Einzigartig an deutschen Theatern! Der Kinder- und Jugendchor des Theater Bonn bringt jährlich eine eigene Produktion auf die große Bühne der Oper Bonn. Johann Wolfgang von Goethe liefert den Stoff für das musikalische Traumspiel: das Drama um den Universalgelehrten Faust, der – obwohl selbst Theologe – einen Pakt mit dem Teufel schließt. 60 Jahre lang hat Goethe den Faust immer wieder bearbeitet und heraus kam ein Stück, das die Geistesgeschichte der Zeit und die innere Zerrissenheit des Protagonisten abbildet. Wie fließt das in eine Art operale Neukomposition, ins musikalische Traumspiel ein?
Eklektisch! 40 Jahre länger als die Immer-wieder-Überarbeitung des literarischen Werks umfasst die zeitliche Spanne der Musikelemente, die hier verwoben werden. Beethoven und mehr Beethoven, von der unverwüstlichen Elise hin zum Floh(lied), von der Marmotte zu einzelnen Sätzen aus den großen Sinfonien. Zeitlebens als Rivalen sind Giuseppe Verdi und Richard Wagner bekannt, ebenso wie Charles Gounod und Arrigo Boito als Konkurrenten, die beide eine Faust-Oper komponierten. Robert Schumann und Franz Liszt, beide romantische „Faust-Komponisten“, aber einander wenig zugetan. Zu sphärischen Klängen der 8. Sinfonie von Gustav Mahler zieht Gretchen Faust in die Höhe, bevor der Chor das Ewigweibliche zu Liszt-Klängen besingt.
Was auf den ersten Blick verwirrend scheint, spiegelt auf der Bühne und im Konzept von Jürgen R. Weber und der Chorleiterin, Dirigentin und Arrangeurin Ekaterina Klewitz die zeitunabhängige und immanente Disbalance des Menschen wider. In der Dichtung wie in der Musik mischen und ergänzen sich Elemente des Sturm und Drang, der Aufklärung, der Klassik und der Romantik. Gleichermaßen schön und abwechslungsreich wie irritierend: Da stehen märchenhafter Zaubertrank neben der Gelddruckmaschine des Kaisers, Hexen neben weltlichem Gericht wegen Kindsmords.
Mit der Tragödie erstem Teil, dem Faust I, sind die meisten sicher vertraut, Oberstufenlektüre nicht nur in Deutschland, sondern zumindest europaweit. Im Mittelpunkt des Dramas der alte Gelehrte, gelangweilt von der Welt und überzeugt davon, alles Geistig-Intellektuelle erworben zu haben. Er lässt sich auf den Pakt mit dem Teufel ein, der ihm Jugend, Schönheit und erotische Ausstrahlung als Preis für seine Seele verspricht. Dieses „Was bisher geschah“ bietet der Regisseur Jürgen R. Weber selbst schauspielernd dar. Schockschwerenot! Teufel aber auch! Welche Veränderung! Kennen wir ihn alle doch mit wallendem Haupthaar, dichtem grauen Bart und schwarzer Sonnenbrille, präsentiert er sich hier kahlgeschoren und bartgetrimmt. Ob seine Idee, den Faust-Stoff kreativ neu zu gestalten, auch in seinen persönlichen Fragen ans Leben begründet liegt?

Die Gretchentragödie berührt. Das Mädchen verabreicht der Mutter die tödlichen Tropfen, trägt die Schuld am Tod ihres Bruders Valentin und ertränkt ihr Kind. Wir wissen: Sie wird errettet durch die göttliche Gnade. Aber sie, die weder Fräulein ist noch schön, und ungeleit nach Hause gehen kann, lässt sich durch die glitzernden Preziosen blenden. „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles! Ach wir Armen!“
Ja, der Mammon verdirbt die Menschen, macht sie zu Potentaten, die ihr Volk mit Papierlappen statt echtem Gold gefügig machen. Hier passt natürlich die Kaiser-Episode aus Faust II perfekt, sie transportiert Webers Kritik an der turbokapitalistischen Welt. Aber wer hat heute der Tragödie zweiten Teil so fix parat? Das Traumspiel mäandert durch die beiden Teile des Dramas, auch mit der Faust-Helena Geschichte. Die beiden zeugen einen Sohn, ohne Sex zu haben, in höheren Gefilden. Natürlich muss dieser Sohn Euphorion sterben, solch ein Geschöpf ist lebensunfähig. Weber übernimmt in seiner Regie, wie Goethe den Wahn seines Protagonisten ins Unermessliche steigert. Nicht nur das Bürgermädchen fällt in sein Beuteschema, sondern die schönste Frau der Welt, Helena aus der antiken Mythologie.
Die szenische Dramaturgie fügt zu neuem Sinn zusammen, was bisher so nie zu sehen war. Und spielt der musikalischen Auswahl in die Hände. Oder vielleicht war es umgekehrt – prima la musica?* Auf jeden Fall bietet das musikalische Traumspiel dem Publikum reichlich Raum, selbst zu verknüpfen und zu deuten.
Augen und Ohren sind natürlich auf die 55 Kinder und Jugendlichen gerichtet, die eine fantastische Leistung auf der großen Bühne vollbringen. 100 Minuten still stehen gilt für die hinteren Reihen, die weniger Anteil am schauspielerischen Geschehen haben, aber gleichzeitig Kraft und Stärke in die Chöre bringen. Eine weitere Herausforderung? Ekaterina Klewitz, die das Stück in Kleinstgruppen und unter striktesten Sicherheitsvorkehrungen probte, dirigiert das Beethoven Orchester Bonn aus einem maximal abgesenkten Graben. Zusätzlich schirmt ein eigens gespanntes Grabentuch das Orchester vom Bühnengeschehen ab. Große Distanz also, wo doch die Chorleiterin und Dirigentin Ekaterina Klewitz so viel von ihrer Energie über die Körpersprache vermittelt. Die Sängerinnen und Sänger erleben sie nur über den Monitor.

