Staatstheater – 50 Jahre danach

Kein Skandal, nirgends. Als 1971 Mauricio Kagels Staatstheater zum ersten Mal auf dem Spielplan stand, gab es Bombendrohungen und Polizeischutz. Gesellschaftlich und politisch stellte die junge Generation alle Institutionen der bottbiederen Nachkriegsrepublik infrage. Und Kagel sezierte die Oper. Altehrwürdig das Repertoire, dominant die Maestri im Graben, „zeitgenössisch“ die Regie, „stiefstaats“ gewandet das Publikum. Da war die Anti-Oper nahezu fällig. Was von Kagels revolutionären Ideen ist in Bonn knapp 50 Jahre später zu erleben?

Bunt, nahezu schrill präsentiert sich das ehemalige Skandalstück zum Einstieg in den Spielbetrieb nach gut sechsmonatiger Pause. Es gibt viel zu sehen! Genau darin liegt die Krux von Staatstheater, so wie Jürgen R. Weber es inszenierte. Er gestaltet gleichermaßen einen Anti-Kagel. Der Komponist wollte raus aus der traditionellen, vom Publikum goutierten Oper. Seine Partitur umfasst 100 Seiten. Unspielbar? Ja und nein. Denn Kagel übertrug die Hoheit über das Werk auf der Bühne dem Produktionsprozess, also der musikalischen Professionalität und Kreativität der Akteure. Eine erzählte Handlung, den Plot, lehnte er ab. Die Musik sollte den größten Raum einnehmen, frei interpretiert und ausgestaltet von den Menschen an den Instrumenten und den Sängerinnen und Sängern.

Klar, für das Publikum eine Provokation. Damals. Und heute? Weber wirft das Kagel-Konzept über den Haufen. Wo der Komponist dada-mäßig dekonstruiert, vertraut Weber auf die Konstruktion. Re-konstruieren unmöglich, da dazu die Vorlage fehlt. Die Inszenierung arbeitet mit klassischen Opernelementen. Wir erleben quasi ein fünfaktiges Drama mit zwei starken, verfeindeten Gruppen, einem unschuldigen jungen Liebespaar, einer über-, nein unterirdischen Instanz, einem happy ending. Hört sich nach Romeo & Julia an? Genau! Im Tableau ein Quintett, das Liebesduett, der Bariton, der erotisch-eifersüchtig aufgeladen in die zarten Gefühle von Tenor und Sopran grätscht. Das erinnert stark an eine Nummernoper wie von Verdi, ohne jegliche Verfremdung.

von links: Anjara I. Bartz, Tobias Schabel, Giorgos Kanaris, Yannick-Muriel Noah

Aber, teurer Freund, grau ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum. So spricht Mephisto, der übrigens auch eine Rolle spielt. Butter bei die Fische – was genau gab es zu sehen und zu hören? Haie, die ihre potenziellen Opfer umkreisen. Wer wird zerrissen und verschluckt? Der Konflikt dreht sich um den kommunalen Kampf zwischen Kultur und Sport. Oper versus Schwimmbad – in Bonn das oft vorherrschende Thema der städtischen Politik mit hoher Bürgerbeteiligung.

Die verfeindeten Lager bekämpfen einander bis hin zur entscheidenden Schlacht, in der vermeintlich die beiden Sprösslinge, einander in Liebe zugetan, zu Tode kommen. Wo Kinder sterben, gibt es keine Sieger. Folgerichtig lenken die Protagonisten ein und schließen Frieden. Die poppig-bunten Sportler – allen voran Tobias Schabel und Kieran Carrell – stehen den grau, schwarz, rot und weiß gewandeten Kulturvertretern gegenüber. Fast nicht zu erkennen in unscheinbarem Grau und sich-selbst-verleugnenden Maske Marie Heeschen, strahlend in Tosca-Diven Rot Yannick-Muriel Noah und im Domina-untypischen Weiß Anjara I. Bartz. Ein Mischung aus weißer Langhaarperücke, schwarzem Jackett und rotem Rolli Giorgos Kanaris, der sowohl der Tochter als auch der Mutter Avancen macht. Das personifizierte Böse als submissives Element steuerte Jürgen R. Weber in Cameo-Auftritten bei. Auch der Regisseur an der kurzen Leine!

