Was war so revolutionär an den beiden Opern von Pietro Mascagni und Ruggero Leoncavallo? Haben Sie wirklich eine gemeinsame DNA? Sind sie untrennbar miteinander verbunden oder gerade im Gegenteil „postnatal“ historisch zusammengefügt? Was macht bis heute die Faszination der beiden mit am meisten auf den Bühnen dieser Welt gespielten Opern aus? Wie gestaltet sich der Verismo in den Werken von zwei Preisträgern eines Komposionswettbewerbs?
Traditionell lädt die Oper Bonn zwei Wochen vor der Premiere einer neuen Produktion zur Matinee ein. Dort finden sich dann zwischen 100 und 150 echte Fans ein, die vorab den Erläuterungen der Verantwortlichen lauschen und sich in höchstem Maß an musikalischen Kostproben erfreuen. Heute – im Vorfeld zu Cavalleria Rusticana und Pagliacci (Der Bajazzo) – waren die eineinhalb Stunden im Opernfoyer mehr als ein unterhaltsamer Zeitvertreib an einem regnerischen Herbsttag. Viel mehr! Es war ein Genuss!
Dr. Bernhard Hartmann, Kulturredakteur des General-Anzeiger Bonn, war bestens vorbereitet und führte kenntnisreich das Gespräch mit Will Humburg, dem Ständigen Gastdirigenten an der Oper Bonn. Einige Fakten vorweg. Mascagnis Oper über die „ländliche Ehre“ erfüllte so brillant die Anforderung „Einakter“, dass dem Werk unmittelbar nach seiner Uraufführung 1890 in Rom ein sensationeller Erfolg beschieden war. „Das Ding ging durch die Decke“ und startete einen einmaligen Siegeszug durch alle Opernhäuser dieser Welt.
Zu derselben Zeit eiferte Leoncavallo seinem großen Vorbild Richard Wagner nach und arbeitete an einem dreiteiligen Werk (Der Ring), von dem die Medici bereits fertiggestellt war. Für Pagliacci verfasste er nach Wagner-Art das Libretto auch selbst, Arturo Toscanini dirigierte die Premiere … und der Rest ist Geschichte. Auch der Bajazzo wurde zum Meilenstein des Verismo, an dessen Erfolg der Komponist nicht wieder anknüpfen konnte.
Apropos Verismo. Da bedarf es keiner intellektuellen Diskurse der Literatur- und Musikwissenschaft. Tonio, der Tölpel aus der Komödiantentruppe der commedia dell‘ arte, die das Spiel im Spiel treiben, tritt auf die Bühne und erklärt dem Publikum mal fix, was es mit der Kunst so auf sich hat. Bisher waren Masken, Tränen und Gefühle alle falsch. Aber nun „schöpfet der Dichter kühn aus dem wirklichen Leben die schaurige Wahrheit!“ Ivan Krutikov lässt seinen gewaltigen Bariton erklingen und erntet eine Lacher, als Publikum applaudiert, bevor er die Compagnie mit „Andiam. Incominciate!“ anweist, mit dem Spiel zu beginnen. Also dieses Credo quasi als Manifest des Verismo!
Bleiben wir einen Moment dabei. War man bis dato davon überzeugt, dass nur Könige, Adel und reiche Leute tragödienfähig seien, treten die beiden Komponisten hier zum Beweis des Gegenteils an. Bauern, Landleute, kleine Kauf- und Fuhrleute stellen die dramatis personae. Galt darüber hinaus noch das Gebot, einen Konflikt in drei, vier oder fünf Akten darzustellen, verdichten die beiden Vorgeschichte, Auseinandersetzung und Lösung in einem Akt. (Naja, wohl um den Juroren zu genügen. Tatsächlich haben die Opern sehr wohl zwei Teile.) Gleichzeitig halten sie nach dem Vorbild der Poetica von Aristoteles die Einheit von Ort, Zeit und Handlung ein. Dies war so umwerfend neu – eben revolutionär.
Darüber hinaus erlaubten sich beide einen „unerhörten“ Kunstgriff. In die Ouvertüre der Cavalleria Rusticana hinein ertönt aus dem Off Turridus „Siciliana“, eine Liebeserklärung an Lola, die während seiner Zeit beim Militär ganz pragmatisch Alfio zum Mann genommen hat: Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, so Humburg. Der Dirigent, selbst zwei Jahre lang Theaterintendant in Catania, räumt auch mit einem weit verbreiteten Missverständnis auf. Nicht weiß wie Milch sei ihre Bluse, sondern aufgeknöpft habe sie diese. Jeder in Italien versteht dieses Bild: Die Frau hatte Sex mit Turridu.
Leoncavollo war stets von dem Ehrgeiz getrieben, Mascagni zu übertreffen. Flicht der eine ein sizilianisches Liebeslied ins Preludio, lässt der andere zunächst mal den Vorhang zu und jemand tritt hervor, um direkt zum Publikum zu sprechen – den Prolog, der mit dem althergebrachten Theaterverständnis der Illusion aufräumt. Was war da wohl spektakulärer vor 130 Jahren?