Auf der Bühne beherrschen zwei gut drei Meter hohe Podeste die Symmetrie. Links oben die Valentin-Sänger und auf gleicher Höhe die Gretchen-Gruppe. Gleich darunter das Euphorion-Ensemble und mittig die schöne Helena in stimmlicher Vielfalt. Bewegung bringt eine räumlich begrenzte, aber geschickte Choreographie ins Spiel. Alle Kostümvarianten tragen die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne gleich am Körper. Die Gewandmeisterei hatte Umhangschürzen genäht, die sich in ein nonnenhaft-jungfräuliches Outfit genauso verwandeln wie in die lässige Rapper-Kutte. Bewundernswert, wie fingerfertig die Chormitglieder beim Singen das Teil drehen und wenden, schnüren und knoten.

Unter die Haut gehen die Soli von Susanna Kilian, Sarah Rölli, Victoria Telegina (mit Gitarre) und Klaus Essler. Da singen die Nachwuchstalente nahezu auf dem gleichen Niveau wie die Profis. Das Bonner Publikum war gespannt auf die Debüts der neuen Ensemblemitglieder; der Tenor Santiago Sanchez gab als Faust und der Bariton Vincenzo Neri als Mephisto seinen Einstand. Selber jung und frisch fügen sie sich unauffällig in den Kinder- und Jugendchor ein. Denn die Bühne gehört in diesem Stück eindeutig dem Chor im vielstimmigen Gesang – im walzernden Soldatenchor genauso wie Kapitalismus-Rap oder am Schluss in Liszts „Das Ewigweibliche zieht uns hinan“. Große Kunst für große Gefühle!
Das BOB spielte in kleiner Besetzung. Insgesamt 12 Musikerinnen und Musiker halten im Graben den angemessenen Abstand: Streicher, Flügel und ein großes Schlagwerk für das Volumen. Tobias Marc Rüger erweist sich im Plexiglas-Container als kongenialer Instrumentalist am Tenor- und Sopransaxophon. Er rockt die Bühne: rotzig beim Rap und zärtlich bei der Liebesgabe.
Die Oper Bonn zeigt hier eindrücklich, wie der unermüdliche Einsatz einer top engagierten Chorleiterin, die Kooperation mit Bühne und Orchester und der Einfallsreichtum eines vielseitigen Regisseurs trotz aktueller Widrigkeiten in ein erfolgreiches Projekt münden. Vor allem beweist FAUST, ein musikalisches Traumspiel, die Liebe der jungen Bonnerinnen und Bonner zum Musizieren und Singen. Bei solch hochkarätigem Nachwuchs geht das Publikum mit der Gewissheit aus der Vorstellung: Die Oper lebt!
Weitere Vorstellungen und Details zu Inhalt und Terminen finden Sie hier.
Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung des Theater Bonn, © Thilo Beu
*Das Internet weiß Bescheid. Bereits 2018 hat Jürgen R. Weber „den alten Faust im neuen Gewand“ mit Studierenden in Lübeck aufgeführt. Texte und Musik lagen also für die Bonner Inszenierung bereits vor.
In Sommers Weltliteratur finden sich zwei Videos, die einigermaßen respektlos mit Playmobilfiguren Faust I und Faust II interpetieren. Unbedingt mal anschauen!
Klingt faszinierend.
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