Lagerfeuer und lodernde Flammen? Festungsmauern und finstere Kerker? Waffenklirren und feindliche Truppen? Auf die bewährten Zutaten zu Guiseppe Verdis Il trovatore verzichtet der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov vollständig. Allerdings nur in Form der szenischen Anlage. Er legt verklärende, halb wahnsinnige Naturromantik, rasende Eifersucht und seelische Geiselnahme, Aggression, Brutalität, Mord und Selbstaufgabe in das Innenleben der Personen seines Dramas. Und blättert die zahlreichen Erzählstränge der Handlung wie einen Seelenstriptease der Protagonisten nach und nach auf.
Jean-Paul Sartre prägte den Satz „Die Hölle, das sind die anderen“ und die Idee der „Geschlossenen Gesellschaft“ mag Tcherniakov inspiriert haben. Mit der Präzision eines chirurgischen Skalpells seziert er die Seelenlage und die Motivationen des Grafen Luna, der liebestrunkenen Leonora, des Troubadours Manrico und der Zigeunerin Azucena. Klassische Inszenierungen stellen die perfekt symmetrische Konzeption des Stücks von Schloss zu Wald, von Kloster zu Verließ eher naturalistisch dar. Was passiert in den acht Szenen der vier Akte? Herzlich wenig. Denn die Problematik des Librettos liegt nicht in der komplexen Anlage, sondern in der epischen Erzählweise. Der Botenbericht ist ein klassisches Regie-Element, das dem Publikum die Vorgeschichte erläutert und somit die Handlung plausibel macht. Es wird also viel erzählt in dieser Oper.
60 Jahre vor Freud und seiner Psychoanalyse bereiten die Librettisten Salvatore Cammarano und Leone Emanuele Bardare das Drama El Trovador von Antonio García Gutiérrez so auf, dass ein zeitgenössischer Regisseur mit einem faszinierenden Kunstgriff daraus eine Art Familienaufstellung macht. Radikal entrümpelt er das Werk von allem traditionellen Beiwerk, reduziert die Zahl der dramatis personae um fast die Hälfte und lässt den Chor nur aus dem Off ertönen.
Tcherniakov sperrt die Menschen in ein Herrschaftshaus, aus dem es kein Entrinnen gibt. Diese verdichtete Regie kennt man; ob Agatha Christie den Tod auf dem Nil aufklärt oder Daniel Kehlmann Das letzte Problem in einem eingeschneiten Alpenhotel ohne WLAN von einem wirr-halluzinierenden Ex-Kommissar lösen lässt. Nur – die wahre Raffinesse liegt darin, dass Azucena persönlich die Türe abschließt und den Schlüssel mit großer Geste triumphierend in die Luft hält. Sie ist „the master of ceremony“ und zu Recht hatte Verdi selbst dafür plädiert, diese Hauptfigur auch zur Titelfigur zu machen.
Eine befreundete Psychoanalytikerin bezeichnete kürzlich die Kölner Carmen als typische Vertreterin eines Borderline-Syndroms. Oh, sie hätte große Freude und professionelles Interesse daran, schon die Bühne als verschachteltes Kammersystem des Seelenlebens zu analysieren. Der Salon, das Esszimmer, die Durchreiche, das Hinterzimmer, die Abstellkammer, der unsichtbare Keller … Ein Meter fünfzig hoch reicht die dunkle Holzvertäfelung, darüber meterhoch flammendes Rot. Da liegt die Assoziation zum Scheiterhaufen nah – das ständig wiederkehrende Schreckensbild der Azucena, das sie wie im Drogenrausch heraufbeschwört, um die Erinnerung an ihre Mutter und ihr Versprechen, sie zu rächen, wachzuhalten.
Die Regie überzeugt mit einer feinst choreografierten Personenführung. Jede Geste trägt Bedeutung – es ist sinntragend, wer wann die Kerzen oder eine Zigarette anzündet (Feuer!). Wie ein zwiebellagiges Enthäuten legen die Protagonisten nach und nach ihre Attribute ab und entblößen sich. Erkundet Leonora anfangs noch als cross-over aus it-girl und Straßenprostituierter zaghaft das neue Ambiente, wird sie ohne blonde Perücke, dunkle Brille und overknee Stiefeln zur Cousine von Tosca und Emilia Marty aus Makropulos: Sie gibt sich dem mächtigen Unterdrücker hin, um ihren Plan zu verfolgen. Freiheit für den geliebten Mann oder Freiheit für ein selbstbestimmtes Leben.
