Liebe, Sex, Macht, Eifersucht, Mord und ein Todessprung aus dem Fenster – Written on Skin bietet den wohlbekannten Stoff und die Leidenschaften einer dramatischen Oper, wie sie auch im 19. Jahrhundert hätte entstehen können. Aber rund um einen spannenden und stark verdichteten Plot gestalten der zeitgenössische Komponist George Benjamin und sein kongenialer Librettist Martin Crimp ein ungeheuer vielschichtiges Bühnenwerk. Genau zweieinhalb Jahre lang zog sich Benjamin in vollständige Klausur zurück, bevor Written on Skin 2012 beim Festival d’Aix-en-Provence seine Premiere feierte.
Ein kurzer Blick in die Vorgeschichte. Der Generaldirektor des Festivals, Bernard Foccroulle, gab bei Benjamin und Crimp eine Oper in Auftrag, verknüpft mit einem Wunsch. Sie solle an die Stadt Aix und die flirrende Sommerhitze im Juli, an die Zeit des Festivals, gebunden sein. Crimps Tochter studierte gerade Mediävistik in Cambridge und von dort kam die Empfehlung ihres Professors, die Geschichte eines Troubadours aus dem frühen 13. Jahrhundert als Quelle zu nutzen: Le cœur mangé von Guillem de Cabestany.
Die lineare Erzählung lautet eingängig genug. Ein sehr reicher und mächtiger Mann heiratet das 14-jährige unschuldige Mädchen Agnès, illeterat und völlig ungebildet. Unfähig zur Liebe vernachlässigt er sie und baut stattdessen seine Herrschaft auf grausame Weise aus. Sie verkümmert nahezu, bis ihr Mann einen jungen Schreiber ins Haus holt, der die Geschichte der Familie in paradiesischen Farben malen soll. In Bildern und Worten. Die beiden jungen Leute verlieben und vereinen sich. Der Gatte wird misstrauisch, stellt seine Frau genauso zur Rede wie den jungen Mann. Die eine streitet alles ab, der andere gesteht ein Verhältnis mit der Schwester, um den eigentlichen Betrug zu vertuschen. Der Mächtige rast vor Eifersucht, tötet den Nebenbuhler und schneidet ihm das Herz aus den Rippen. Dies lässt er delikat zubereiten und der Gattin zum Abendessen reichen. Er offenbart seine schändliche Tat, die Agnès aber kalt lässt. Nie habe sie Köstlicheres gegessen und so verleibe sie sich den Geliebten auf ewig ein. Bevor der Herrscher sie nun auch umbringt, springt sie aus dem Fenster in den tödlichen Abgrund der Burganlage.
Soweit die Story. Eindeutig, mörderisch, kannibalistisch. Im 21. Jahrhundert allerdings hat sich die Welt in derart komplexe Strukturen entwickelt, dass die Kunst ihr mittels mehrfacher Dekonstruktion nachspürt. Im Mittelpunkt steht nicht ein Thema, sondern 90 Minuten Oper beleuchten 2000 Jahre menschliche Grunderfahrungen in philosophischer, psychologischer, historischer, soziologischer und existenzialistischer Hinsicht.
Schauen wir zunächst mal hin. Die Bühne zeichnet Ödland. Sandige Hügel, verdorrte Bäume und Äste, kein Haus, keine Zuflucht. Post-apokalyptisch, ein Nachkriegsszenario? Dürre und Unfruchtbarkeit nach jahrzehntelanger Trockenheit ohne Regen? Beides menschengemacht?
In dieser menschenfeindlichen Szenerie schreiten die Personen in prächtigen Gewändern einher. Schnitte und Stoffe der Kostüme dem Hochmittelalter oder der Frührenaissance entliehen, alle Figuren in mehrere Stofflagen gekleidet. Auch das hat seinen Sinn. Im Verlaufe der Handlung „häuten“ sie sich gleichermaßen und aus Herrschern, unschuldigen Kindfrauen und heilsbringenden Engeln werden Alltagsmenschen in Jeans, T-Shirt und Sneakers. Die Konflikte auf der Bühne werden alltagstauglich.

