Edgar Drakes diszipliniertes Leben definiert sich so: Er erschafft eine Ordnung, mit der andere Schönheit gestalten. Er stimmt Klaviere. Mit seiner Frau Katherine führt er eine beschauliche, harmonische, kinderlose Ehe. Zufrieden mit sich und der Welt hat er Zutritt zu den Bürger- und Adelshäusern in London – er hält zu allem Distanz und zieht sich am Abend in seine Werkstatt zurück, die seine Frau den Elefantenfriedhof nennt – wegen des Elfenbeins. Wir schreiben das Jahr 1886 und das Kriegsministerium Ihrer Majestät Queen Victoria schickt The Piano Tuner auf eine abenteuerliche Reise ins nördliche Burma mit dem einzigen Ziel, dort einen Konzertflügel zu stimmen.
Ein waghalsiges Unterfangen, wie das Instrument in den Dschungel gelangte. Ähnlich halsbrecherisch wie der filmische Wahnsinn Fitzcarraldos, im Urwald eine Oper zu bauen und dafür ein Schiff über einen Bergrücken zu ziehen. Der musische Mensch im britischen Außenposten entpuppt sich als ein höchst eigenwilliger Medizinoberst. Anthony Carroll will die umkämpfte Gegend befrieden, indem er mit den Clanführern der indigenen Bevölkerung auf Augenhöhe verhandelt und ihnen westliche Kultur nahebringt. Seine Feierabendbeschäftigung: die Odyssee in Shan, die Landessprache, zu übersetzen. Britische Kolonialpolitik zur Zeit des Empire sah anders aus; gnadenlose, gewalttätige Unterwerfung und schamlose Ausbeutung der Bodenschätze und Ressourcen.
Drake erlebt seine Reise von London mit naivem Staunen und keineswegs so draufgängerisch wie sein großer Namensvetter Sir Francis Drake, der vom Piraten zum Vizeadmiral von Elizabeth I avancierte und in deren Auftrag die erste Weltumseglung meisterte. Mysteriöse Zusammentreffen und magische Visionen stimmen ihn auf seine Zeit im Orient ein, wo die Nacht zum Tag wird und alle sinnlichen Eindrücke ihre westlichen Koordinaten einbüßen. Von Rangoon reist er per Schiff auf dem Irrawaddy River nach Mandalay und von dort über schmalste und steilste Gebirgspfade ins nordburmesische Gebiet zwischen Assam (British India) und Yunnan im chinesischen Osten.
Er taucht ein in die Klang- und Farbenwelt des Dschungels, ist fasziniert von der nächtlichen Theaterwelt des Landes. Seine Sinne schärfen sich im gleichen Maße, wie sein Wunsch, nach Hause zurückzukehren, abnimmt. Dies liegt auch an der geheimnisvollen Khin Myo, wohl die Geliebte des Doktor Anthony Carroll, die ihn in erotischen Träumen begleitet. Seine Uhr, ein Geschenk seiner Frau, versagt im feuchten Dschungel ihren Dienst – eine Metapher, denn dem Glücklichen schlägt keine Stunde.

