Ein schrecklicher Ruf eilt der Königstochter aus der griechischen Mythologie voraus. Sophokles hat das Drama um die Familienmorde bereits 413 v. Chr. geschrieben; es gehört zum gymnasialen Lektürekanon genauso wie zu den Spielplänen zahlreicher Theater, heute allerdings meist in der dramatischen Nachdichtung von Hugo von Hofmannsthal (1908). Er schrieb auf dieser Grundlage das Libretto für die Oper Elektra von Dr. Richard Strauss, wie es im Textheft heißt, zuerst 1909 veröffentlicht bei Adolph Fürster in Berlin.
Locker, nicht vom Hocker, sondern vom roten Ledersessel moderierte Stefan Keim die Einführungsmatinee zur Oper Elektra, die zwei Wochen vor der Premiere etwa 150 Gäste ins Foyer lockte. Da sprachen aus jedem Intro und aus jeder Überleitung seine soliden Kenntnisse in Oper und Theater, seine exzellente Vorbereitung und seine rhetorische Finesse. Nicht nur Kulturjournalist, sondern auch Kabarettist! Und das ging so.
Auch für die Helden der Antike gelten ein paar Grundregeln. „1. Einen Krieg gewinnt man am ehesten, wenn der Feldherr persönlich am Ort des Geschehens weilt.“ Klingt banal? Weit gefehlt. Agamemnon führte als Griechenkönig das Heer in den Trojanischen Krieg, allein es fehlten die günstigen Winde, die die Flotte nach Osten trügen. Nun hatte er zusammen mit Klytämnestra vier (eheliche) Kinder, drei Töchter und einen Sohn. Flugs entschied er, seine Tochter Iphigenie den habgierigen Göttern zu opfern und sie so milde zu stimmen. Schließlich seien drei verbleibende Kinder mehr als ein verpasster Einsatz am östlichen Ufer des Mittelmeers.
„2. Eine Frau ist nur dann glücklich, wenn der Ehemann auch gelegentlich zu Hause nach dem Rechten sieht.“ Nach dem Kindesopfer hier also der alles entscheidende Faktor, der die ganze Familie im Wahn zugrunde gehen lässt. Agamemnon kehrt siegreich heim nach Mykene, wird aber vom Liebhaber seiner Frau Klytämnestra, Aegisth, erdolcht. Er spielt also nicht mehr mit, ist aber gleichzeitig so präsent in der Oper, dass er ein eigenes Musikmotiv bekommt. So kurzweilig und gleichzeitig pointiert bereitet Keim den Boden (was für eine Wortfolge!) für eine fruchtbare, witzige, aufschlussreiche, zweisprachige Diskussion unter den Podiumsgästen.
Enrico Lübbe war als Regisseur mit von der Partie, zusammen mit dem Dramaturgen Thorsten Buß. Beide Künstler haben momentan ganz entscheidenden Anteil an dem ausgezeichneten Ruf des Theaters Leipzig, das Stefan Keim mit „the hot spot“ bezeichnete. Aile Asszonyi, dem Bonner Publikum als dramatischer Sopran bereits aus Schoecks Penthesilea vertraut, sorgte für kräftige Lacher mit ihrer kernigen Sprache – von political correctness wich sie durchaus ab. Neben ihr GMD Dirk Kaftan, der vor der Matinee noch mal fix nachzählte, wie viele Musiker sich denn für das Stück den Graben teilen müssen. Er kam auf 115 (wahrlich keine Combo!) und zeigte sich zuversichtlich, dass wenn nun die gesamte Unterbühne und der Keller für die Pulte leergeräumt sind, auch ordentlich was aus dem Graben tönt.
Eine wunderbare Überleitung zu den Abgründen des Stücks. Da spielt sich auch vieles Unergründliche, Verschüttete, Verdrängte ab. Es heißt, Strauss habe beim Komponieren Sigmund Freuds Traumdeutung auf dem Klavier liegen gehabt. Ja, die Zeit der Psychoanalyse hatte gerade begonnen, das Aufdecken der tiefen Seelenlagen.
Aber zunächst zurück zum Stück, zum Plot. Also während Agamemnons Feldzugs hat Aegisth bereits Tisch und Bett mit der Königin Klytämnestra geteilt. Der einzige Sohn Orest war mit im Krieg, die beiden Töchter Elektra und Chrysothemis leben bei Hofe. Alljährlich zum Todestag des Vaters erinnert Elektra in Wehklage und Anklage daran, dass ihre Mutter in einem kriminellen Konkubinat mit dem Mörder ihres Vaters, des rechtmäßigen Königs, lebt. Sie sinnt auf Rache und Sühne, ihre Schwester bekennt: „Ich bin ein Weib, ich will ein Weiberschicksal.“, sprich Mann und Kinder und Eigenheim. Ob Elektra sich das auch auf der tieferen Ebene ihrer Seele wünscht? Die Musik – so Kaftan – deutet das mitunter an.
