Unendlich langsam hebt sich der Vorhang. Gute fünf Minuten dauert es, bis sich der Blick auf die Bühne vollständig öffnet. Rechts oben in der Eingangshalle eines – in den 1920er Jahren modernen – Bürogebäudes prangt eine überdimensionale Uhr. Die Zeit entpuppt sich als taktgebendes Thema dieser Oper von Leoš Janáček, uraufgeführt 1926 in Brünn im heutigen Tschechien.
Aus dem Graben ertönt derweil das Vorspiel in der Janáček-typischen Tonsprache: Hier klingt fast wie in Programmmusik nahezu lautmalerisch das Prag von vor 100 Jahren. Mit dem drive einer aufstrebenden Stadt, mit dem Motorensound von Industrie und Verkehr, aber auch mit den Königstrompeten aus der Unterbühne, einer Reminiszenz an Rudolf II, den letzten Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation. Flashback in time in das letzte Drittel des 16. Jahrhunderts, zur Zeit dieses Regenten und zum Ursprung dieser recht verworrenen Handlung, die auf einer Komödie von Karel Capek beruht.
Wer öfter in die Oper geht, hat sich mit wirren plots angefreundet oder abgefunden. Wer will oder kann schon in aller Kürze die Handlung von Mozarts Figaro wiedergeben? Wer sich darüber hinaus auf die Ent-Wicklung im Laufe der Aufführung einlässt, dem erschließt sich alles zum Schluss. Bei der Sache Makropulos – wie in jeder gut konstruierten Komödie oder jedem spannend gestrickten Tatort – kommt alles am Ende ans Licht. Der Blick aufs große Ganze also erst in der Retrospektive. Dazu braucht das Publikum aber ein bisschen Geduld und Durchhaltevermögen, denn der handlungsarme erste Akt gestaltet sich prima vista etwas langatmig.
Also … in der Anwaltskanzlei Dr. Kolenaty wird ein Erbstreit verhandelt. Es geht um einen Gutshof, für dessen Weitergabe zunächst kein Testament aufzufinden ist. Dabei handelt es sich um eine juristische causa an sich. Die Kontrahenten heißen Albert Gregor und Baron Prus. Unvermittelt tritt die Operndiva Emilia Marty auf den Plan, auch sie auf der (verzweifelten) Suche nach einem Dokument. Sie lebt bereits seit 337 Jahren, nachdem ihr Vater Hieronymus Makropulos ihr als Versuchskaninchen einen Trunk verabreichte, der eigentlich der kaiserlichen Familie ein ewiges Leben bescheren sollte. (Was für eine Blasphemie, ganz nebenbei bemerkt, das göttliche Heilsversprechen in den Händen eines Alchimisten!). Die Wirkungszeit läuft ab und sie benötigt dringendst das Rezept für das Elixier, das sich im selben Schrank auf dem Gutshof befindet wie das Testament. Die nicht-juristische „Sache oder der Fall“ Makropulos.
Der erste Akt, die Exposition, dauert gut eine halbe Stunde. Entspannt sind jetzt nur noch die Operngäste im Hochparkett und auf den Rängen. Denn wir befinden uns mitten in einem Konversationsstück, die Dialoge tragen die Handlung, die Logik findet ihren Niederschlag in den Texten der Übertitel. Nie war es wichtiger, einen nackenfreundlichen Blick auf das magische Band zu haben. Wer sich auf Arien, Duette, große Bögen der Melodien, das Reingrätschen des Baritons, all‘ die Zutaten der klassischen Oper, freute, blickte und hörte ins … nun nicht Leere, aber ins völlig Andere. Was dabei fasziniert: Das Orchester untermalt oder unterstützt nicht den Gesang, sondern führt quasi ein Eigenleben. Die Tonsprache Janáčeks zeigt sich besonders vielschichtig; sie kommentiert gleichermaßen das Geschehen: meckernde Oboen, ein hämisches Fagott, die naserümpfende Klarinette. Fast so wie bitonale Musik – das Orchester spielt etwas anderes, als das Ensemble singt. Eine echte Herausforderung, zumal in der Originalsprache Tschechisch gesungen!