Der Wandler zwischen den Welten erscheint uns als Engel. Er tritt aus dem himmlischen Trio heraus und in die Welt des Herrn, des Protektors, des Beschützers hinein. Die Glorifizierung des Herrschergeschlechts soll er auf Pergament schreiben. Diese erste mobile Schriftunterlage bestand aus gegerbten Kuh- oder Ziegenhäuten. Daher rührt übrigens die Redensart „Das geht auf keine Kuhhaut“, wenn etwas das übliche Maß weit übertrifft. Im Englischen ist diese Bildlichkeit unbekannt.
Das Bühnenbild spiegelt sich im Katastrophenszenario, das die drei Engel als Prolog darbieten. Ohne Ouvertüre setzt das Orchester fortissimo ein. Also volle Aufmerksamkeit, volle Konzentration. Arien Fehlanzeige, stattdessen alle Gesangspartien im Arioso. Dabei verlangt die Partitur den Sängerinnen und Sängern alles ab. Bezeichnend für die Partie der Agnès die Oktavsprünge. In den dramatischen Szenen schnellt die Stimme nach oben, um sogleich zur Ausgangslage zurückzukehren.
Archaische Elemente mischen sich mit symbolträchtigen Details, biblische Zitate mit jahrhundertealten Kriegsgräueln. Das Ambiente wie in „Warten auf Godot“, die erlösend-verherrlichende Präsenz des menschgewordenen Engels, das Kind mit dem Konnex zum Paradies. Engel unter Menschen sind aus Literatur und Film geläufig, kommentierende Engel wie im griechischen Chor auch. Aber ein Engel, der Liebhaber (auch homoerotisch) und Opfer eines Mords wird – ein Novum.

Dabei hat der Regisseur Benjamin Lazar auf Sand gebaut. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und verzichtet fast vollständig auf Requisiten. Zeigte die euphorisch gefeierte Uraufführung der Oper 2012 noch ein Blatt Pergament und Schreibutensilien, zerläuft hier alles im Sande. Alles, aber wirklich alles gerät zur Imagination, auf dem Treibsand fehlt jegliche Sicherheit. Sein und Schein zerrinnt den Figuren zwischen den Fingern. Crimps Sprache erinnert an Samuel Beckett und Harold Pinter: einfache Parataxe, surreale Verknüpfungen.
Crimps genialer Kunstgriff besteht darin, die dramatis personae über sich selbst in der dritten Person sprechen/singen zu lassen. Anstatt mit dem Pronomen „I“ bezeichnen sie sich als „the boy“ oder „the protector“. Diese Ausdrucksweise manifestiert die Zuschreibungen an die Rollen der Akteure. Deshalb geht Agnès‘ Erwachen – in emanzipatorischer und sexueller Hinsicht – einher mit ihrer Ich-Werdung. „I am not the woman, I am Agnes.“ Und was leitet the boy daraus ab? „Love is not a picture. Love is an act.“ Die beiden, die nun das „du“ im jeweils anderen erkennen (Der Mensch wird am Du zum Ich, Martin Buber), gehen ab. Stille. Generalpause. Lange. Der Liebesakt off-stage.
„This book will be magnificent“, gerät der Protektor ins Schwärmen, glückselig über seine eigene Großartigkeit. Rings a bell? Die subordinierte Frau, die grenzenlose Selbstüberschätzung, das gewaltsame Durchsetzen eigener Interessen (to protect the family), die kaltherzige Ignoranz gequälten Kindern gegenüber, die Unfähigkeit zu echten Gefühlen – vier Jahre bevor der scheidende US-Präsident all das auf der Weltbühne inszenierte, zeichnen Komponist und Librettist hier den Prototyp des Potentaten.
Der Junge präsentiert schließlich das Ergebnis dessen, was er mit Worten malte. Horrorszenarien, angelehnt an Auschwitz und Vietnam sowie surreale Bilder von menschlichem Fett, das die Straßen hinabfließt. Gleißende Dissonanzen begleiten die Wut des Protektors: „Let him cry blood.“ Er verlangt eine neue Seite, wischt alles Vorherige fort. „If this is paradise, says Agnès, then where is hell?“ Agnès, das Lamm, die Unschuldige, die nicht einmal lesen kann und natürlich in dieser lebensfeindlichen Welt unfruchtbar ist.
Die unbeherrschte Wut und die Raserei des Protektors (wie von anderen Bass-Baritonen bekannt) steigert sich ins Unerhörte, in das Überschreiten sämtlicher Konventionen der Menschlichkeit. Wir erleben ihn als gequälte Kreatur, besessen vom Gedanken der Rache und des Auslöschens. Seinen Mord an dem auch Narziss ähnlichen Jungen begleitet das Orchester in brutaler, gewaltiger Klangfülle. Schönheit gegen Macht, Kunst gegen Gewalt.