Die Schauplätze variieren vom Sprungturm im Schwimmbad, dem überdimensionalen Papierfaltboot (in diesen bewegten Zeiten dem Untergang in rauer See geweiht), dem Theaterfundus auf drei Etagen, das in Beaudoir-Rot getaucht an das Amsterdamer Vergnügungsviertel erinnert, bis hin zum Schlachtfeld für den Show-down. Auch der Dirigent Daniel Johannes Mayr, mit Wallemähne auf dem sonst kurz geschorenen Haupt und pinguinesken Frackschößen, spielte mit. Zu dirigieren hat er ja wenig.

STAATSTHEATER von MAURICIO KAGEL

Die farbenfrohe Bühne lenkt mitunter von dem ab, woran Kagel besonders gelegen war. Das Entstehen von Musik, die den Raum füllt, soll erfahrbar werden. Darum Augen schließen und minutenweise ausschließlich dem Klang der Musik lauschen. Nicht einmal das angestrengte Nachlesen der Übertitel stört das musikalische Erleben. Großartig, wie die Solisten ihre Identifikationsarien mit lautmalerischen Silben aus dem Nichts formulieren und modulieren. Onomatopoeia vom Feinsten: Gefühle und Beziehungen vermitteln sich ohne Worte, nur mit dem musikalischen Ausdruck. Eine grandiose Leistung des Bonner Ensembles.

Natürlich hat sich Weber intensiv mit dem Kagelschen Ansatz beschäftigt. Altes vom Sockel stoßen? Bitte sehr! Eine Beethovenbüste geht mehr als einmal zu Bruch, Teile finden Schutz unter einem Schmusetuch (von Linus der Peanuts). Als action figure geht Beethoven eine pseudo-erotische Verbindung mit Lara Croft ein, der super-sexy Galionsfigur im Computer-Spiel Tomb Raider. Hier, in vielfältigen Video-Clips, seziert die Hand der Intendantin beide Püppchen Gliedmaße für Gliedmaße. Unter Wasser und oft upside down. Will sagen: Wenn diese Stadt absäuft, gehen beide unter, das musikalische Genie und die sportgestählte Heldin.

Und da war ja noch … das Podium, das zum Aktwechsel nach oben fährt. Schwarz-weiß kostümiert wie klassische Pierrots, stellen fünf Spieler Klangkörper im wahrsten Sinne des Wortes dar. Mit Metronomen versehen, geben deren Taktschläge unterschiedliche Tempi vor. Ihre Körper verschaffen sich als Percussionsobjekte Gehör. Das hätte Kagel gefallen! Dass sich Beethovens Verhältnis zum Metronom wie ein roter Faden durch die Inszenierung zieht, erklärt sich aus der Zeit und ist dem nahezu vollständig ungespielt gebliebenen Jubiläumsjahr des Komponisten geschuldet. Eine eingestreute Hommage, die auch daran erinnert, dass Beethoven nach anfänglicher Ablehnung das Metronom kompositorisch nutzte.

Das farbenprächtige Spektakel greift tief in die Kostümkiste des Theaters. Da defilieren Elisabeth I, Wilhelm Tell und der Nussknacker vorbei, Carmen und Hamlet geben sich die Ehre, begleitet von Vogelgezwitscher, Hundegebell und Pferdewiehern. Ein köstlicher Regieeinfall die verlängerten Arme der Bühnendarsteller: Mit Maulschlüssel und Zange berührten sie einander, überreichten Ball und Beethoven, halten sich beim Tanz „an den Händen“. Sehr hübsch und sinnbildlich das Pandemie-Risiko auf die Bühne gebracht.

Giorgos Kanaris

Winkend verabschieden sich alle, die Gesang, Tanz und Spiel darboten. Sie freuen sich offensichtlich über das spärlich besetzte Auditorium; auch hier zählt jede Stimme oder jedes Paar Hände, das begeistert Beifall klatscht. Den größten Applaus heimste der Jugendchor des Theater Bonn unter der Leitung von Ekaterina Klewitz ein. Wohl verdient!

Fazit: Anschauen und vor allem anhören! Mauricio Kagels Baukasten-Komposition wies in eine neue Zeit, das Finale mit sieben Instrumentalisten auf der Bühne führt dies noch einmal deutlich vor Augen, mehr noch zu Ohren. Gegen Kagels „nach Bedarf“ und „nach Belieben“ in der Partitur setzt Jürgen R. Weber eine Regie, die sich die Musik zu eigen macht. Da ist von der offenen Form, dem revolutionär Neuen, wenig geblieben. Auch das der unsicheren Zeit, in der wir momentan leben, geschuldet?

Nur noch zwei Aufführungen stehen auf dem Programm. Details und Karten hier.

Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung des Theater Bonn, © Thilo Beu

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