Die Schätzungen liegen weit auseinander. Zwischen 65.000 und 200.000 Opernwerke mögen komponiert worden sein, wenn die Zeitrechnung mit Monteverdis L’Orfeo so um 1600 herum beginnt. Daraus kristallisierte sich ein Repertoire, eine Hitliste, von 25 Opern heraus, die landauf, landab, länder- und kontinenteübergreifend ihren Weg auf die Bühnen der Welt finden. Warum dann Oberst Chabert von Hermann Wolfgang von Waltershausen jetzt am Theater Bonn?
Die Frage stellte Markus Schwering, Musikredakteur beim Kölner Stadtanzeiger, dem Herren-Trio bei der Matinee zur letzten Premiere der Spielzeit 2017/18. Seine Talk-Gäste waren Jacques Lacombe, der zuletzt vor acht Jahren dieses Werk in Berlin dirigierte, Roland Schwab, der seine Inszenierung spürbar, sichtbar und nachvollziehbar im Hier und Jetzt ansiedelt und sich intensiv mit der häufig angefragten RELEVANZ auseinandersetzte, und Andreas K.W. Meyer, Opernchef des Hauses und Dramaturg des Stückes.
Meyer kokettierte ein wenig mit seiner Herkunft. In Berlin habe er Oberst Chabert programmiert, weil er von der Qualität der Musik, von seinem musikalischen und dramatischen Wert vollkommen überzeugt sei. Lasst mich kurz abschweifen. Seid ihr bei dem Wort „programmiert“ auch gestolpert? Ist das nicht herrlich, im vermeintlich verstaubten Sprachduktus zur Oper ein so „digitales“ Wort in einem so analogen Kontext zu verwenden? Also, Herr Meyer ist Westfale und parierte Schwerings Kategorisierung. Als Westfale sei er nicht stur, sondern hartnäckig. Und deshalb habe er diese Oper vom Müllhaufen der Opernliteratur ausgegraben. Es handle sich zweifellos um ein Meisterwerk.
Wir hören die große Arie des Chabert aus dem 1. Akt, meisterlich dargeboten von Mark Morouse, Ensemblemitglied am Theater Bonn. Chabert hat einen nächtlichen Termin beim Advokaten Derville ergattert und berichtet nun die ganze Vorgeschichte seines Anliegens. In den napoleonischen Feldzügen nach Osten befehligte er ein Reiterregiment, ermöglichte dem Kaiser den Sieg dieser Schlacht, stürzte aber selber vom Pferd, wurde von Tausenden überrannt und schließlich schwer verwundet – mit gespaltenem Schädel – in eine Grube mit anderen Leichen geworfen. Wie ein Maulwurf grub er sich nach oben durch und erblickte die herrlichste Schneelandschaft – von der Dunkelheit des Todesverlieses zum gleißenden Licht. Eine Bäuerin pflegt ihn gesund, er tritt seine Heimreise an. In Spitäler und Irrenhäuser gesperrt, ringt er um seinen Namen und seinen Stand, seine Anerkennung. Erst als er den Namen des Bettlers Hyacinth annimmt, wird er als geheilt entlassen. Ein krasser Irrsinn! Wie Odysseus benötigt er 10 Jahre bis zu dieser Nacht, um sein Recht einzufordern. Rehabilitation, Rückgabe seiner Güter, Wiedervereinigung mit seiner inzwischen erneut verheirateten Frau.
Vor euren Augen steigen Bilder auf? Aus Filmen, Geschichten, Romanen? Von an Leib und Seele verstümmelten und versehrten Menschen, die shell shocks erlitten und am trench trauma verzweifelten. Die Kriege der Menschheitsgeschichte bringen diese Opfer hervor. Roland Schwab, der bei Oberst Chabert zum zweiten Mal in Bonn (Somnambula 2011) Regie führt, setzt genau hier mit seiner Interpretation an. „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert wirkt genauso präsent wie „Die Ehe der Maria Braun“ oder „Apocalypse now“. Das Leid der Kriegsheimkehrer ist so alt wie die Menschheit. Aktuell berichten Menschen aus Aleppo, Syrien, von traumatischen Erlebnissen, gerade auch mit Verschüttungen. Noch Fragen zur Relevanz?
Roland Schwab lässt sich nur zögerlich in die Inszenierungskarten schauen. So viel verrät Schwering nach einem Spinxbesuch : Wir sind im Hier und Jetzt, zerborstener Beton das Bild für die brüchige Welt. Huch, mögt ihr denken, und so viel Elend in zwei Wochen auf der Opernbühne? Muss oder will ich mich damit auseinandersetzen? Nach den Kostproben des heutigen Vormittags lautet die Antwort: auf jeden Fall!
Hermann Wolfgang von Waltershausen (1882 – 1954) nutzte eine Geschichte aus Honoré de Balzacs Comédie humaine, in der er in literarischen Studien die gesellschaftlichen Verwerfungen in Frankreich nach 1815 seziert. Sein Sujet sind die Monstrositäten der menschlichen Spezies, Waltershausen hingegen gibt seinen Protagonisten in der Adaption des Stoffes Würde. Stellt Balzac die Comtesse à deux maris als eiskalten Engel dar, raffgierig und auf Stand und Reputation bedacht, so gibt von Waltershausen ihr einen lieblichen Namen und zeichnet sie als liebende Mutter und Frau. Er löst die vertrackte Situation (Spätheimkehrer trifft auf neuen Ehemann) auf mit einem Plädoyer für die Menschlichkeit. Das Libretto schrieb er selbst und die Musik der leidenden Kreatur könnte ein Selbstbekenntnis sein.
