Infinito Nero – Ekstasen in einem Akt für Stimme und acht Instrumente

Zu sehen ist zunächst einmal – nichts. Das unendliche Schwarz. Mit knappster Ansage instruiert der Regisseur das Publikum: Legen Sie jetzt ihre Augenmaske an. In kollektiver Blindheit erleben die Premierengäste die konzertante Version von Infinito Nero bis fine dell’opera nach 28 Minuten. Salvatore Sciarrino fordert zum Hören mit der Lupe auf. Wenn keinerlei visuelle Stimuli die akustischen Signale begleiten, dann entfalten Töne, Klänge, Geräusche und vor allem die zahlreichen Leerstellen ein „unerhörtes“ Eigenleben.

Diese Musik des zeitgenössischen Komponisten Sciarrino,  1947 in Palermo geboren, fordert zu radikal anderem Hören auf. Das Stück wurde vor gut 20 Jahren uraufgeführt und gilt sicher heute auch noch als Avantgarde. Was macht die Brisanz aus? Herkömmliche Hörgewohnheiten werden konsequent ignoriert. Keine Melodien, keine Akkorde, keine Arie, nicht einmal die Sprachanteile des Librettos möchte man Rezitative nennen. Das Orchester – drei Bläser, Perkussion, vier Streicher – entlockt den Instrumenten artfremde Töne. Am signifikantesten das rauschend erzeugte Luftholen und Luftablassen durch die Flöte. Gleichsam holotropes Atmen, das wie LSD das Bewusstsein erweitert und auf tiefliegende Erfahrungen im Unterbewusstsein zurückgreift, quasi der körpereigene Rausch. Ein psychedelischer Trip ohne Nebenwirkungen. Da klingen von der Klarinette nur die Klappen, kein Ton wird angeblasen. Die Basstrommel simuliert den Herzschlag – und die Streicher schlagen, statt den Bogen über die Haarseite zu führen. Eine irre Sensation im Sinne von Erspüren mehr als nur Hören. 

Dazu, darüber, daneben legt sich die Stimme der Karmeliterin Maria Maddalena de‘ Pazzi. Sie stammelt, spuckt, faucht, säuselt, flötet ihre ekstatischen Eingebungen. Inkohärent, disparat, nur in Fetzen zu verstehen. Immer wieder sangue, das Blut, corona, die Krone, forami di cielo, Himmelsöffnungen. Ihre finale Anbetung lautet: Du bist ohne Ende, aber ich würde gern ein Ende in dir sehen.  Das hört sich konfus an? Soll es gewiss für das Publikum auch sein. Musik und Text stellen mehr Fragen, als sie Antworten bieten. 

Aus dem leichten Schwindel, der sich jetzt bereits bei einigen einstellt, reißt das gleißende Licht die Zuhörer (zu schauen gab es ja noch nichts). Kein gedimmter Übergang, kein sanftes Zurück ins Hier und Jetzt, sondern abrupter Wechsel. Das unendliche Schwarz wirkt ja im intensivsten im Kontrast zum krassen Weiß. Besser gesagt, kein Licht findet seinen Antagonisten im hellsten Schein. Klare Kante beim Lux-Wechsel zieht eine knappe Ansage nach sich. „Verlassen Sie jetzt den Saal. Wir bauen um.“ Schroff, die Instruktion. 

Wer Nebenmann und Nebenfrau jetzt wieder sieht, steigt unweigerlich ins Gespräch ein. Das musikalische Erlebnis ist so frappierend, dass man es kaum unkommentiert stehen lassen kann. „Irre Klänge, leider nur von rechts, tolle Leistung der Sängerin, gespannt auf die zweite Hälfte“. 

