Es lebe das Klischee! Da scheint eine wehrhaft-beleibte Walküre aus der Zeit und dem Reich der Mythen und Sagen ihren umfänglichen Sopran erklingen zu lassen. Oder halt, beabsichtigt sie, den Überlandbus an der Haltestelle Oortkatenufer im südhamburgischen Marschland Ochsenwerder zum Anhalten zu bringen? Wir müssen passen, denn grau wie der wolkenverhangene Himmel ist auch hier die Theorie. Was aber den seriösen Klett-Cotta Verlag mit dem geflügelten Greif dazu bewogen hat, ein so kluges, unterhaltsames, ausgezeichnet geschriebenes Buch zur deutschen Opernlandschaft mit diesem Cover und dem Walküre in Detmold herauszubringen? Hier wird die Provinz der Lächerlichkeit preisgegeben. Satire? Die stattliche Brüllhilde?
Mit wachem Auge, offenem Ohr und einem bestechend klaren Blick für Politik und Geschichte tritt Ralph Bollmann eine Reise zu allen Opernhäusern Deutschlands an, zu sagenhaften 84 Theatern in 81 Städten. Nirgends auf der Welt gibt es eine solche Dichte! Zunächst skeptisch, dann wohlwollend beschreibt er die titelgebende Wagner-Oper in der westfälischen Provinz. Geht doch! Ohne bombastisches Orchester und mit einer Regie, wie sie sonst in einem Haus der Spitzenliga (Staatsoper Stuttgart) zu erleben wäre. Apropos – mit leichter Hand entwirft der Autor die kulturhistorische und politischen Hintergründe von Hoftheater, Staatsoper, Stadttheater, Deutsche Oper, Volksoper … Hier recherchiert ein renommierter Journalist, ein penibler Beobachter und ein geistreicher Erzähler. Mit einem Studium der Geschichte, Politik und des Öffentlichem Rechts als verlässlicher Quelle für seine Herleitungen, Analogien, Vergleiche, Urteile. So einem Verfasser vertrauen sich Leser gern an.
Er stellt fürstliche Privilegien den bürgerlichen oder proletarischen Ansätzen gegenüber: Warum es in Darmstadt zunächst nur den Zugang über die Tiefgarage und es statt Garderobentheken Spinde wie in Fabriken gab. Nebenan und ebenfalls in Hessen (die Bundesländer, vor allem in den Variationen zwischen Ost und West beleuchtet er im historischen Kontext) lobt er in Frankfurt am Main die Trias der Oper: „junge Sänger, ernsthafte Dirigenten, interessante Regisseure“ (S. 65)
Bollmanns Deutschlandatlas entwickelt sich zum „Beuteraster des Provinzopernjägers“ (S. 66). Das führt ihn nach Koblenz und Meiningen, nach Quedlinburg, Plauen und Rudolstadt, nach Kassel und Gießen, nach Hagen und Hof. Und in alle anderen der 81 Städte mit den bescheidensten Unterkünften, den günstigsten Karten, den überzeugendsten Darbietungen.
Wir begegnen Regisseuren wie Dietrich Hilsdorf, Guy Montavon und Christopher Alden (uns Bonnern gut bekannt) und Regisseurinnen wie Sandra Leupold, Annegret Ritzel und Amélie Niermeyer, Harry Kupfer, Hans Neuenfels und Götz Friedrich sowieso. Subtil beleuchtet er die Selbstüberschätzung mancher Verantwortlichen, mit Empathie die Frustration der Altgedienten, die meist vor halbleerem Haus spielen.
Mit leichter Süffisanz stellt er die Hybris des arrivierten Publikums dar: Die Hautevolee chauffiert sich zum großstädtischen Musentempel, während für den Plebs das Stadttheater gut genug ist. Selbstverständlich fährt man da nach Stuttgart der Oper wegen. „Der Schwabe geht auch an die Kultur mit großem Ernst heran. (S. 93) Da leistet sich die Landeshauptstadt was: „1348 Beschäftigte, 151 Orchestermusiker, 78 Chorsänger, 74 Balletttänzer, 35 fest engagierte Solisten“ (S. 92). Solche Kennziffern dienen Bollmann an unterschiedlichen Orten zum Gradmesser der gesellschaftlichen und politischen Wertschätzung. Dazu gehört auch die Subventionierung, die auf diversen historischen Ereignissen beruht. Oder die Eigenfinanzierung, nämlich welcher Anteil zum Budget durch Kartenverkauf erwirtschaftet wird.
Mit kleinen Exkursen zu Verzweiflungstaten verschiedener Stadtspitzen, zum Verscherbeln des vielzitierten urbanen Tafelsilbers, richtet Bollmann auch seinen Blick auf nahezu bemitleidenswerte Theater. So unterhält Lüneburg ein volles Dreispartenhaus, verfügt aber nur über „das kleinste Ensemble in ganz Deutschland … mit nur 138 Mitarbeitern und gerade fünf Millionen Euro jährlicher Subvention … Fest engagiert sind lediglich drei Solisten. Der Chor umfasst zehn Sänger, das Orchester zählt danach 29 Musiker (…), zwei Bratschen, zwei Celli, zwei Bässe. Keine Harfe.“ (S. 143f.)
Der dreißigjährige Krieg, Münster und Osnabrück, die Vielzahl der kleinen Häuser in den östlichen Bundesländern, das Theater im Revier, politische Manifeste von der Opernbühne – all dies Anlässe für den Autor Ralph Bollmann, die zahlreichen Facetten von Kultur im 21. Jahrhundert zu beleuchten und die Historie, auf der sie wuchs.
Wie mit einem fein gewobenen Netz hat Bollmann Deutschland bei seinen Opernreisen überzogen, für die er manchen Urlaub opferte. Eine lesenswerte Tour d’Horizon, ein gesellschafts- und kulturpolitisches sowie historisches Panorama, das Zusammenhänge offenlegt und – bei aller Analyse – mit Leidenschaft für das Thema zum Lesen einlädt und zum Opernbesuch auf Reisen animiert.
Zum Schluss: Cover und Titel lassen Albernes und Seichtes vermuten. Der Inhalt bietet tolle, kluge Beobachtungen. Eine Bildungsreise durch Deutschland, dessen zersplittertes Herrschaftswesen vergangener Jahrhunderte sich noch heute in der Oper abzeichnet.
Auch ich finde das Buch sehr nützlich, zumal ich auch versuche, möglichst viele deutsche Opernhäuser kennen zu lernen. Bisher kenne ich 71 davon, habe aber zurzeit durch die Coronavirus-Pandemie eine Zwangspause. (Ich befürchte, dass nicht alle Häuser die Pandemie überleben werden.)
Meine Liste: https://operasandcycling.com/opera-houses-in-germany/
Durch Bollmann habe ich gelernt, dass viele deutsche Opernhäuser sich aus den ehemaligen Hoftheatern entwickelt haben. Er behauptet sogar, dass alle deutsche Städte, die 1918 noch ein Hoftheater hatten, dieses heute noch in geänderte Rechtsform betreiben.
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Oh ja … ein schönes Vorhaben. An Bollmanns Buch gefällt mir insbesondere die Kombination von Geschichte, Operngeschehen und Akteuren.
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