Was Drake nicht weiß: Das britische Militär und auch der sagenumwoben undurchsichtige Carroll missbrauchen ihn für ihre jeweiligen Zwecke. Militärischer Ungehorsam auf der einen Seite, Vorwurf der Spionage auf der anderen – kurz, es kommt zu einem katastrophalen Showdown, der alles zerstört: Vertrauen, Menschenleben, den Konzertflügel.
Was überhaupt ließ denn den angesehenen, aber sehr bescheidenen Klavierstimmer Edgar Drake sein behagliches Londoner Leben aufgeben? In Burma wartete ein Erard auf ihn. Und nun gelingt es dem Autor Daniel Mason meisterhaft, das Handwerk des Klavierstimmens mit erzählerischen Komponenten der Abenteuerreise – übrigens eine Reise ohne Wiederkehr – zu verweben. „In jedem Klavier liegt ein Lied versteckt“, hatte Drake sein Ausbilder anvertraut. „Der Junge schüttelte den Kopf, das dumme Geschwätz eines alten Mannes, der fortfuhr: Die Bewegungen des Pianisten sind mechanisch, eine einfache Sammlung von Muskeln und Sehnen, die gerade mal die Grundregeln von Frequenz und Rhythmus beherrschen. Wir müssen die Klaviere stimmen, damit so banale Dinge wie Muskeln und Sehnen und Tasten und Drähte und Holz zu Musik werden.“
En passant erfährt der Leser die Grundzüge und Vorteile der Stimmung nach den Regeln des Wohltemperierten Klaviers, die Bach in ebendiesem Werk zur Meisterschaft erhebt. „Es macht einen doch nachdenklich, (…) warum ein Mann, der Melodien so voller Verehrung und Glauben komponierte, die größte seiner Fugen nach dem Akt des Klavierstimmens benannte.“ Was hat es nun mit dem Erard auf sich? Sébastien Érard hieß einmal mit deutschen Namen Erhardt und stammte aus dem Elsass. Er revolutionierte das Klavierspiel mit einer bahnbrechenden Erfindung. Durch die doppelte Auslösung des Hammers schuf er die mechanische Voraussetzung für das atemberaubende technische Klavierspiel eines Franz Liszt und vieler anderer Virtuosen der Zeit. Diese Details lässt der Klavierstimmer in einem Militärlager im burmesischen Dschungel einfließen. Auch, wie er das gesprungene Klangbrett mit Bambus auffüllt: Es würde bei der hohen Luftfeuchtigkeit leichter adaptierfähig sein als starres europäisches Holz.

Daniel Mason schrieb den Roman mit 26 Jahren. Wunderbar, wie er medizinische Themen wie Carrolls Vermutung, dass die Mücken Malaria übertragen, mit musikalischen Details kombiniert und in eine kolonialkritische Zeitreise einbettet. Die Struktur des Werks hat er parallel zu Bachs Wohltemperiertem Klavier angelegt: 24 Kapitel mit „Präludium und Fuge“. Der Dschungelikone Carroll gelingt es mit mehr als sanftem Druck, Drake zum Spielen vor illustren burmesischen Gästen zu bringen. Und der verliert sich zwei Stunden lang in Bachs „Klavierstimmerstück, im Erforschen der Klangmöglichkeiten. Er hatte es immer Bachs Testament für die Kunst des Klavierstimmens genannt. (…) Mit den nun gleichmäßig angeordneten Noten schienen die musikalischen Möglichkeiten nun endlos.“
Endlos hätte auch Drake im Dschungel bleiben mögen. Seine Situation ähnelt der von Odysseus, der am liebsten bei Circe länger oder für immer verweilt hätte, wie Carroll ihm als Vermächtnis mitgab. Homer legt seinem Helden in den Mund: Meine Männer wollten hier bleiben, bei den Lotus essenden Menschen, sich selbst von den honigsüßen Früchten des Lotus ernähren, und die Heimfahrt einfach vergessen. Die handschriftliche Widmung dazu: „Für Edgar Drake, der davon gekostet hat.“
Daniel Mason, Der Klavierspieler Ihrer Majestät, 2020
Daniel Mason, The Piano Tuner, New York, 2002

Ich schreibe (auch) für Sie! Nicht nur Romane halten Schicksale fest, sondern jede eigene Lebensgeschichte ist es wert, schriftlich festgehalten zu werden. Sie haben etwas zu sagen, aber es fehlen Ihnen oft dazu die Worte? Die steuere ich bei. Schauen Sie gern mal in meiner Schreibwerkstatt auf mechthildtillmann.de vorbei.
Liebe Mechthild Tillmann,
heute muss ich Ihnen einfach schreiben! Wir haben uns im Staatenhaus in Köln kennen gelernt- mein Mann ist Michael Cramer- der mit „KulturCram“. Wenn schon nix mit Oper oder Theater ist, dann bleibt immer noch Lesen. Das scheinen Sie genau so zu sehen wie ich. Das Buch, was Sie in Ihrem Newsletter besprechen, liegt seit 3 Tagen auf meinem Wohnzimmertisch. Allerdings bin ich erst auf Seite 86 – daher werde ich ihre Besprechung noch nicht lesen, damit die Neugierde bleibt.
Mit ganz fröhlichen Grüßen von Köln ( wir wohnen inzwischen hier) nach Bonn, Marita Cramer
Von meinem iPad gesendet Mit freundlichen Grüßen Marita Cramer vivace@t-online.de Tel.:01715188005
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