Glücklich, voller Liebe und voller Euphorie zeigt Elektra sich dann, als sie im „traumatisierten Kriegsheimkehrer“ ihren Bruder Orest erkennt. Gemeinsam planen sie die Rache an der Mutter und dem verhassten Vatermörder Aegisth, den Orest in die Tat umsetzt. Wo eine Familie war, liegen Trümmer. Tot die Älteren, im Wahnsinn verendet die Tochter.
Wie gestaltet sich nun eine Gesellschaft, in der Gewalt, Grauen und Verbrechen herrschen? Im Theater zunächst einmal in zwei Stunden höchster Dramatik. Ob denn das Stück auch noch Züge von Leichtigkeit habe, geht die Frage an Dirk Kaftan. Eher herrsche Sarkasmus oder Ironie in der Musik, auch wenn Chrysothemis träumt oder Elektra von Erlösung fantasiert; dann komponiert Strauss eine operettige Walzerwelt. Das Extreme, Ausufernde bedeute aber nicht, die Grenze der Tonalität sei überschritten. Denn die Tonarten stehen für die Themen in einer Ballung der Chromatik als einem Reibungszentrum, das im Erkennens- und Wiedersehensglück von Elektra und Orest aufgelöst wird. Um das zu demonstrieren, macht sich Kaftan gleich wieder auf zum Flügel – mittlerweile ein wiederkehrendes Motiv der Matineen!
Der GMD erläutert, wie die ersten 10 Takte die Vorgeschichte erzählen (Agamemnons), wie das Beilmotiv funktioniert und Elektras Hass- und Rachemotive. Bemerkenswert dabei: Elektra ist in der Musik als Charakter nicht vorhanden. Sie drückt nur aus, was mit ihr geschieht, also passiv, die Leidende im ursprünglichen Wortsinn. Ihre Kontrahentin die eigene Mutter. Allerdings auch nicht gezeigt als nur rachsüchtiges Biest, sondern wie Lady Macbeth von fürchterlichen Träumen geplagt. Die Erinnyen lassen grüßen, die drei Göttinnen der Gewissensbisse.
Dann hören wir sie zum ersten Mal, die dunkle Mezzostimme der Nicole Piccolomini aus Philadelphia, USA, als Klytämnestra. „Was ist denn ein Hauch?“ fordert sie Elektra heraus, um Hilfe bittend. „Du bist klug, in deinem Kopf ist alles stark.“ Das Dämonische, aber auch das Zerrissene dieser Figur vermittelt sich in dieser Arie. Später hakt Keim nach. Auf der psychologischen Ebene sei Klytämnestra ja auch die ältere, frustrierte Frau, deren sexuelle Anziehungskraft nachlässt. Warum dann die Besetzung mit einer so schönen Frau, die – auch ohne #metoo Debatte auslösen zu wollen – zweifellos erotisch-attraktiv sei. Die Antwort blieb aus. Ich ergänze: Weil sie eine großartige Sängerin ist! Sie überzeugte mit ihrer Modulation und ihrer fabelhaften Textverständlichkeit gleichermaßen. Die musikalischen Kostproben begleitete einfühlsam – wie so oft – die wunderbare Studienleiterin Julia Strelchenko.
Ja, hier spricht das Expertenteam über ein Musikdrama über Frauen. Die Mutter und die beiden Töchter sind komplex angelegt: alle drei sind psychisch krank, alle drei sind einander in Hassliebe verbunden, alle verabscheuen und brauchen sich. Nicht nur Klytämnestras Seele hängt in Fetzen, auch die Elektras, die Seelen beider Frauen sind ausgezehrt. Thorsten Buß, der Dramaturg, versinnbildlichte seinen Zugang zu Elektra mit seiner persönlichen Biografie. Als DDR-Kind beschäftigte er sich in der Schule nur mit der Geschichte dieses Staates (die paar Jährchen!). Sofort nach dem Mauerfall begann der Geschichtsunterricht mit der Antike. Am Ende von Etwas muss eben immer etwas Anderes stehen, der Beginn einer neuen (in diesem Fall der alten) Zeit. Und von daher habe er auch ein so großes Interesse an der Verdrängung, dem Unterbewussten und dem Unbewussten, das Gesellschaften auch prägt.