Die dritte Szene gehört ganz Azucena. Ihr Kostüm – ein bisschen Königin der Nacht, ein wenig Lady beim herrschaftlichen Lever. Herkömmliche Inszenierungen zeigen sie als wilde, freie Frau, eine Geächtete, die im Wald lebt und keiner gesellschaftlichen Norm entspricht. Wie sie dazu wurde? Das zeigt Tcherniakov in ihrer großen Erzählung vom Feuertod der Mutter, der verbrannten Kinder und der Verwechslung. Sie tötete ihr eigenes Kind und zog stattdessen Manrico, den Sohn des alten Luna und Bruder des jetzigen Grafen groß. Sie impfte ihm den Hass auf Luna ein und stachelt ihn zum Kampf und zum finalen Todesstoß an. Irrwitzige Geschichte wie so manches im Plot. Azucena benötigt hier keine Waldkulisse, keine Lagerfeuerromantik. Sie legt den glitzernden Talmi aus der Schmuckschatulle an. Das Bling-Bling entspricht dem gängigen Vor-Urteil: Gold ist die Währung der Nicht-Steuerzahler, Gypsy- Boho Style gerade sehr en vogue.
Nahezu detailverliebt führt Tcherniakov durch die einzelnen Stadien der Beziehungsstrukturen ins immer größere Chaos. Er zwingt das Publikum, kontinuierlich diese Details zu beobachten und verfolgen. Man kann gar nicht so viel gucken, wie es zu sehen gibt. Während Leonora sterbend ihr Geheimnis an Manrico preisgibt, hält Graf Luna sich spielerisch (?) den Revolver an die Stirn. Er hat sich genommen, was er am meisten begehrte. Leonoras Brautschleier bedeckte das Paar, während parallel dazu Manrico von seiner vermeintlichen Mutter die letzten Ursprünge ihres hasserfüllten Charakters erfährt. Und nun, bereut er? Denkt er an Selbstmord? Mitnichten! Er knallt seinen Bruder ab, nach Mafia-Manier, drückt immer wieder ab und kann kaum glauben, dass er für Azucena keine Kugel mehr hat. Sie behält die Oberhand. Sie geht als Siegerin aus dem Setting hervor.
Wie auch sonst? Vendetta, die Rache, war ihr Motiv zum Plan. Sie legt das Experiment an, sie verteilt die Rollen und das Skript, ist Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. In ihrem schwarzen, strass- und federbesetzten Negligé-Cape und der blonden Perücke erinnert sie an Sunnyi Melles. Diese Schauspielerin überzeugt auch immer wieder in der Darstellung überspannter, leicht somnambuler und abgründiger Frauen. Als auch hier die Perücke fliegt und sie gefesselt auf dem Stuhl hockt, zeigen sich die Fratze und die verletzte Seele gleichermaßen.
Und die Männer? Ferrando, der Hauptmann des Grafen Luna, kommt wie ein pensionierter Lateinlehrer auf die Bühne. Er weiß viel. Er berichtet. Sachlich. Er kennt die Zusammenhänge und liegt als erster tot auf dem Boden. Die Titelfigur, der singende Truppenführer, Manrico der Troubadour, mäandert im Beziehungsgeflecht. Zwar liebt er Leonora und will sie last minute vor dem Eintritt ins Kloster heiraten, aber ein Ruf zu den Waffen hat Priorität. Ein bisschen wie Don José in Carmen. Wenn die Pflicht ruft … Und einmal mehr bewahrheitet sich, was Verdi über die Tenöre zum Besten gab. Sie seien doch alle Weicheier. Und Muttersöhnchen. Ja, eigentümlich, wie kritiklos Manrico die Anweisungen Azucenas übernimmt, wie wenig er bei nebulösen Andeutungen über seine Herkunft wirklich nachfragt. Ein im psychologischen Sinn erwachsener Mann würde ein paar Dinge anders regeln und sich für eine – die richtige – Frau entscheiden.
Manrico tritt auf wie der junge Marlon Brando in dem Film The Fugitive Kind, der auf dem Drama Orpheus Descending von Tennessee Williams basiert. Die Schlangenlederjacke* das Markenzeichen des jungen Val, der in der Kernszene nüchtern zur allgemeinen Beziehungsunfähigkeit feststellt: Wir sind alle… wir sind, jeder von uns, zur Einzelhaft in unserer einsamen eigenen Haut verurteilt, solange wir auf dieser Erde leben.* Im dritten Akt schlüpft Graf Luna in das abgeworfene, natürlich zu kleine snake skin jacket. Es passt eben niemand in die innere Emigration des anderen. Zeigt Tcherniakov auch an solchen Details, dass er für sozialromantische Utopien nichts übrig hat?
