Street Scene – die Lower East Side in New York

Der Schauplatz ein Mietshaus in Manhattan, genauer gesagt in der Lower East Side, dem traditionell ärmlichen Milieu der Immigranten in der Zeit unmittelbar nach dem Ende des 2. Weltkriegs. Hier siedelt Kurt Weill seine „American Opera“ an, einen schmissigen Mix aus operalen Arien, aus Big Band Brass Sound, aus Jazz und Blues, aus Lindy-Hop und Jive, aus Filmmusik mit großem Bogen und Orchesterklängen, die drohendes Unheil mit Spannungsmusik ankündigen. Das Wichtigste vorweg: Das Kölner Premierenpublikum war begeistert von diesem mitreißenden Opernabend. Völlig gleichgültig dabei, was den Komponisten seinerzeit umtrieb. Für das deutsche oder kontinentaleuropäische Publikum durfte die Show nicht Musical heißen – das wäre dem Anspruch kaum gerecht geworden. Umgekehrt wäre eine „Oper“ nicht Broadway-tauglich gewesen, weil für das amerikanische Publikum zu hochtrabend. Der Begriff „amerikanische Oper“ vereinte dann als Kompromiss den ernsthaften Anspruch und den Wunsch nach entertainment. So here we go …

Dabei hält die Struktur durchaus den Hörgewohnheiten seit Mozarts Zeiten Stand: 25 Nummern, rezitativische Dialogteile, Chöre, Duette, Terzette, Quintette, Tanzeinlagen, dazu Szenen mit dem Kinderchor, die sicher nicht von ungefähr an Carmen erinnerten. Was allerdings das Stück in zwei Akten so lebendig und mitreißend macht, ist die fast frivole Mischung von allem, was unser Ohr heute kennt. Da setzt die Musik nahezu unvermittelt ein wie bei Strauss oder Janacek, da tutet und hupt lautmalerisch die hektische Großstadt. Das James-Bond-Theme findet sein Gehör ebenso wie die ergreifende Arie der Mrs. Mourrant, die den großen Bogen und das tiefe Leid einer Madame Butterfly von Puccini nachempfindet.

Doch halt – worum geht es eigentlich? Die Hitze! „It’s too darn hot“ aus Cole Porters Kiss me Kate wurde erst 1948, ein Jahr nach der Uraufführung von Street Scene veröffentlicht, trifft aber genau die Stimmung. Es ist so heiß … und dazu die unerträgliche Luftfeuchtigkeit. Natürlich ist während der Sommerhitze die Atmosphäre auch schwül-erotisch aufgeladen – und das wird schließlich zur Katastrophe führen. Also kurz einen Blick auf das Wer-mit-wem, das die Klatschtante des Hauses, Mrs Jones, ständig im Blick hat, weitererzählt und pseudomoralisch kommentiert.

In diesem „ehrenwerten Haus“ (ja, an den zeitkritischen Schlager von Udo Jürgens fühlt man sich durchaus erinnert), leben Menschen so eng beieinander, dass sie vom Schnarchen der Nachbarn bis zum Babygeschrei alles mitbekommen. Notgedrungen! Vincent, der Sohn der moralinsauren Mrs. Jones, die ihren Hund besser behandelt als ihn, geht Rose Mourrant an die Wäsche. Die wiederum hat ihr Herz an Sam Kaplan verloren, ihre Träume und ihren unstillbaren Wunsch, diesem unerträglichen Umfeld zu entfliehen, teilt sie mit ihm. Allerdings ist sie in den Augen seiner Schwester nicht gut genug für ihn. „Oil doesn’t mix with water.“

Rose, ein anständiges Mädchen, muss sich nicht nur der Übergriffe von Vincent Jones, dem ewigen loser erwehren, sondern auch den Verführungskünsten ihres Chefs im Immobilienbüro, Harry Easter, widersetzen. Der ist ein schleimiger Parvenu, der sie mit einer Wohnung sowie einer Zukunft als Bühnenstar gefügig machen will. „Wouldn’t you like to be on Broadway?“ hat als Song eine eigene Geschichte entwickelt, spielt aber hier die ironische Brechung der räumlichen Nähe und der dennoch schieren Unerreichbarkeit aus. Und wer sich bei C-Promis und Immobilien-Geschäftsmännern an den aktuellen amerikanischen Präsidenten erinnert fühlt, ahnt die die aktuelle Bedeutung der Story.

Aus all‘ den Liebesschwüren, seien sie romantisch oder rein sexuell, wird nichts. Denn Fred Mourrant, Roses Vater und Annas Ehemann, prollt auf katholisch-erzkonservative Art rum. _L1_5106Er ist der Herr im Haus, er herrscht mit Gewalt, führt ein liebloses Regime, beklagt die Abkehr von den „guten alten Zeiten“. Auch hier eine Haltung, die durchaus Elemente vom Weltbild des amtierenden Vizepräsidenten der USA trägt. To cut a long story short … seine Frau Anna ist so unglücklich, dass sie sich auf ein Verhältnis mit Mr. Sankey einlässt. Die Sache fliegt auf, Mourrant erschießt den Nebenbuhler und seine Frau in actu und blickt nun dem elektrischen Stuhl entgegen. Roses Träume platzen, mit einem Koffer an der Hand und einem weißen Totenhemd für die Mutter verlässt sie das Haus.

