Zwei ausgewiesene Experten auf dem Podium: Will Humburg und Uwe Schweikert gestalten im „Gelehrtendisput“ die Matinee zu Verdis eher selten aufgeführter Oper Die sizilianische Vesper, die zur mittleren Schaffensperiode gehört. Will Humburg hat in Bonn in den letzten Spielzeiten frühe Verdis dirigiert – man sagt ihm nach, er kenne als einziger die Handynummer des großen Komponisten. Uwe Schweikert setzte mit seinem Standardwerk Verdi, dem „grünen Buch“, Maßstäbe in der Verdi-Forschung. Das Opernfoyer voll besetzt bis auf den letzten Platz – Verdi zieht immer.
Begeben wir uns zunächst auf eine Zeitreise. Was in den 1950er Jahren für New York galt, traf exakt 100 Jahre früher auf Paris zu. „If I can make it there, I’ll make it anywhere …“ Paris galt als Hauptstadt der Welt, auf jeden Fall aber als führende Opernstadt. Alle italienischen Komponisten versuchten, hier ihr Glück zu machen: Cherubini, Donizetti, Rossini genauso wie der Deutsche Giacomo Meyerbeer. Was machte diesen Sog aus? Die Grande Opéra verfügte über die besten technischen Voraussetzungen und gleichzeitig über rigide Anforderungen in der Komposition von Opern. Fünf Akte ein Muss, die französische Sprache unerlässlich, ein großes Ballett elementarer Bestandteil. Ganz nebenbei wog eine andere Motivation schwer: Wer in Paris reüssierte, konnte daheim in Italien die doppelte Gage verlangen.
Zum Weltruf der Grand Opéra in Paris trug auch das unermüdliche Schaffen des Librettisten Eugène Scribe bei – über 300 Operntexte hat er verfasst. Ein Libretto aus seiner Feder war nahezu ein Erfolgsgarant. Folglich antichambrierte auch Verdi bei ihm und – sonst so stolz und unbeugsam, auch mit seinem Librettisten – bat ihn in einem devoten Brief um ein „grandioses“ Libretto. Scribe zog eine olle Kamelle aus dem Hut: eine blutrünstige Geschichte um den Duc d’Albe, die er schon Donizetti 20 Jahre früher angeboten hatte.
Und gleich hier – konstatiert Humburg – beginnt die Crux des Stückes. Wo Verdi ein Meister der feinziselierten psychologischen Figurenzeichnung war, kam es Scribe und anderen Komponisten auf den großen Effekt an. Das gefiel in Paris, das Monumentale, das Tableau, das Melodram. Scribe aber verlegte mal fix die Handlung von den kalten, regnerischen Niederlanden in das sonnig-warme Sizilien, nach Palermo. Und der Herzog von Alba wird zu Guy de Montfort, historisch belegt als englischer Söldner, der in diesem Befreiungskrieg eine entscheidende Rolle spielt. „Googeln Sie den mal“, empfahl Will Humburg, „eine echte Räuberpistole, sein Leben. Das kann sich keiner ausdenken.“ Da schließe ich mich an. Hier bei Wikipedia liest sich sehr informativ der historische Hintergrund nach, hier der Plot der Oper, die ursprünglich Les vêpres siciliennes hieß.
Also … das Sujet geht auf historische Ereignisse in Neapel zurück, den Vizekönig und den Aufstand gegen die Fremdherrschaft hat es tatsächlich gegeben. Aber Verdis Geschichtsverständnis war ein ganz anderes als historische Korrektheit. Die Liebesgeschichte zwischen dem Anführer und Hélène hat er erfunden, die Handlung fix nach Palermo verlegt. Dazu muss man wissen, dass dies alles vor der Staatsgründung Italiens stattfindet und alles „Aufständische“ sofort die Zensur auf den Plan gerufen hätte. Vom Lokalkolorit wich Verdi durchaus ab, er fügt eine neapolitanische Tarantella ein, verfährt einigermaßen eklektisch und komponiert eine tänzerische Mazurka wie von Chopin. Ganz anders sein Schüler Puccini nur wenige Jahre später: Der beschäftigt Hilfskräfte, die das authentische Lokalkolorit wie für die Madame Butterfly oder Turandot gründlich erforschen.
Wie das so ist mit den wahren Experten – die schütteln in Nebensätzen so viel Verdi-Wissen aus dem Ärmel, dass ein kleines musikwissenschaftliches Seminar in 1½ Stunden dabei rausspringt. Verdi ist ein typischer Vertreter der Formkunst , die französische Strophenform fügt er – mit den betonten Endsilben – ein, folgt aber weiter dem Muster *Arie-Duett-Ensemble-Finale*. Macht in fünf Akten 20 Nummern. Diese strikte Anordnung hat er von Donizetti „geklaut“. Er war ein Evolutionär, wo Wagner, sein Erzrivale, als Revolutionär galt. Auch die Struktur seiner Arien folgte einem verbindlichen Muster *Vorspiel – Rezitativ – Cavatina/Cantabile (der kontemplative, langsame Teil) – Cabaletta (die schnelle Replik auf einen „Stimmungsumschwung“)*.