Als Chrysothemis erleben wir das „Cover“ Ann-Marie Backlund, die die Rolle im Repertoire hat. Aus Nordschweden half sie der Oper Bonn aus einer echten Kalamität, nachdem die Erstbesetzung wegen Schwangerschaft, die zweite wegen Krankheit ausfiel. Drücken wir mal die Daumen, dass wir diese ausdrucksstarke Sängerin mit dem großen Sopran sowohl in der Premiere als auch in vielen Aufführungen erleben. „Es ist kein Wort, kein Schmerz, nichts ist es!“ „Ein Etwas“, das die bodenständige junge Frau ihre wild entschlossene Schwester vom Morden abhalten will. – Wie wenig wird ihr das gelingen! Die Kostprobe heute unterstützt Kaftans wertende Worte: „Sie ist ein Glücksfall für uns.“
Die dritte starke Frau im Bunde bringt sich heute nicht zum Singen in Position, sondern behauptet diese auf dem Männerpodium schlagfertig, geradeheraus und sehr reflektiert. Sie singt nicht, weil sie die Elektra – eine der schwierigsten Partien für den dramatischen Sopran überhaupt (Keim siedelte sie auf dem Opernolymp an, ganz nah an den großen Wagnerrollen) – nur mit Klavierbegleitung für Publikum nicht passend findet. Hält sie Elektra für eine gebrochene Frau? Schließlich muss sie sie ja „verkörpern“. Da plaudert Aile aus dem Sängerdarstellerinnen-Nähkästchen. Anders als auf der Theaterbühne erarbeitet sie den Charakter emotional zu Hause, um auf der Opernbühne mit kühlem Kopf und kognitiv diese Emotionen durch den Gesang zu evozieren. Ja, hinter der Fassade der Wut sei Elektra sehr verletzlich und Strauss habe sie mit einer Notenfülle und gleichzeitig mit Anmut und Schönheit ausgestattet.
„A heck of a long role“ sei die Elektra (und Kaftan nickt, sein Arbeitspensum für diese Oper ist auch gewaltig). Und sie fühle sich im Moment noch wie eine Hummel, der noch niemand verraten habe, dass sie nach den Gesetzen der Physik eigentlich nicht fliegen könne.
Sie sei von Hause nicht ängstlich (I do not belong to the faint-hearted), aber je länger sie sich mit dem Part beschäftige, umso komplexer werde er. Zwar habe sie nicht so viele hohe Noten zu singen, aber der Atem muss verdammt lang sein und in enormen Wellen geführt werden. Ailes Fazit, sehr zum Amüsement der Matinee-Gäste: „Elektra is definitely not a screaming bitch!“ Als sidekick vom Regisseur Lübbe dazu: „Diese Rolle muss man auch spielen können. Und wenn Aile nicht schon an die Oper verloren wäre (allgemeine Heiterkeit), dann hätten wir sie gern am Schauspiel.“
Die Damen schlagen also die großen Seelenschlachten, die Männer sind a) nicht da, weil vermisst oder tot, b) Erfüllungsgehilfen oder c) Deppen. Zumindest schildert Strauss c) = Aegisth musikalisch aus Elektras Sicht so. Er agiert ja als brutaler Diktator und die Musik zieht das ins Lächerliche (von Chaplin bis heute ein probates Mittel), so der Dramaturg. Und da sind wir schon bei der Relevanz. Chrysothemis würde sich ja mit einem Bauernjungen zufriedengeben für das bisschen friedliches Leben, sie will keine Rache. Das kommentiert Stefan Keim mit „Klar, denn mit solchen Bürgern können Diktatoren prima leben.“ Aller Interpretation mit aktuellen Bezügen entzog Kaftan sich. Unser Opernpublikum kann selber denken.
Corriamo heißt es am Ende von Mozarts Figaro. Wir laufen … die Menschen im Habsburger Wien, am Vorabend der Französischen Revolution und in der Aufklärung. Aber wohin? Übertragen auf Elektra: Was passiert am Tag nach dem Rausch (in ekstatischem Tanz geht die Protagonistin zugrunde)? Was, wenn das große Ziel erreicht ist, wenn der Vater gerächt ist, die Mutter tot? Was dann? Wie gestaltet sich das Neue zwischen dem alten (bildungsbürgerlich benannten) Spannungsfeld zwischen Eros und Thanatos?
Schließlich, und ganz nah bei Freud, eine zukunftsweisend tragfähige Deutung? Eros und das Unausgesprochene bilden die Grundpfeiler. Agamemnon war der Mann ihres Lebens für Elektra, für ihn gibt sie alles auf; dieser Übervater lenkt über den Tod hinaus das Geschehen. Der Mann als ordnendes Prinzip eines hierarchischen Patriarchats. Was setzt Richard Strauss dem in packender Musik gegenüber? Starke Frauen und eine Titelheldin, die die Männer verstört, auch mit ihrer Erotik.
Premiere am 10. März 2019 um 18:00 Uhr im Theater Bonn. Karten gibt es hier.
Wow – wie immer, sehr toll zusammengefasst!
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Danke für die sehr aufmerksame und humorvolle Zusammenfassung. Hat viel Spaß gemacht.
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Vielen Dank für Ihre tolle Zusammenfassung! Auf bald in der Oper Bonn!
Ihr Enrico Lübbe
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Ann-Marie Backlund war früher Ensemblemitglied hier in Frankfurt. Es freut mich sehr, dass sie jetzt in Bonn als Chrysothemis einspringt.
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