Die ersten Takte der Marseillaise hören wir fünfmal – kein Wunder, dass Oberst Chabert sehr bald nach der Uraufführung 1912 im wahrsten Sinne des Wortes sang- und klanglos in der Musikgeschichte versank. Bis Andreas K.W. Meyer sie vor acht Jahren für eine konzertante Aufführung an der Deutschen Oper Berlin wieder ausgrub und auch da und dort schon Jacques Lacombe dirigierte.
Bekannt für sein straffes Dirigat, die kernigen Tempi und prägnanten Zäsuren stand Jacques Lacombe dem Beethoven Orchester Bonn zum letzten Mal in einer Premiere vor. Und was für einem Werk! Mal salopp: ganz großes Kino! Große Spannungsbögen, extrem hohe Gefühlsdichte, Instrumente und Stimmen, die wie in einem Leinwandwerk alle Motive und die innere Zerrissenheit der Protagonisten abbilden.
Was gab es zu sehen? Einen Bombenkrater, in dessen Innerem Schutt und Geröll dem Ensemble akrobatische Einlagen abverlangte. Der Blick hinaus in die Welt des Lichts, der Außenwelt, der Anwaltskanzleit und des gräflichen Schlosses. Gesiebte Luft gleichermaßen, denn die Betonbrocken hängen noch am Moniereisengeflecht des Einschlags. Dahinter Videoprojektionen, in der die akkuraten Ablageordner auf dem Kopf stehen, Straßenzüge zerstörter Städte ablaufen, blattlose Baumwipfel sich mit Feuerwerkshimmeln abwechseln.
Dieses Draußen ist dem Protagonisten, Oberst Chabert, verwehrt. Er hält sich nur im Staub und Schmutz auf, zerlumpt, entstellt, verwahrlost, wie er selbst konstatiert. Die Gräfin Rosine, seine – nunja – ehemalige Frau, ist nun die Comtesse de Ferraud. Sie heiratete diesen Grafen, nachdem Chabert für tot erklärt wurde. Zwei Kinder sind der emotionale Mittelpunkt dieser Ehe. Sie bewegt sich – wie der Advokat Derville, die Schreiber Boucard und Godeschal, Graf Ferraud selbst – in beiden Welten: der von Lügen und Schmerz und der von Ansehen und Ehre.
Warum diese Personenkonstellation? Die Geschichte basiert auf einer Erzählung von Honoré de Balzac aus der Comédie humaine, die wohl auch einen wahren Kern hat. Oberst Chabert führte ein Reiterregiment an, das bei Preußisch Eylau Napoleon durch Flankenschutz den Sieg in der Schlacht ermöglichte. Chabert geriet unter die Pferdehufe der vorpreschenden Soldaten, wurde schwer verletzt in ein Massengrab geworfen. Mit letzter Kraft schaufelte er sich wie ein Maulwurf aus dem Loch. Eine Bäuerin pflegte ihn gesund und er machte sich in einer 10-jährigen Odyssee auf den Heimweg. Wie Penelope wird seine Gattin von Freiern belagert. Sie ist sehr jung, sehr schön, sehr vermögend.
Die Opernhandlung setzt ein, als Chabert dem Advokaten Derville nachts sein Anliegen schildert. Zunächst lauscht der amüsiert bis ablehnend, bis ihn der Fall zu interessieren scheint. Der Zufall will es, dass er auch die Gräfin anwaltlich vertritt und diese unvermutet ebenfalls nachts in der Kanzlei auftaucht. Machen wir es kurz. Mit einer List beweist Derville, dass Chabert die Wahrheit spricht. Die Gräfin muss sich ihrem Mann offenbaren, der will sie mit den Kindern (die ja nun illegitime Bastarde sind) verlassen. Chabert sieht sich gezwungen, anzuerkennen, dass Rosine ihn nie geliebt hat. Als Waise hat er sie aus der Gosse gezogen, wo sie die Wahl hatte zwischen Schande (Prostitution), Betteln oder Selbstmord in der Seine. Sie wollte die Herrlichkeit des glamourösen Lebens. Ein fairer Deal? Das handeln die beiden neu aus. Schließlich scheidet Chabert aus dem Leben; er gibt sich die Kugel, weil er sterben will wie ein Soldat. Erst jetzt erkennt Rosine die wahre Größe und den inneren Adel ihres – nunja – Ex-Mannes und nimmt sich mit Gift das Leben. „Jetzt bin ich dein – in alle Ewigkeit“ singt sie als letzte Botschaft, bevor sie fällt.
Durchatmen wird nötig nach jedem Akt, hatte Lacombe angekündigt. Wie wahr in diesem Musikdrama von 100 Minuten! Tatsächlich nach Atem ringen musste das Publikum am Ende. Furios! Grandios! Musikalisch von einer Dramatik, wie wir alle sie noch nie gehört hatten. (Das stellte Dr. Helmich noch mal in der Premierenfeier fest: Die letzte dramatische Aufführung fand 1933 statt.)
Diese „verschüttete“ Oper benötigte also einen Regisseur, der sie jetztzeitkompatibel inszenierte. Sie fand Roland Schwab, der für seine Bildersprache sehr zu recht einen großen Applaus erhielt. Er erzählt die Geschichte ohne Umschweife und sehr eindrücklich; das Leid fast aller Beteiligter wird auf dieser Bühne und in dieser Dramaturgie greifbar. Ergreifend im wahrsten Sinne des Wortes. Ein ganz besonderes Lob an die Lichtregie; hier war mit Boris Kahnert ein kunstsinniger Profi am Werk.
