Calisto – zu den Sternen

Als blau glänzender Saphir erstrahlt Calisto samt ihrem Sohn am Firmament – die Sternbilder Großer und Kleiner Bär sind geboren. Aber wer ruft eine mädchenhafte Waldnymphe aus dem Gefolge der Diana in den Himmelssitz der Unsterblichen? Der Wille des Schicksals, das in mythischen Zeiten die Götter entschieden. Wie der ewig liebeshungrige Jupiter, seine stets eifer- und rachsüchtige Gattin Juno sowie die Jagdgöttin Diana und der Hirtengott Pan mit dem Schicksal der Sterblichen verfahren, davon erzählt die Barockoper La Calisto von Francesco Cavalli an der Oper Bonn.

Ovids Metamorphosen, also Geschichten vom Schicksal, das sich wandelt, liefern den Stoff für diese märchenhaft schöne Inszenierung des antiken Schauspiels um Liebe und Rache, Macht und Unterwerfung, Natur und Himmelssphären. Das mythologische Ensemble, die dramatis personae dieser Oper nach dem Libretto von Giovanni Faustini, fächert eine hierarchische Götter- und Menschenordnung auf.

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Die Protagonisten erfreuen sich auch 2.000 Jahre nach Ovids Niederschrift noch großer Beliebtheit. Jupiter/Giove/Zeus, vom unstillbaren Sexus getrieben, erliegt regelmäßig seinem love-at-first-sight Impuls. So trifft er auf Calisto, eine unscheinbaren Nymphe, die nach Diana-Regeln der Keuschheit verpflichtet ist. Sie beschwört ihre dolce libertà, ihre süße Freiheit, die sie nie einem Mann opfern wird. Es kommt anders. Jupiter verfügt über ein sensationelles Talent, in andere Rollen zu schlüpfen: diesmal in die Gestalt der züchtigen Diana, der moralischen Instanz und Herrin Calistos. Besonders perfide, aber die Verkleidung führt zum Erfolg. Der Blitz schlägt ein zwischen den beiden und von dolci baci, süßen Küssen, führt eins zum anderen. Wie Goethes lyrisches Ich das Heideröslein brach, so nimmt sich Jupiter, was er begehrt.

Die Macht des Herrschenden! Hatte Jupiter doch vorher eindrucksvoll bewiesen, dass er die dürre, menschenfeindliche Apokalypse des Weltuntergangs mit einem Fingerschnippen in ein fruchtbares, blühendes Ambiente verwandeln kann. Er lässt Wasser fließen, das kostbarste Gut auf einem verbrannten Planeten. Himmlisch, wie die Lichtregie und die wunderschönen Videoprojektionen von fettFilm Handlung und Gesang untermalen!

Nun gesteht Calisto ihrer Herrin Diana liebestrunken ihr amouröses Stelldichein. Untragbar für die keusche Jagdgöttin, ein gefallenes Mädchen in ihrer Entourage zu dulden. Sie jagt Calisto mit Schimpf und Schande davon. Aber in Doppelmoral sind die Unsterblichen unschlagbar. Denn „wer zu betrügen weiß, wird immer siegen“.

Diana verzehrt sich nämlich schmachtend nach Endimione, einem wandernden Hirten. Weder standesgemäß noch zur Erfüllung bestimmt, diese Schwärmerei. Betörend das Liebesduett der beiden, verkörpert von Charlotte Quadt und Benno Schachtner, die sich von Mezzo zu Countertenor quasi die Töne auf die Stimmbänder übergeben. Köstlich der gesangliche und physische beinahe-Absturz aus dem verzückten wet dream des Hirten.

Um die erotisch-emotionale Gemengelage weiter zu verzweigen, mischt sich Pan, der Hirtengott, eifersüchtig ins Liebesgeschehen des ungleichen Paares ein.

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Von links: Ava Gesell, Charlotte Quadt, Benno Schachtner, Giorgos Kanaris, Martin Tzonev, Susanne Blattert

Er reklamiert seinen Platz als ebenbürtiger Verehrer der Diana und schafft Endimiome gewaltsam von der Bildfläche. Gleichzeitig mischen zwei Elemente der commedia dell’arte nun mit. Linfea sucht verzweifelt einen Mann und der kleine Wirbelwind Satyr hat eine diabolische Freude an allen durchkreuzten Plänen der Akteure. Die eine sorgt für die Lacher im Gefühlschaos, der andere für ein rasantes Tempo und kecke Schadenfreude.

Hier erhebt nun die Regie das Vexierspiel im Ensemble auf die Spitze. Jupiter in seiner göttlichen Macht und Güte am Anfang und am Ende verleiht Tobias Schabel seinen schönen, schlanken Bass. Himmelsblau im Bühnenoutfit und ein üppiges Blondhaar geben ihm ein royales Ansehen. ABER: Als Verführer tritt er im Kostüm der Diana auf, unterscheidbar nur durch den goldenen Flügel auf der Schulter. Eine Frau singt die Mezzo-Partie eines Mannes, der eine Frau spielt. Kieran Carrel, der samtweiche Tenor, übernimmt die Partie der sehnsüchtigen Linfea und Ava Gesell gibt den trolligen Satyr, also der Sopran den lüsternen Waldgeist, und die Mezzosopranistin Susanne Blattert den eitlen Pan. Benno Schachtner als weicher, verklemmter Endimione und als Countertenor zwischen festen Zuschreibungen, Marie Heeschen als kühl-gestylte Juno, Martin Tzonev als waldschratiger Silvano und Giorgos Kanaris als Merkur, der Gott der Händler und Diebe, bleiben in ihrer biologischen-stimmlichen Identität.