Die Zeit … Wie langsam kann Herr von Hauk (sehr differenziert dargestellt und meisterlich gesungen von Johannes Mertes), einer der zahllosen Liebhaber der Diva, einen Stuhl von rechts nach links über die Bühne ziehen? Mehr als zwei Minuten nimmt er sich Zeit; er ist ja schließlich nicht mehr der Jüngste. (Was als Inszenierungselement natürlich ganz pragmatisch den Umbau für den zweiten Akt abdeckt.) Nun also die Garderobe der Diva nach einem Auftritt – ein Blumenmeer. Ein bisschen too much, ein wenig over the top, vielleicht auch eine Hommage an den überbordenden Deko-Geschmack osteuropäischer Kulturen, eine schrille Plastikblumenverehrung. Und gleichzeitig die Assoziation an eine Leichenhalle, wo der Sarg unter den floralen Abschiedsgesten verschwindet. In diesem Bild erleben wir den männermordenden Vamp (tatsächlich nimmt sich der Sohn des Widersachers Prus aus enttäuschter Liebe zu ihr das Leben) als junges, verliebtes Mädchen. Hauk mag verrückt erscheinen, aber als einziger erkennt er seine anadalusische Liebe und sie gibt sich zu erkennen. Und die Musik spielt dazu … lieblich, romantisch, tänzerisch, die Viola d’amore das Instrument.
Schließlich wird das Blumenmeer die Arena für den alles entscheidenden Kampf. Auf dem Schreibtisch der Kanzlei – nun ein Katafalk – bezahlt Emilia Marty mit Sex für ihr überlebenswichtiges Rezept, ausgebreitet wie eine Gekreuzigte, kalt wie eine Tote. Ganz großes Kino, möchte man sagen, wie die beiden, dargestellt und gesungen von Yannick-Muriel Noah und Ivan Krutikov, sich wie wild entschlossene Tiere gegenüberstehen, reduziert auf Unterwerfung und Überleben. Prus verliert alles: den Erbstreit, seinen Sohn, seine Würde. Emilia gewinnt: ihre Autonomie, ihr Seelendrama, ihre Freiheit. So sehr sie nach dem lebensverlängernden Trunk gierte, so dramatisch gelingt es ihr, den und die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Als da wären – die zahllosen Verehrer, die mit üppigen Blumengebinden hinter den Türen lauern. Und ihr Vater, der Übermensch, der sich anmaßte, über die Natur zu siegen. Was tat er ihr an? Ein Konflikt im fast klassisch-antiken Sinne? Der Vater opfert die Tochter, um seine Macht und Anerkennung zu etablieren? Erinnert das an die gerade verklungene Elektra, die wahnhaft den Vater rächt und die ebenfalls geopferte und genauso gerettete Iphigenie? Die Oper kam auf die Bühne, als die Psychoanalyse nach Freud so richtig populär wurde. Wie befreien wir uns vom Erbe unserer Vorfahren – seien es die moralischen Hypotheken oder die politischen? Janacek schrieb die Oper fast unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie, nach dem Ende der bisherigen europäischen Ordnung im ersten Weltkrieg. Kein Vater, kein Kaiser, kein Halt, ein Chaos, wie es in der Eingansszene herrscht – indem die Sinnbilder der Bürokratie, die Dokumente, unkontrolliert von der Decke segeln.
Diese Oper lebt und atmet mit und von ihrer Hauptdarstellerin. Völlig verdient brandete jubelnder Applaus auf, als Yannick-Muriel Noah allein auf der Bühne erschien. Starke Frauenfiguren, die in letzter Konsequenz alles geben, sind ihre ureigene Domäne. Eine fantastische Tosca, eine überragende Gräfin Chabert, eine leidgeprüfte Jenny von Westfalen und nun eine sensationelle Elina Makropulos alias Eugenia Montez alias Elian MacGregor alias Ekaterina Myschkin alias Emilia Marty. Ihr Sopran, so fein in den Spitzen und so ausdrucksstark im Drama, einfach eine Klasse für sich. Sie gibt die Diva nicht als eiskaltes Ungeheuer, sondern fügt lyrische, weiche Passagen hinzu, die die verletzte Seele hinter dem Glamour von Pelzstola und Maßkostüm entblättern.
Ivan Krutikov bringt Statur und Stimme für diese Powerpartie mit. Wie er sich entblößt, eine olfaktorische Testosteronprobe nimmt, die Hosenträger abstreift und schließlich als gebrochener Mann in Sockenhaltern und Unterhose die Nachricht vom Selbstmord seines Sohnes annimmt – schauspielerisch um Klassen besser als alles, was wir je von diesem Ensemblebariton mit der gewaltigen Stimme erlebt haben. Eine Heldenbariton-Idealbesetzung!