Die unterschiedlichen Arbeitsweisen von Verdi und Wagner beleuchten die Experten auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Wagner war erst stets nahe am Bankrott und konnte erst mit Ludwig II als Mäzen aus dem Vollen schöpfen. Verdi dagegen hat eine unglaubliche Entwicklung durchgemacht. Zwar musste er seine Karriere auf dem Geschmack des Publikums aufbauen, aber er „mutete ihm auch von Oper zu Oper mehr zu.“ Er beherrschte die Regeln des Komponierens perfekt – und dem setzte Richard Wagner sein „Genie“ (Meistersinger) entgegen: „du machst die Regel und du folgst ihr dann.
Wirtschaftlich errang Verdi größte Erfolge. Er inszenierte sich gern selbst als armen Bauernsohn aus Le Roncole. „Verdi fakete seine Biografie nach Kräften“, so Will Humburg. Mitnichten ein Landei, sondern ein begabter Bub mit einem Privatlehrer, der fließend Französisch sprach und Latein beherrschte. Er war ein Großgrundbesitzer; allein in Sant`Agata maß die Länge seiner Liegenschaften 40 km und in Genua besaß er nicht Häuser, sondern ganze Straßenzüge. Quasi ein self-made millionaire.
Nun aber Paris, wo Verdis Expertise in der psychologisch-realistischen Darstellung den Gepflogenheiten der Grand Opéra diametral entgegenstanden. „Deshalb wirkt die Oper so grobschlächtig“, so Humburg. Aber eine solche Crux birgt natürlich immer Anlass für kreative Innovation. Verdi komponiert für flüsternde Stimmen, für den Fernchor. Zwei Chöre hinter und auf der Bühne, die mit- und gegeneinander singen. „Das ist genauso innovativ wie heikel“, räumte Will Humburg ein. Er habe noch keine Ahnung, ob und wie das klappen werde. (Übrigens – diese Innovation trieb Franz Schreker in Der ferne Klang auf die Spitze.)
Ja aber gibt es und gab es denn nur Probleme mit der Oper? Was ist „genialisch?“, wie Humburg formulierte. In den beiden akustischen Kostproben von Pavel Kudikov und Anna Princeva verdeutlichten die beiden, wie sie Strophenarien anlegen: mit Verzierungen im zweiten Teil, wie das damals üblich war. Kleinode für den Sonntagmorgen, die das Publikum begeistert beklatschte. Es handelte sich um „Wunschkonzertarien“, neben der großen Ouvertüre immer wieder gern gehört. „Et toi, Palerme…“ und „Je t’aime …“
Den ersten Akt hält Humburg für ein dramaturgisches Meisterstück. Die Musik erzeugt einen unglaublich starken Moment des Stockens, wie die Todesfigur (kein Leitmotiv wie bei Wagner, sondern eine musikalische Geste!) die tinta musicale, die Klangfarbe entsteht. Die bringt allein die Ouvertüre 39 mal hervor, im Laufe des Stückes dann mehrfach. Eigentlich hätte die Oper da zu Ende sein können.
Die Angreifer haben ihren Kampf gewonnen, die jungen Frauen sind bei einem Gelage zum Vergewaltigen freigegeben. Auch die fürstliche Tochter Hélène, die aber statt sich hinzugeben, auch ein Lied präsentieren darf. Das kommt – allerdings nicht als Partyhit – sondern als allegorische Geschichte des Schiffbruchs. Ein alter Topos, um die Kräfte für enormen Widerstand zu mobilisieren. Aber die Sizilianer vertun die Chance … und so entsteht Stoff für weitere vier Akte. Also die Musik ist nicht sizilianisch, aber der Plot. Das Volk ist einfältig und feige. Als Anekdote steuert Humburg eine ähnliche Geschichte aus seiner Zeit in Catania bei und schätzt die Mentalität als sehr realistisch dargestellt ein.
Was fehlt? Besser wer fehlt. David Pountney, der Regisseur, ließ sich entschuldigen. Er hat einen variablen Raum entworfen mit Schiebeelementen als Rahmen – das erläutert Operndirektor Andreas K.W. Meyer. Das Publikum dürfe sich auf schwarz gekleidete Sizilianer und Franzosen in prächtigen, farbenfrohen Gewändern freuen. Und darauf, dass Pountney in den folgenden Spielzeiten auch La Forza del Destino und Un Ballo en Maschera auf die Bühne bringt. Diese Verdi-Maschine umfasst ein einzigartiges Raumkonzept mit immergleichen Konstituenten – sie mag als Klammer dienen für die mittlere Schaffensperiode des Giuseppe Verdi.
Karten, auch für die Premiere am 25. Mai 2019 (an einem Samstag!), gibt es hier.
Klingt alles sehr vielversprechend. Hier in Frankfurt hatten wir 2013 „Die sizilianische Vesper“ in einer schönen Inszenierung von Jens-Daniel Herzog, mit Elza van den Heever und Quinn Kelsey.
Und gerade gestern habe ich zum dritten Mal die Neuproduktion von Schrekers „Der ferne Klang“ gesehen, mit den zwei Chören hinter und auf der Bühne, und mit Jennifer Holloway, die am Montag unser Gast bei Frankfurt OperaTalk war, als Grete Graumann.
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