Die Regie der Neuinszenierung am Theater Bonn stellt beiden Opern diesen Prolog voran – und Hartmann choreografiert die Matinee ebenso. Passt! – will man da sagen, obwohl – wie Humburg hinzufügt – das kein neuer Kunstgriff für moderne Inszenierungen ist. Dennoch, die Frage nach dem Verismo bleibt Gegenstand der Diskussion. Kann es „realistisch oder naturalistisch“ sein, wenn zwei Menschen sich ansingen? Damit räumt Brecht 50 Jahre später im epischen Theater auf, das das Illusionstheater komplett über Bord wirft. Andererseits betreute Giovanni Verga Aufführungen (wie in Berlin) seiner dramatisierten sizilianischen Erzählungen (auf denen auch Pagliacci beruht) und ließ Bühne, Kostüme und Ausstattung detailgetreu nach Fotografien aus seiner Heimat gestalten. Er wollte das bäuerliche arme-Leute-Milieu eins zu eins abgebildet sehen, bis hin zu Rüsche und Knopf am Kostüm.
Zum Verständnis des „ehrenhaften“ Hintergrunds plaudert Humburg aus seinem eigenen Erfahrungsschatz. Sizilien in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts war strikt feudal organisiert. Bis noch vor 50 Jahren wählte der Großgrundbesitzer für das ganze Dorf. Frauen waren von Gleichberechtigung meilenweit entfernt und der Ehrenkodex hielt für sie eiserne Grenzen bereit. Küsste ein Mädchen einen Mann, war es verlobt. Küsste eine Frau einen anderen Mann als ihren eigenen, war sie eine Schlampe. Wollte man eine unglückliche Verbindung auflösen, musste der neue Mann sie für eine Nacht entführen (fuga d‘ amore). Dann war sie wieder ehrbar. Dazu passt auch das sehr an der Männerehre orientierte Strafrecht. Ertappte ein Ehemann seine Frau mit einem anderen in flagranti und erschlug er den Nebenbuhler, kam er mit „zwei Jahren auf Bewährung davon.“
Anders noch als in Bizets Carmen, wo die Figuren sich auch aus dem nicht-adligen, armen Milieu rekrutieren und wo die Charaktere sich über vier Akte entwickeln, komprimieren die Veristen ihre Figurenzeichnung und die Handlung auf das Notwendigste. Die Dialoge sind knappstens, für den eingeweihten Betrachter ist alles klar. In der Cavalleria Rusticana muss es ein Duell geben, in Pagliacci muss Canio seine Ehre wiederherstellen. Aber wie die Komponisten das bewerkstelligen, erläutert Humburg pointiert. Todes- und Unheilmotive übernimmt Leoncavallo von Mascagni, stellt sie aber auf den Kopf. Ansonsten heißt sein Motto „mehr ist mehr!“ Hat der eine zwei Glocken, müssen es beim anderen vier sein, fügt der eine einen Chor ein, erscheinen beim anderen Männer-, Frauen- und Kinderchor. Löst der eine die Spannung mit einem Mord hinter der Bühne auf, zeigt der andere einen Doppelmord auf offener Bühne. Leoncavallo tut alles, um Mascagni zu übertreffen, bis hin zur Instrumentierung: zwei Harfen statt einer, drei Flöten … immer mindestens eins mehr.
Was es bei keinem der beiden gibt? Kein Liebesduett – ein Novum! Kein Racheduett – ein Novum! Wenn geliebt oder gestorben wird, dann kurz und knackig. Aber insgesamt hält Humburg Pagliacci für das weitaus bessere Werk mit viel mehr Raffinesse in Musik und Plot. Die Handlung des Spiels im Spiel bietet bereits zwei Ebenen, darüber hinaus trägt der Chor eine dritte bei. Tolle Melodien, die sich zu den berühmtesten der Opernliteratur entwickelten, und das Intermezzo, das so bekannt ist, dass es zum streicherträchtigen Popsong mutierte.
Außer Ivan Krutikov präsentierte Kieran Carrel, seit jüngstem Ensemblemitglied der Oper Bonn, die Arie des Beppo, die er verliebt an Neddas commedia-Figur, die Colombina, richtet. So jung, so frisch, dieser Tenor! Und danach George Oniani, Spezialist für Belcanto-Tenorarien, der das weltberühmte „Vesti la giubba e la faccia infarina“ intonierte. Bravi tutti! Auch Humburg lauschte ganz versonnen, lächelte und war offensichtlich sehr zufrieden mit den Solisten.
Der dritte Stuhl auf dem Podium blieb lange leer. Der „dritte Mann“ kam später. Nein, er war eigentlich präsent, allerdings am Flügel, von wo aus er die Solisten begleitete. Hartmann aber machte aus einer „Randfigur“ eine Hauptfigur und bat Igor Horvat, Korrepetitor am Theater Bonn, auf’s Podium. Eine sehr liebenswerte Geste, dem Mann am Klavier einen Namen und einen Platz unter den Gästen zu geben. Igor hat in Zagreb und Wien ein Studium zum Konzertpianisten und für Gesang absolviert und plante schon immer, am Theater eine Rolle abseits der Bühne zu spielen. Er bereitet die Sängerinnen und Sänger szenisch, musikalisch und sprachlich auf die jeweilige Produktion vor. Natürlich funktioniert das mit den Ensemblemitgliedern schneller und leichter, wenn die Chemie stimmt und er weiß, wie das Gegenüber tickt. Hartmann bezeichnet ihn als Alleskönner an der Oper und omnipräsent: am Morgen als Begleitung für die Solisten und am Abend im Graben beim Rosenkavalier von Richard Strauss.
Die Premiere der Doppeloper findet statt am Samstag, den 9. November 2019, um 19:30 Uhr.
Karten gibt es hier.