Oper in der Green Box. Laboranordnung für eine experimentelle Sicht auf Beethovens Freiheitsoper Fidelio. Raus aus der Komfortzone des bildungsbürgerlichen Kunstgenusses hin zur verstörenden Wirklichkeit politisch Gefangener. Ein Wagnis in Bonn, das im Überschwang den runden Geburtstag Beethovens mit einer wahren Klangwelle feiert. Wer wagt, gewinnt?
Jedenfalls riss es rund zwei Drittel des Premierenpublikums am Neujahrstag 2020 von der Stühlen, als der letzte Ton des grandiosen Schlusschors verklang. Wem galt der Applaus? GMD Dirk Kaftan und dem Beethoven Orchester, das einmal mehr unter Beweis stellte: Wir machen unserem Namen alle Ehre? Den Solistinnen und Solisten und dem Chor? Oder den vier Männern und einer Frau, die als Zeitzeugen oder Experten von ihren eigenen Schicksalen oder denen naher Angehöriger berichteten? Die doch deutlich vernehmbaren Buhs und Pfiffe galten der Regie von Volker Lösch, der als Theaterregisseur die Figuren führte, aber die Oper selbst zum musikalischen Beiwerk, zur Tafelmusik für seine gesellschaftspolitische Mission machte.
Wohl alle im Festtagspublikum waren mit Beethovens Oper vertraut. Es geht um eine Frau, Leonore, der es gelingt, mit Mut und Anstand ihren eingekerkerten Mann Florestan vor dem sicheren Hungertod zu bewahren. Ihr großes Herz und ihre Entschlossenheit, gepaart mit dem Erscheinen des Gouverneurs als deus ex machina, führen zu einem guten Ende. Darauf legt Lösch den Fokus seiner Inszenierung. Nebenbei führt er Marzellines Shopping-Neurose vor und ihr teeniehaftes Schwärmen für den „Kerl“ in Uniform vor. Die Binsenwahrheit „money makes the world go around“ liegt in Roccos Goldarie. Alles in original Beethoven.
Im Mittelpunkt stehen aber die fünf Zeitzeugen (Hakan Akay, Doğan Akhanlı, Süleyman, Süleyman Demirtaş, AgÎt Keser, DÎlan Yazıcıoğlu), die alle Furchtbares erlebt haben. Sachlich und professionell, auf den ersten Blick nahezu unbeteiligt, schildern sie Isolationshaft, Hunger, Dunkelheit, sexuellen Missbrauch und psychologische Foltermethoden. Das geht unter die Haut und führt im zweiten Akt zu einer nahezu unerträglichen Verdichtung des Schreckens. „Aufhören. Es reicht. Ich will hier raus.“, schrie eine Dame aus dem Parkett. Als ob Lösch auch sie als Zeugin dieses Prozesses engagiert hätte. Aber das war authentisch und dieselben Worte könnten der ultimative Hilferuf eines jeden Folteropfers bedeuten.
„Beethoven! Beethoven, bitte! Wo bleibt Beethoven?“ so kam ebenfalls deutlicher Überdruss an den Details der Einzelschicksale zum Ausdruck. Die Dimension der Darstellung von Gewalt (Schilderung und Videoprojektion) verstörte und ging an die Grenze des Erträglichen. Zu Beginn des zweiten Akts brachte die mehr als zehnminütige Akkumulation keinen neuen Erkenntnisgewinn; die Monoperspektive war erschöpft.
Lösch setzte als Manager der Meta-Ebene einen Schauspieler (Matthias Kelle) als Bühnenregisseur ein, der Interviews führte, erklärte, verknüpfte, positionierte. An einem Tisch waren die fünf Experten platziert, die Solisten setzten sich nach ihrer Arie jeweils mit an Tisch. Ein wirklich krasser Realitätsschock, wenn Florestan soeben noch sang „Gott, welch Dunkel hier“ und dann neben Doğan Akhanlı Platz nimmt, den die türkische Staatspolizei inhaftierte, weil er sich eine liberale Tageszeitung kaufte. „Ich war kein Terrorist und Staatsfeind, sondern ein wissensdurstiger Junge.“ Er wurde nach tagelangen Verhören in eine Kellerzelle gesperrt, die massive Eisentür fiel hinter ihm zu und völlige Finsternis umgab ihn für lange Zeit. Hier wird Beethoven greifbar, hier verdeutlicht sich unmittelbar die Kongruenz zwischen Florestan, der bei der Arie unbeleuchtet in einem dunklen Kasten hockt, und dem echten Menschen, dem dieses Schicksal widerfuhr.
Alle Experten hatten leidvolle Erfahrungen mit dem autokratischem System der Türkei gemacht; dabei spielte die Geschichte des Nationalstaates und die Unterdrückung der Kurden eine besondere Rolle (und eine Erweiterung des Themas, die nun viel zu weit von Beethovens Fidelio abweicht). Was sie eint: ein ungeheurer Mut, so offensiv mit ihrer eigenen Geschichte öffentlich aufzutreten, ein Ehrgeiz, die Texte auf Deutsch absolut fehlerfrei vorzutragen, die Courage, schließlich mit den Profis auf der Bühne zu agieren, und die menschliche Poesie, die sie dem Publikum schenkten. „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ schrieb Theodor W. Adorno. Nach solchem persönlichen Leid überhaupt eine Sprache zu finden, ist poetisch.
Staunend saß das Premierenpublikum vor den technischen Finessen, die diese eine-Million-Euro-Produktion bot. Atemberaubende Kamerafahrten in den Videoprojektionen ließen Leonore über Gefängnismauern fliegen, machten einen Geldschein zum fliegenden Teppich und Leonore zum Engel in Florestans Hunger-Delirium. Auf der Bühne selbst dokumentierten zwei Kameras, zeitweise handgeführt, das making-of der Produktion. Die Kulisse bot – ausschließlich funktional – eine Green Box mit einer geschwungenen Green Screen.