Oberst Chabert lebt mit der Kraft eines Orchesters, das mit Korngold, Schreker, Schoeck wiederholt bewiesen hat, wie souverän und mitreißend es moderne Opernliteratur meistert. Und diese Oper durfte sich ganz auf eine unfassbar musikalisch ausgereifte Besetzung aus einem Gruppenbild mit Dame verlassen, fast ausschließlich aus Ensemblemitgliedern zusammengesetzt.
Die erste Töne kommen von David Fischer, der mit einem frischen, klaren „Trompeten“-Tenor das Publikum einstimmt. Er empfiehlt sich heute mehr denn je (Hauptrolle in Geisterritter) für größere Partien. Ihn sehen und hören wir nach dem Auftakt nicht wieder,
wohl aber seinen Kanzleischreiberkollegen Godeschal. Martin Tzonev at his best. „Da wuchtet einer den Wotan auf die Bühne“ ließ der Generalintendant sich vernehmen. Ich übersetze: eine Basspartie vom Allerfeinsten. Endlich einmal darf der – sonst zur Bosheit oder Clownerie verdammte – Bass eine große, edle Rolle spielen und singen. Tzonevs Godeschal verkörpert die Soldatenehre und -treue, die Aufrichtigkeit und den Regimentsgeist. Der „Bass vom Dienst“ der Oper Bonn zeigte eine neue Facette seines Könnens – und das Publikum war begeistert.
Vokalartisten braucht diese Oper … und großartige Schauspieler. Meisterlich vereint Giorgos Kanaris diese Ansprüche. Sein Gesang – ein Genuss. Voll und warm ertönt sein Bariton, als er wie ein Lebemann (heut‘ geh‘ ich ins Maxim) im Ausgehanzug mit Kummerbund nach dem Theater noch schnell nachts ein paar Fälle bearbeitet. Er wandelt sich von dem belustigt amüsierten Staranwalt der Reichen und Schönen, des Adels und des Geldes, zum mephistophelischen Strippenzieher. Die „Lust an seinem Handwerk“ überführt die verlogene Gräfin und er lacht und lacht und lacht – bis er am Ende erschüttert dem nahezu klassischen Ausmaß der Tragödie beiwohnt. Mit jeder Rolle wachsen Giorgos Kanaris‘ Stimme und sein Schauspiel gleichermaßen. Großartig!
Yannick Muriel Noah leuchtet als Comtesse à deux maris, wie es bei Balzac heißt. Eher im italienischen Fach zu Hause und als Tosca oszillierend zwischen Leidenschaft und Verzweiflung, sehen wir sie hier als innerlich zerrissene Frau im Mittelpunkt eines Gesellschaftsdramas. Zeichnet Balzac die Gräfin noch als skrupellosen, eiskalten Engel, wandelt von Waltershausen sie zur liebenden Mutter und Frau, die ihren inneren Loyalitätskampf nur durch den Freitod entscheidet. In großer Abendrobe und im Cocktailkleid macht sie gleichermaßen bella figura, meistert bravourös in filigranem Schuhwerk die Schotterpisten der „Unterwelt“. Ein Bild für die beiden Seiten ihrer Persönlichkeitsmedaille? Sie liebt und leidet, sie intrigiert und schämt sich, ihr Sopran scheint nach oben keine Grenzen zu kennen und wird im Angesicht des Todes so seidenzart … Einfach wunderschön.
Ihr zur Seite der Gatte, den sie hatte. Oder hat. Der aber nur mit Mühe im Liebesduett mit ihr mithält. „Eine höllische Partie“ – so Bernhard Helmich – fürwahr! Schauspielerisch überzeugend steigert sich der Tenor Peter Tantsits von Akt zu Akt, um im großen Quintett eine reife Leistung abzuliefern. Seiner Verzweiflung darüber, dass und wie seine Welt nun in Trümmern liegt, verleiht er glaubwürdig Ausdruck.
Begeisterungsstürme branden auf, als Mark Morouse zum Schlussapplaus nach vorne geht. Absolut zu recht. Es ist kaum in Worte zu fassen, wie er der gequälten Kreatur Stimme und Würde verleiht. Sein Kostüm unterstreicht seine Seelenpein; die Krücken bedeuten seine Lebensunfähigkeit, die leeren Hände, durch die alles rinnt, seine Verzweiflung. Die grausamsten körperlichen und seelischen Qualen hat Chabert während der vergangenen 10 Jahre ertragen. Aber nun, der Liebe seiner angebeteten Rosine beraubt, verzweifelt er. „Es ist Gesetz vom allerhöchsten Gott, dass Tote nicht mehr wiederkehren sollen.“ lautet seine Schlussfolgerung. Morouse setzt in dieser Partie seiner bisherigen sängerischen Laufbahn die Krone auf. Faszinierend, fesselnd, facettenreich sein Gesang. Er trägt die Handlung, auch wenn er nur stummer Zeuge des Geschehens wird. Fantastisch!
Der Opernchef am Theater Bonn, Andreas K.W. Meyer, hat hartnäckig und beharrlich den Plan verfolgt, dieses musikalische Meisterwerk wieder auf die Bühne zu bringen. Es ist ihm mit kongenialem Regisseur und Dirigenten, mit einem grandiosen Orchester und einem sensationellen Ensemble gelungen, die Wiedergeburt zu einem Ereignis zu machen. Glückwunsch!
Und in einem kann ich ihm nur beipflichten. Das Quintett am Ende des 2. Aktes ist überirdisch, ja himmlisch schön. Ein musikalisches Kleinod, zweifellos.