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Lada Bočková in der Titelrolle

Und natürlich La Calisto, die zunächst sittsame, dann verführte Titelheldin, die Sopranistin Lada Bočková in ihrem Debüt, mit dem sie sogleich die Augen, Ohren und Herzen der Bonner eroberte.

Als die Oper vor 370 Jahren in Venedig zur Uraufführung kam, begann die Blütezeit der Kastraten – alle Rollen lagen sowieso in den Händen oder besser in den Kehlen von Männern. Das Spiel des Regisseurs Jens Kerbel mit den wechselnden Geschlechterzuordnungen mag durchaus der aktuellen Genderdiskussion geschuldet sein. Wie viele Facetten von Identitäten gibt es zwischen ♂ und ♀? Weitere aktuelle Bezüge, die ziemlich sanft in die Ästhetik der Inszenierung eingestreut sind: das Hairstyling des Chefs à la Trump, die grauenhafte Vision einer verdorrten, unfruchtbaren Erde ohne Wasser, die Sonneneklypse, das Abschieben der Unerwünschten in tiefe, finstere Kellerlöcher und schließlich die Sexualisierung von weiblichen Opfern, die die „Schuld“ tragen am Geschehen.

„Irre sind alle, die an Amor glauben.“ gehört zu den vielen kernigen Aussagen über das ewig alte und gleiche Spiel zwischen den Geschlechtern. Wir erfahren, dass alle Weiber liebestoll sind, dass die betrogenen Ehefrauen stets das Nachsehen haben, weil die Ehemänner in der Nacht müde und unwillig sind. Und aus der anderen Perspektive: „Wer Frauen Glauben schenkt, sät ins Wasser.“

Aber der Spaß hat wie immer tiefere Bedeutung, wunderbar zum Ausdruck gebracht mit dem Bühnenaufbau, der sinnträchtigen Treppenkonstruktion. Ganz klar, wer oben und wer unten agiert, steht auf hierarchischen Rangstufen. Völlig selbsterklärend, wer die ganze Klaviatur der Treppenstufen beherrscht: der findige Merkur, Jupiters sidekick. Hier glänzt Giorgos Kanaris sängerisch und darstellerisch mit neuen Schritten im goldenen Schuhwerk. Sehr cool das halbe Langhaar, das er immer wieder justiert, wenn ihm das Geschehen wenig behagt.

Nun, hier herrscht das goldene Gesetz. Wer das Gold hat, macht die Gesetze. Jupiter vermag nicht zu verhindern, dass Diana Calisto verstößt und Juno sie in einen Bären verwandelt, sie also ihrer Menschlichkeit beraubt. Die Ranghöchsten also besonders strikt mit ihren Strafen. Keine Verschwesterung, nirgends. Sie legen nicht dem alten Schwerenöter das Handwerk, sondern erniedrigen und bestrafen das Opfer.

Aber glücklich macht das niemanden. Der einzige Trost, den Jupiter seiner jungen Liebe spendet: Ambrosia wird sie unsterblich machen, sie erwarte eine vita eterna al cielo, ein ewiges Leben am Himmel. So gehen sie ab, die Irdischen, enttäuscht, geschlagen. Schön zu beobachten, wie Endimione und Calisto gleichzeitig langsam auf das Himmelszelt zusteuern: gebeugt, von den Göttern gestraft.

Von links: Ava Gesell, Susanne Blattert, Giorgos Kanaris, Charlotte Quadt, Benno Schachtner, Lada Bočková, Tobias Schabel, Marie Heeschen, Kieran Carrel

Musikalisch verwöhnt die Oper La Calisto mit einem instrumentalen und gesanglichen Genuss auf hohem Niveau. Alle Einzeldarbietungen großartig! Wie schön, nach einer Dürrezeit von sieben Monaten! Der Graben ist auf die halbe Höhe gefahren, wo Hermes Helfricht am Pult mit 10 Musikerinnen und Musikern ein überzeugendes Barockfeeling mit heutigen Instrumenten gestaltet. Toll im Klang dabei die theorbierte Langhalslaute und das Spinett. Und wie stolz kann Bonn auf sein Opernensemble sein! Fein gestaltete Solopartien (Cavalli unterschied noch nicht zwischen Rezitativ und Arie), zu Herzen gehende Duette und das Schlusstutti mit dem Ruf nach Calisto – wunderbar!

Wie gut, dass Cavalli – wie seine Zeitgenossen im Barock – die Oper nur spärlich notierte. So bleibt in den Koloraturen der Solisten Raum für ihre stimmlichen Finessen und für lautmalerische Effekte wie Häme, Lust und Freude. Da wiehert es testosterongesteuert und es meckert eine Ziege. Ein humorvoller Opernabend mit Tiefgang und einem fantastischen Ensemble. Der Sangeskunst, der Kostüm- und Bühnenwerkstatt und der Spielfreude sei Dank!

Weitere Termine und Details zu den nächsten Aufführungen finden Sie hier.

Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung des Theater Bonn, (c) Thilo Beu

Jens Kerbel hat dem Stück ein Gedicht vorangestellt, das im Programmheft einen guten Platz gefunden hätte.

Am Ende, wenn die Welt vergeht
und kein Gedicht weiß, wer wir waren.
Wenn kein Atom mehr von uns steht
seit zwölf Milliarden Jahren.


Wenn schweigend still das All zerstiebt
und mit ihm auch die letzten Fragen.
Wird es die Welt, die’s nicht mehr gibt,
niemals gegeben haben.


Wolfgang Herrndorf (1965 – 2013),
Aus dem Blog: Arbeit und Struktur, den er während seiner schweren Krebserkrankung schrieb, bis er seinem Leben selbst ein Ende setzte.

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