Videoclips auf der Bühne sind ja en vogue; aber live filming eröffnet neue Ein“sichten“. Die Gefangenen tragen grüne Overalls und Hauben, ihre Gesichter sind grün geschminkt. Vor der grünen Wand unsichtbare, gesichtslose Gestalten, die im Chor mit
„O welche Lust, in freier Luft
Den Atem leicht zu heben!
Nur hier, nur hier ist Leben!
Der Kerker eine Gruft.“
eine Identität erhalten. Das Publikum wird Zeuge, wie sich Gesichtszüge entfalten, als die Männer sich die grüne Farbe abwischen, und sie in Gänze erscheinen, wenn sie die Overalls (sinnbildlich für die Ketten) abstreifen. Dieser Kunstgriff funktioniert noch nicht perfekt, weil – anders als im Film – alles live geschieht.
Wirkliche Freude hatte das Publikum am Gesang. Szenenapplaus für alle großen Arien! Wie Marzelline im Gefängnishof vor aller Grausamkeit die Augen verschließt und verliebt, von der Hochzeit träumend, in schönstem Koloratursopran singt – Marie Heeschen gibt die unbeschwerte, glücksorientierte Tochter des Kerkermeisters Rocco fein und heiter. Und – sie kokettiert mit der Kamera, was auf der 8 x 5 Meter großen Leinwand ausdrucksstark zur Geltung kommt.
Roccos schlichtes Gemüt findet seinen Ausdruck in Karl-Heinz Lehners wunderbarem Bass. Die Goldarie ein echtes Kleinod, seine Kumpanei mit dem Erzlumpen und intriganten Machiavelli-Verschnitt Don Pizarro (Mark Morouse) führt in die Sauna. Hier gilt nicht „eine Hand wäscht die andere“, wie es im „Milieu“ des Goldkettchen behangenen Machtmenschen heißen würde, sondern eine „Wurzelbürste schrubbt den Rücken des anderen.“ Die zwei Herren in der Sauna – mehr Loriot als water boarding zum Gefügigmachen.
Thomas Mohr gibt den verkümmernden Häftling Florestan; sein Name verheißt, dass er aufblühen wird. Warum er überhaupt zum Politikum wurde? Nebulöse Anschuldigungen „er wusste zuviel“ brachten ihn ins Verließ. Aber Hoffen und Sehnen hielten ihn am Leben – wie alle Menschen. So sprach Dirk Kaftan vom Pult aus in die live-Kamera. Mohrs Kerkerarie zum Herzerweichen – das G O T T über einige Takte gehalten – sehr eindringlich.
Leonore, die treue, verwandelt sich vor den Augen des Publikums in den Gefängnis-Hilfswärter Fidelio und zurück in eine sportlich-attraktive Frau in Jeans und roten Heels. Sie schießt nicht, als sie die Waffe schon in der Hand hält. Warum? Weil Gewalt eben keine Antwort auf Gewalt ist, sondern Brot für den/die Gefangenen ihr Anliegen ist. Martina Welschenbach meistert die Partie gut, aber ohne große Leidenschaft.
Die wiederum hält der Chor samt Extrachor und allen Solisten in grandioser Beethovenfülle zum Schluss bereit. Das Podium des Grabens fährt wie zu Beginn auf Bühnenniveau hoch und man sieht Kaftan mitsingen. Die Bühnenrequisiten verschwinden, im Hintergrund die Aufbauten für den Rosenkavalier und die West Side Story, die Regie erlaubt einen Blick in die realistische Enge hinter dem Geschehen. Will sagen: Wir sind hier alle auf einer gemeinsamen Welt, we’re all in this together. Die Grenze zwischen Bühne und Leben ist aufgehoben. Um es mit Beethoven zu sagen, „alle Menschen werden Brüder.“ Besser noch Schwestern. Nur eine Frau in der Expertenrunde (DÎlan Yazıcıoğlu), aber eine Frau steht stellvertretend für die Nahrung spendende und Welt verändernde Initiatorin. Jubel, viele Tränen benetzte Augen und überbordender Applaus für den Schlusschor ihr zu Ehren.
Wer ein holdes Weib errungen,
Stimm‘ in unsern Jubel ein!
Nie wird es zu hoch besungen,
Retterin des Gatten sein.
Volker Lösch bezieht stets Experten für ihr eigenes Schicksal (Menschen mit Migrationserfahrung) in seine Inszenierungen ein. Sein erklärtes Ziel lautet im Fidelio politische Aufklärung und Mobilisierung der Menschen. Dazu hatte er sich bereits in der Matinee geäußert. Folgerichtig aus seiner Sicht die Plakate und Videoslides mit direkten Aufforderungen zum Handeln: Protestnoten an die Kanzlerin oder verschiedene Ministerien zu schicken. Die beste, weil universale Botschaft: FREE THEM ALL.
Für die weiteren Aufführungen gibt es (nur noch wenige) Karten hier.
Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung der Oper Bonn © Thilo Beu
Abgesehen davon, dass es musikalisch eben nicht so berauschend war wie Sie geschrieben haben, fragt man sich:
Der Beethoven hat da mächtig gestört. Hätte man den nicht ganz weglassen können?
Eine „Oper“ war es nicht mehr. Und „Tafelmusik“ wie sie beiläufig erwähnten, das hat der Maestro nie geschrieben.
LikeLike
Herzlichen Dank für die schön geschriebene Kritik und Ihr Lob.
LikeLike