von Jungfräulichkeit und Reinheit? Salut bedeutet gleichermaßen Willkommen und Abschied. Nicht so Adieu. Gott befohlen wörtlich übersetzt und im 18. Jahrhundert im täglichen Sprachgebrauch. In riesigen Lettern prangt das Wort auf der Bühne. Adieu zum endgültigen Abschied, wer auf ein Wiedersehen hofft, sagt au revoir.

Siebel, schon bei Goethe ohne Vornamen und Marguerite von Herzen zugetan, ist traditionell eine Hosenrolle für eine Mezzosopranistin. Regina Richter, aus dem Kölner Internationalen Opernstudio hervorgegangen, gibt ein überzeugendes sängerisches und schauspielerisches Debüt. Ebenso Lucas Singer, der als Famulus Wagner sehr gefällt. Etwas schwächlich am Anfang (der Rolle des Greises geschuldet?), aber später mit mehr Volumen stellt Alexander Fedin den alten Faust dar, der sich mühsam im Rollstuhl an der Rampe entlangschiebt
Die Oper Köln hat aus vielen Beschränkungen ebenso viele Tugenden gemacht. Das Orchester in voller Besetzung im quasi-Graben, zusätzliche Bläser (eigentlich Bühnenmusiker) rechts neben dem Parkettaufbau platziert. Riesensound! Ganz und gar wunderbar der Chor der Oper Köln, der mit differenziertem Klang und voller Tonqualität singt – nicht auftritt. Der reduzierte Chor links neben dem Aufbau, mit nur gelegentlichem, dann aber besonders impulsiven Kontakt zum Dirigenten. Alles unter den besonderen Regeln des Abstandhaltens!
Die sinnfällige Inszenierung verdankt die Oper Johannes Erath. Klug eingesetzte Videoprojektionen überbrücken beim Tanzen oder beim Zechen die Lücken, die Corona verlangt. Absolut überzeugend der Bühnenaufbau mit verstellbaren Blendenöffnungen. Daraus ergeben sich verschiedene Ebenen und wie mit einem Zoom lassen sich Nähe und Distanz erzeugen. Mitten ins Herz des Publikums geht Fausts Wunsch am Ende: Schließ deinen Arm um mich – wie damals. Der mit Walzer unterlegte Flashback weckt Sehnsüchte bei allen. Aber gibt es ein Zurück?
Weitere fünf Vorstellungen vom 8. bis 26. Juni 2021. Informationen und Tickets hier.

Ich schreibe auch für andere. Alle Details zu den Angeboten in meiner Schreibwerkstatt findet ihr auf mechthildtillmann.de. Schaut gern mal rein!
…und Mathilda ist wieder mittendrin…… 🙂 Greetings aus Zürich. A
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…und Mathilda ist wieder mittendrin! Greetings aus Zürich! Dein A.
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Jaaaaa …
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Ganz liebe Grüße aus Bonn!
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Danke für die Info
Habe mir sofort eine Karte besorgt für den 24. Juni.
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Dann wünsche ich jetzt schon mal viel Vergnügen! Bis bald dann wieder in Bonn!
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