Graf Luna trägt ja schon den schwachen Schein der Nacht im Namen. Mitsamt seinem Äußeren gerät er nach und nach komplett aus den Fugen. Er tischt gleich Rotwein auf und steigt später auf Bier um. Ohne Alkohol (oder mother’s little helper für Leonora) lassen sich die Furien des Unterbewusstseins nicht ertragen. Am Ende bleiben für ihn, den Mörder und Verräter, nur Trümmer und die bittere Wahrheit, das Azucena triumphiert. Um welchen Preis!
Wer Verdis Il trovatore noch nie gesehen hatte, war am Premierenabend einigermaßen verloren. Der Zuschauerblick auf diese experimentelle Laboranordnung nährte sich auch aus dem „Anders als …“ Wer sich aber der Musik anvertraute, durfte sich ganz unvoreingenommen der grandiosen Interpretation dieses Meisterwerks von Will Humburg mit dem Gürzenich Orchester hingeben. Humburg ließ Raum und Zeit für Generalpausen, fürs Spiel, fürs Verstehen. Um dann mit Verve die Musik zum Strahlen zu bringen. Das Publikum war begeistert – was im Kölner Staatenhaus mit Trampeln auf den Holztribünen zum Ausdruck kommt.
Sängerisch war die Vorstellung ein einziger Genuss. Chor- und Extrachor verliehen den weltbekannten Hits Feuer (!) und Frische. Scott Hendricks gab den Grafen Luna bereits bei der Erstaufführung dieser Produktion in Brüssel 2012. So sang und vor allem spielte er auch den bösen Bariton – frei und selbstbewusst. Aurelia Florian als Leonora überzeugte ebenfalls mit Stimme, Spiel und großer Dramatik. In einer Klasse für sich die überragende Marina Prudenskaya als Azucena. Wohlverdient brandete bei ihr der heftigste Applaus auf. Toller Mezzo-Sopran, tolle Darstellerin. Beide Sängerinnen sangen ihre großen Arien mit dem Rücken zum Publikum – dazu braucht frau schon eine ausgefeilte Technik.
Giovanni Furlanettos Rolle bot wenig Raum für Glanz, hatte dafür umso mehr Gewicht als solider Bass. Und Arnold Rutkowski blieb zunächst seiner Rolle als jungem Wilden treu. Obwohl noch in der vorigen Woche arg krankheitsgeplagt, wollte er die Premiere unbedingt meistern. Bis zum wunderbaren Quintett am Ende des zweiten Aktes hielt er durch. Leider allerdings war die Belastung dann so groß, dass der Einspringer zum Zuge kam. Die oft praktizierte Lösung: Rutkowski spielte weiter und George Oniani sang vom Bühnenrand die Partie. Chapeau für beide! Eine einzigartige Erfahrung, den jungen, drahtigen Rutkowski mit der reifen, mächtigen Stimme des Tenorkollegen zu erleben – ein Trovatore mit zwei Manricos!
„Eine kluge, feine Lesart“ des Trovatore habe Tcherniakov inszeniert, versprach die Intendantin Dr. Birgit Meyer zu Beginn. Ich hätte es dem Regisseur, der bei der Kölner Premiere anwesend war, und ihr gern selbst gesagt. Versprechen gehalten. Danke.
Das Stück steht bis zum 28. März 2020 noch sieben mal auf dem Spielplan. Karten gibt es hier.
Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung der Oper Köln © Bernd Uhlig
Val: (presst Ladys Hand) What do you feel? (deutsch: Was fühlen Sie?
Lady: Your hand. (Ihre Hand)
Val: That’s right. The size of my knuckles and the heat of my palm. (Das ist richtig. Die Größe meiner Fingerknöchel und die Wärme meiner Handfläche.)
Lady: What are you demonstrating now? (Was versuchen Sie mir jetzt zu zeigen?)
Val: That’s how well we know each other. All we know is just the skin surface of each other (lässt ihre Hand fallen). (Das ist es, wie gut wir einander kennen. Alles was wir voneinander kennen, ist bloß die Hautoberfläche.)
Lady: Why do you say these things to me tonight? (Warum sagen Sie mir heute abend diese Dinge?)
Val: Because nobody ever gets to know anybody. We’re all… we’re, all of us, sentenced to solitary confinement inside our own lonely skins for as long as we live on this earth. (Weil ein Mensch niemals einen anderen kennenlernt. Wir sind alle… wir sind, jeder von uns, zur Einzelhaft in unserer einsamen eigenen Haut verurteilt, solange wir auf dieser Erde leben.)
Zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Mann_in_der_Schlangenhaut
*Den Hinweis auf die Schlangenjacke verdanke ich Joe Knipp, dem ehemaligen Künstlerischen Leiter des Theaters am Sachsenring in Köln.
Das Gesehene wie das Geschriebene: Ausgezeichnet.
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Merci, lieber Joe, für das Kompliment aus so berufenem Munde.
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