Er erkrankte als Kind so bedrohlich, dass die Ärzte einen Arm und ein Bein amputierten. Schwer behindert meisterte er Schule und Studium, spielte Klavier und dirigierte selbst. Von seinem Oeuvre hat im Wesentlichen diese Oper überlebt. Hier lässt Meyer den Werbejingle erklingen: Am 25. Juni 2018 um 19:30 Uhr veranstaltet die Oper Bonn Ein klingendes Porträt von Hermann Wolfgang von Waltershausen.
Roland Schwab blickt der Herausforderung „Steht einer auf der Bühne und erzählt seine (Leidens-) Geschichte“ gelassen entgegen. „Über allem und hinter allem steht die Musik. Der Text kann lügen, die Musik nicht. Darin liegt das Wahrhaftige.“ Jacques Lacombe pflichtet ihm bei. Wie Archäologen graben sie und legen Schicht um Schicht frei, von oben nach unten. Ihr merkt, der Topos „Graben, Grab, Ausgrabung“ ist ein durchgängiges Thema. Eine kollektive tiefenpsychologische Therapie also? Wir werden es sehen. Auf jeden Fall nimmt von Waltershausen viel Sigmund Freud vorweg, noch bevor dessen Tiefenpsychologie so weit (und auch küchenpsychologisch) verbreitet war wie heute..
Die vier Diskutanten auf dem kleinen Matinee-Podium einte ihre Fachexpertise in Sachen Musik; auch Schwab kommt von der Musik. So ordnen sie übereinstimmend Oberst Chabert als konservativ-spätromantisch ein. Elemente von Wagner klingen an, große Phrasen in der Melodieführung, impressionistisch, an Debussy erinnernd, aber auch als Weggenosse von Richard Strauss, der nach der Elektra in die Tonalität zurückkehrte. Im Graben dürfen wir ein großes Orchester erwarten, das subtil die Streicher und Holzbläser in den Vordergrund stellt, flankiert von wenig Blech und kaum Schlagwerk. Andreas Meyer lobt das Quintett am Ende des 2. Aktes. Es falle in die Kategorie „Die Zeit steht still und die Musik ereignet sich.“, also ganz atemberaubend großartig.
Zeit zum Durchatmen benötigt das Publikum nach jedem Akt, so Jacques Lacombe. Seine Tempi erzeugen den Drive, mit der die Geschichte (musikalisch) nach vorne geht. Langandauernde Melodien, alles im Fluss, das seien Charakteristika dieses Werks. Jacques sei der perfekte Handwerker, fügt Roland Schwab hinzu, der die Komposition musiktheatralisch zu ihrem Höhepunkt führt. Ja, Spannung erzeugen und das Dirigat agogisch lebhaft gestalten, so ist der Plan.
Uraufgeführt wurde Oberst Chabert 1912, am Tag danach sollen 76 Verträge für Produktionen an anderen Häusern vorgelegen haben. Na, das hört sich einem Erstürmen der Charts an. Warum dann das Versiegen dieser meisterlichen Quelle? Hermann Wolfgang von Waltershausen war politisch erzkonservativ, wohl dezidiert kein Nazi, aber auch kein lupenreiner Demokrat. Von ihm selbst stammt die Anekdote (die er zur eigenen Legendenbildung ersonnen haben mag), dass er Hitler die Stirn bot. Der wollte ihm in München nahebringen, wie Musik nach völkischen Richtlinien auf die Bühne auszusehen habe. Von Waltershausen selbst kolportierte seine Replik, dass am Theater Talent herrschen müsse, nicht die politische Gesinnung.
Wie dem auch sei – 1933 wurde v. Waltershausen von Münchner Musikhochschule entfernt, stellte das Komponieren ein und schrieb Künstler- und Musikmonographien. Er durfte weiter gespielt werden, gehörte nicht zu den verbotenen Künstlern.
Mit welcher Quintessenz ging das Publikümchen (so knapp 60 Leute mögen es gewesen sein) heute nach Hause? Die Musik? Lohnt sich auf jeden Fall. Das Stück? Naturgemäß aus der Zeit gefallen, braucht aktuellen Bezug. Die Botschaft? Die Toten sollen nicht zurückkehren, großer Interpretationsspielraum.
Zwei musikalische Kostproben vom Band und nicht nur ich war innerlich zum Aufbruch bereit. Da legte Markus Schwering noch mal eine kokette intellektuelle Volte hin. Wie denn die Oper mit Hegels Phänomenologie des Geistes zu verstehen sei? Die Gesprächsgäste runzelten die Stirn. Schwering erläutert, es genüge eben nicht, dass dieser Mann von sich behaupte, er sei Chabert. Die anderen müssten das anerkennen. Das ist in der Tat ein weites Feld und ein Philosophie-Oberseminar wert noch dazu. Roland Schwab parierte sehr gekonnt. Kommen wir zum Schluss, sagte er sinngemäß, der Oper. Chaberts Selbstmord enthält zwei Deutungsmöglichkeiten: eine post mortem Rache oder einen grandiosen Selbstverzicht. Die Deutung dieser Ambivalenz überlasse Hermann von Waltershausen dem Publikum.
Möge sich für die Premiere und die Folgetermine viel Publikum einfinden und dem Stück ein fulminantes Revival bescheren. Alle Termine hier.