Martin Tzonev – der Bonner „Bass vom Dienst“ – turnte nahezu artistisch durch die hals- und zungenbrecherischen tschechischen Silben auf demselben Ton. Eine tolle Partie für einen seriösen Bass, darstellerisch agil und präsent bis hin zum Zusammenbrechen angesichts der Enthüllungen. Das Bonner Ensemble glänzte – auch wenn für viele nur ein kleines, dennoch anspruchsvolles „Röllchen“ im Angebot war. Christian Georg, Susanne Blattert, Anjara Bartz, Kathrin Leidig spielten ihr darstellerisches Potenzial voll aus. Auch im Schweigen und Schauen (Kathrin Leidig als Krista) liegt große Kunst.
Aus Darmstadt ergänzten das Ensemble Thomas Piffka als Albert Gregor und David Lee als Janek. Letzerer stirbt früh von der eigenen Hand – die Erotik der Emilia Marty, das schamlose Knutschen vor dem Vater haben ihn um den Verstand gebracht. Piffkas Heldentenor durchschnitt die aufwühlende Musik aus dem Graben; mühelos setzte er Akzente, die lange nachklingen. Sehr, sehr eindrucksvoll.
Ein Konversationsstück war zu sehen und zu hören. Deshalb auch das Augenmerk auf die Schauspielerei des Ensembles. Der Regisseur Christopher Alden hat die Oper 2006 für die English National Opera in London inszeniert, die dann in Prag 2009/10 zu sehen war. Die Kritiken überschwänglich. Großartige Szenen mit den männlichen Statisten, die wie in Pina-Bausch-Chorografien die Bühne überqueren und einfach nur mit durchgedrücktem Kreuz gehen in Anzug und Weste wie Herren von vor 100 Jahren. Aussagekräftig die Halle, die Raum für alle drei Akte bereitstellt, mit hinreichend Symbolkraft die Türen, der Tisch, der Vorhang, die Uhr. Kostüme der Zeit, null Verfremdung, eher naturalistisch. An drei Stellen kommen Schiefertafeln aus einem Klassenzimmer ins Spiel. Darauf zeichnen die Akteure die Beziehungen untereinander auf, ein andermal die Formel für das Lebenselixier. Heute würde man das vermutlich mit einer Video-Projektion gestalten; das wäre einfach besser zu lesen. Aber Alden belässt es bei seiner old-school Variante. Nach 13 Jahren kann auch so eine Inszenierung aus der Zeit heraus interpretiert werden.
Im Graben also Eigenleben. Nach Frau Noah heimste das Beethoven Orchester Bonn den größten Applaus ein. Moderne (immerhin auch 100 Jahre alt!) Musik auf hohem Niveau interpretiert: dank der üppigen Orchestrierung mit sattem, überzeugendem Klang.
Der Erste Kapellmeister Hermes Helfricht dirigierte und ließ sich stellvertretend auf der Bühne feiern. Fast wäre ihm ein echter faux-pas passiert. Im Überschwang drohte er mit einem Fehltritt in den Graben zu stürzen. Da hätte er mal auch besser beim Sicherheits-Briefing aufgepasst, wie er selber sagte.
Das Stück berührt über den intellektuellen Kanal. Die Dialoge sind so schnell, die Musik so rauschhaft, unsere Hörgewohnheiten kommen auf den Prüfstand. Dazu der Tipp einer Premierenbesucherin: Am besten würde die Oper zu jeder Eintrittskarte eine zweite für den halben Preis abgeben. Damit die Leute nach der ersten Begegnung wiederkommen und diese großartige Musik noch einmal hören und besser kennen- und liebenlernen.
Termine und Karten für die nächsten Vorstellungen hier.
Interviews mit dem Regisseur, dem Dirigenten und der Protagonistin auf WDR1. Klickt einfach hier oder hier.
Ein Interview mit dem Regisseur Christopher Alden lest ihr hier.
Eine übersichtliche Handlungsskizee zeigt youtube.
Danke für die informative und einfühlsame Beschreibung der Premiere.
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Es war eine Herausforderung, die Komplexität des Geschehens in 1.500 Wörter zu verwandeln. Ich freue mich, wenn meine Eindrücke dir gefallen.
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