Sam bleibt mit gebrochenem Herzen zurück; er studiert Jura und wird sich vermutlich eine Doris-Day-cleane Frau suchen, wenn er dann in 10 Jahren eine Familie ernähren kann. Die Aufstiegsvision des American Dream, Vorstadthäuschen mit Garten inklusive! Der Gegenentwurf dazu die Familie Olsen, jüngste schwedische Einwanderer, die es nicht geschafft haben.* Mit Gewalt werden sie vom Gerichtsvollzieher samt ihren Habseligkeiten aus der Wohnung geworfen. Über die zwei Tage erzählte Zeit kommt im vierten Stock das Baby der irischen Einwandererfamilie Buchanan zur Welt. Eine schmerzvolle und blutrünstige Angelegenheit, bis schließlich „nur“ ein Mädchen dabei rauskommt. Die gute Seele Anna Mourrant steht der Gebärenden in den Wehen bei – sie zeigt sich mehrfach als liebevolle Mutter, als zupackende Nachbarin, als liebenswürdiger Mensch, der sich einfach nach ein bisschen Gefühl und Liebe sehnt.

Und dann sind da noch … die Fiorentinos. Der Italiener Lippo und seine deutsche Frau Greta. Er bringt Pep ins Haus und spendiert an diesem irre heißen Tag eine Runde Eiskrem für alle. _L2_0746_bearbeitet.jpgEr beklagt, dass seine Frau zu dürr zum Kinderkriegen ist … und fast unweigerlich beschleicht einen ein ungutes Gefühl, wenn ein Mädchen zum Geigenunterricht in seine Wohnung hochsteigt. Ein weiteres hochaktuelles Thema – leider!

Das Bühnenbild ist eine Wucht, einfach klasse. Hier stimmt alles. Die Häuserfront mit den porches, die blechernen trash cans, wie sie Berliner Hipster heute in ihrer Wohnung benutzen, der Hydrant, der temporäre Erfrischung ermöglicht, der Obdachlose, der sich zwischen den Mülleimern zum Schlafen niederlegt. Allerdings hat das Haus statt Wänden rostige metallene Gitterstäbe – ein Sinnbild für die Hellhörigkeit des Ganzen. Die legendären Feuerleitern in downtown New York scheinen innen zu liegen; schließlich bespielen die Mitwirkenden vier Etagen. Und da ist immer etwas los. Die Menschen putzen, wiegen das Baby, hängen Wäsche auf, kochen, unterrichten, tratschen, schauen aus dem Fenster, lesen, studieren, lieben sich, laufen treppauf, treppab. New York war schon immer the city that never sleeps.

Das Tempo der Musik macht einfach Laune, einzelne Szenen sind sehr komisch angelegt. Das Gürzenich Orchester spielt sich gekonnt durch alle Stilrichtungen und Genres – da werden alle musikalischen Wünsche erfüllt. _L2_3794.jpgDie Rückwand zum „Graben“ (diesmal hinter der Bühne im Staatenhaus 2) die glitzernde Sykline von New York, eindrucksvoll stilisiert. Und „ganz großes Kino“ haben Maske und Kostümbildner gezaubert. Alle Akteure erscheinen in sehr authentischen late forties Kleidern – von den Hosenträgern bis zum Hut, vom ausgewaschenen Kleid bis zum spießig-biederen  Haarknoten ein stimmiges Bild. 

Und dies sei schließlich als ganz großes Verdienst und dickes Lob an die Regie genannt. Genauso wie der Sound der Musik bleiben die Darstellung des Plots und die Zeichnung der Charaktere ganz und gar und 100 %ig in der Zeit. Alle Clichés bedient die Regie – und das natürlich in voller Absicht – bis hin zum gutmütigen afroamerikanischen Hausmeister, der in der Kellerwohnung haust. Das Themen-Potpourrie umfasst street fights und Rockefeller bashing, murder, romance and young love, inkompetente Polizei und die Hochnäsigkeit der beiden sensationslustigen Nannies von der Upper East Side. Just a cheap common dump ist in ihren Augen dieses Haus Nr 346.

Kein Regietheater nirgends, keine Verfremdung, keine konstruierten Bezüge. Was dennoch heißt, dass wir bei manchem wiedererkennend nicken. Und schließlich schlägt das Stück diesen Bogen selbst. Back to square one – nach 2 1/2 Stunden Spielzeit kommen wir nach Mord und Totschlag, nach zerplatzten Träumen und schwerem Leid wieder am Ausgangspunkt an. Wie ein perpetuum mobile. Eine neue Einwandererfamilie – man spricht deutsch – mit einer hochschwangeren Frau zieht ein in dieses ehrenwerte Haus. Und Mrs. Jones lehnt sich über die Balustrade ihrer porch und befindet erneut „Ain’t it awful, the heat?“

Vom 30. April bis zum 16. Mai 2019 steht Street Scene auf dem Spielplan im Kölner Staatenhaus 2. Tickets gibt es hier.

Alle Fotos © Paul Leclaire mit freundlicher Genehmigung des Pressedienstes der Oper Köln.

*Siehe Kommentar von Antje Dickmeyer: Stimmt, die Hildebrands müssen das Haus verlassen.

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