Ein letztes Mal unterwirft er Agnès, zwingt sie, das Herz des Geliebten zu verspeisen. Die Glasharmonika erzeugt dazu als Gewürz einen penetranten, leisen, aber quälenden Beigeschmack. Die mörderischen Absichten ihres Mannes allerdings vereitelt Agnès mit einem Akt der Selbstbestimmung: In der ultimativen Vereinigung mit der einzigen Liebe, die sie je erfahren hat, springt sie aus dem Fenster.
Finale. Kein Bühnentod, kein Lamento, keine gebrochenen Figuren. Stattdessen erzählt the boy den Ausgang der Geschichte. Lakonisch, unbeteiligt. „This shows the woman falling.“ In kalter Faszination beäugen die anderen beiden Engel das Bild of this „human disaster.“ Und dann … dann nimmt das Geschehen eine märchenhafte Wendung. Der Junge/Engel fängt Agnès im Fall auf und malt sie als „black silhouette on blue“ an den Himmel.
Packend der Plot, sensationell die massive Wucht und die ziselierte Finesse der Musik. Absolut fesselnd, wie das Gürzenich Orchester unter François-Xavier Roth das Tonale im Wechsel mit Atonalem umsetzt. Als das Alter Ego von Agnès erscheint Margaux Blanchard mit der Viola da Gamba auf der Bühne. Wenn die Stimmung „dark, damp and heavy“ anklingt, führt sie den Bogen.

Das Ensemble ausgezeichnet besetzt, nahezu ausnahmslos als Rollendebüts. Chapeau! Hervorragend in seiner Arroganz ebenso wie im homoerotischen Faible für den Jungen, abstoßend und unmenschlich im Vergeltungsakt agiert Robin Adams als der Protektor. Seine bassige Baritonstimme wie für die Partie gemacht. Dino Lüthy glänzt als frischer, unverbrauchter Tenor mit großer Spielfreude als 3. Engel. Auf der gleichen Ebene singt und spielt Judith Thielsen, Mezzosopran. Sie gibt die Hetäre mit wildem Blondhaar und im sexy roten Abendkleid sinnlich und selbstbestimmt, nachdem sie zuvor als 2. Engel angepasst assistierte und kommentierte.
Nicht umsonst heißt es im Englischen „letting one’s hair down“, wenn man wirklich einmal über die Stränge schlägt. So öffnet auch Agnès ihr dunkles, schweres Haar, das zu Beginn unter einer Beginenhaube verborgen war. Magali Simard-Galdès, Sopran, entwickelt die Figur vom verletzten, verängstigten Mädchen zur geliebten Frau, deren Augen in der Liebesszene von Grau in Schwarz schillern, sehr glaubwürdig. Bravourös meistert sie eine extrem anspruchsvolle Rolle. Als Star des Abends allerdings entpuppt sich der Countertenor Cameron Shahbazi. Ein junger Sänger, über den man und frau sagen möchte, dass er einfach unverschämt gut aussieht und mit seinen good looks bezaubert – wenn es nicht ein kleinwenig sexistisch wäre. Aber auch ohne seine blendende Erscheinung betört seine kristallklare Stimme, ergänzt durch weiche, geführte Bewegungen, die im quasi Liebesduett für die hohe emotionale Dichte sorgen.
Mit dem Bericht über aufgestapelte Leichen auf einem samstäglichen Supermarkt-Parkplatz entlässt uns das Geschehen aus seinem verstörend-faszinierenden Griff. Und zack ist der Bildschirm schwarz. Meine Sitzung ist beendet. Ich verharre dennoch sitzend. Und blicke mich um. Nein, da ist tatsächlich nur das häusliche Ambiente, da klatscht niemand, da entlädt sich keine Spannung. Auch wenn die zahlreichen Kameras den Figuren so nahe rücken und die Mikros einen makellosen Gesang übermitteln – dem digitalen Opernhaus fehlen das Publikum, die Interaktion, die Resonanzen und die menschliche Wärme.
Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung der Oper Köln, © Paul Leclaire
Hier zwei Interviews mit Sir George Benjamin über seine Arbeit an Written on Skin