Was liegt zwischen Schwarz und Weiß? Nach der Pause grauer Nebel, der nun über die Bühne und die Sitzreihen wabert. Zunächst sind keine Konturen auszumachen. Im milchigen Lichtkegel 20190926_205539kniet eine biedermeierschwarz gekleidete junge Frau. Wir hören die gleichen Klänge, machen uns auf die eruptiven Gesangsanteile gefasst. Die kommen von Dshamilja Kaiser, der gefeierten Mezzo-Sopranistin der Oper Bonn. Selbstredend in Schwarz, selbst ein Teil des unendlichen Schwarz, dessen Sprachrohr ja die Protagonistin darstellt. 

Maria Maddalena de‘ Pazzi (1566 – 1607) schleuderte ihre religiösen Visionen in einer Trance heraus. So unverständlich ihre Stammeleien heute klingen, so mysteriös-mystisch waren sie auch in ihrer Zeit. Es heißt, sie habe während ihrer Eingebungen acht Nonnen um sich gehabt: vier, die gleichermaßen von ihren Lippen ablasen, was sich dort ergoss, und vier, die diese Fragmente dann niederschrieben. 

Dieses Bild – nun sehen wir es endlich – hat die Regie in die Anordnung der Musiker projiziert. Links von der Mittelachse der Spielarena die Bläser und das Schlagwerk, rechts die Streicher. Der Dirigent, Hermes Helfricht, im Verborgenen, nur über Monitor zu sehen. Zentrales Element der Bühnenstruktur ein Zylinder von der Größe einer Litfasssäule. Langsam entblättert die Karmeliterin Maria Maddalena die ausgefrästen Buchstaben, die den sehr spärlichen Text des Einakters abbilden. Währenddessen gibt sich ihr alter ego, die junge Maria Maddalena (Helena Bauer) inbrünstig ihrem imaginären Geliebten Christus hin. „Vivo ego iam non ego, vivit vero in me Christus.“ (Ich lebe, aber nicht ich. Tatsächlich lebt Christus in mir.)

Bestechend während dieser verklärten Szenen die Leuchtkraft des Lichts in der Säule. Wie die Strahlen einer Monstranz vertreibt sie den Nebelschleier und bescheint die Vereinigung von Schwarz und Weiß, vom Wechselspiel eines Golgatha Christus (Keisuke Mihara), der Jungfrau, der Mystikerin mit der Dornenkrone und dem Tod des aus den unendlichen Polen gezeugten Kindes. Starke Bilder, die an das kollektive Wissen um das Neue Testament appellieren. Stroboskoplicht schmerzt in den Augen – mit hoher Frequenz schießen Lichtimpulse hervor. An, aus – schwarz, weiß. 

Am Ende verglimmt das Licht in Rot gedimmt. Wie ein ewiges Allerheiligenlicht auf dem Grab. Viele Assoziationen, aber keine schlüssige Deutung. Die Säule dunkel, die Worte erlischen mit.  Sciarrino selbst spricht von nackten Werken, die die Grenze zwischen Instrument und eigenem Herzschlag verwischen lassen. Sein „sound of silence“, die langen Pausen, sind sinngebende Elemente beim Musikhören. „It is the only way it can penetrate into our flesh and reach us in the deepest depth of ourselves.“ 

Nach dem Kaiser von Atlantis im Herbst 2018 im Rahmen des Beethovenfestes nun Infinito Nero. 20190926_213223Der intime Rahmen der Werkstatt mit der fraktionierten Bühne ist wie geschaffen für dieses Werk. Mehr davon bitte, mehr „kleine Stücke“, die mit einer so stimmigen Regie zeitgenössische Oper bieten.

Großartig inszeniert, exzellent funktionierende Doppelung des Stückes in blindes Hören und hörendes Sehen. Sehr zu recht spendet das Publikum begeisterten Applaus für das achtköpfige Orchester, in dem Männer und Frauen gleichermaßen Ordenstrachten trugen, die beiden Tanzkünstler und die wunderbare Dshamilja Kaiser, die mit ihrer starken Bühnenpräsenz und einer großartigen Artikulation des wahnsinnigen Textes eine Glanzvorstellung bietet. 

Karten für die Vorstellungen am 28. und 29. September 2019 um 20:00 Uhr in der Werkstatt gibt es hier. 

 

 

 

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