Mehr als eine ganze Minute lang braucht es – perfekte Stille – erst dann löst sich langsam die Spannung. Die ersten Hände schlagen zum Applaus ineinander; zögerlich zunächst, dann begeistert stimmt das gesamte Publikum mit ein. Für dieses einzigartige Werk benötigen alle, Akteure wie Zuhörer, zunächst einen Moment des Ankommens.
„Einmalig“, ja wirklich „einmalig schön“ … so die ersten Stimmen rechts und links nach dem Ende des Konzerts. Ja, und einmalig auch weil erstmalig. Es hieß, das Werk sei noch nie in Bonn aufgeführt worden. Dann war die Zeit aber tatsächlich reif – und für den Karfreitag hätte Dirk Kaftan für die Reihe „Freitagskonzert“ kein besser geeignetes Stück auswählen können.
Ganz und gar unbegreiflich scheint es, wie Dvorak sein unvorstellbares persönliches Leid in den großen Kontext der göttlichen Erlösung stellt. Innerhalb von nur zwei Jahren starben vier Kinder der Familie. Und nachdem der Komponist schon früher an Stabat mater gearbeitet hatte, vollendete er es nun als Ausdruck seiner tief empfundenen Trauer.
Seine Metapher für das tränenreiche Leid schlechthin ist Maria, die mater dolorosa, die ihren toten Sohn am Kreuz beweint. Peter Sellars erläuterte 2017 seine Inszenierung von John Adams‘ The Gospel according to the other Mary und konstatierte: Für ihn gebe es kein größeres Leid, als das Sterben des eigenen Kindes mitzuerleben und nicht verhindern zu können. Da gilt also die gleiche Grundeinstellung für Werke in einem Abstand von deutlich mehr als 100 Jahren.
Die Klammer zeigt deutlich: Zuschauer und Zuhörer müssen nicht zwangsläufig gläubige Christen sein, um dem Komponisten durch die 10 Sätze in jeder Phase der Trauer und dem inbrünstigen Gebet um den persönlichen, individuellen Anteil am übermenschlichen, allegorischen Schmerz zu erleben oder nachzuvollziehen.
Willkommen in dieser mittelalterlichen und doch so aktuellen Welt – so äußerte sich Tilmann Böttcher in der dialogischen Einführung mit GMD Dirk Kaftan. Der wiederum charakterisiert das Konzert als gezeichnet von Trauer, Licht und Hoffnung, die ihren Ausdruck in dem klangmächtigen Crescendo des Gloria findet. Immer wieder stellt sich die Frage: Wie überwinde ich mein Leid, was darf ich erhoffen, wohin trägt die Dramaturgie von Schmerz und Licht? Am Ende wissen wir es: in eine andere Welt! Das Oszillieren zwischen göttlicher Gnade und menschlichem Empfinden wird an der Figur Marias deutlich. Die Kirche hebt sie auf eine göttliche Ebene, erhaben über alles. Die Menschen (des Mittelalters!) halten dagegen: Sie ist doch eine von uns, hat ein Kind geboren, hat tatsächliche Schmerzen erlitten.
Quis est homo? Wer ist der Mensch, der nicht weinte, wenn er ein Leid (Marias Pein) beobachtete? Ja, eine gute Frage angesichts der Gewalt in der Welt! Dem Dunklen stellt Dvorak das Helle, das Erleuchtete, das Crescendo gegenüber. Die Musik lässt keinen kalt. Hochemotional und changierend zwischen klanggewaltig und zartesten Chorpartien.
Nicht nur ich habe den Atem angehalten, wenn die Musik durch Dirk Kaftan förmlich hindurchlief, wenn die Percussion dem Drama Feuer gab, wenn der Chor tutti sang und die Solisten ihre Stimmen kreuzten. Das zündet – und nicht von ungefähr bestimmen die Wörter „inflammatus et accensus“ (entflammt und entzündet) den Tenor der Solopartie des Alts, den heute Dshamilja Kaiser als Mezzosopran sang.
Als Tenor eröffnete Christian Georg die Solopartien, wie Dshamilja Ensemblemitglieder der Oper Bonn. Martin-Jan Nijhof sang den Bass, Sonja Saric die Sopranpartie. Jede und jeder einzelne sehr sicher und mit schön sich ergänzenden Stimmen, weshalb die Quartette eine besondere Anmut auszeichnete.
Das Beethoven Orchester zuverlässig gut gestimmt und mit großer Intensität die Kraft des Stückes herausspielend. Aber gleichermaßen überraschend wie überzeugend der Philharmonische Chor Bonn unter der Leitung von Paul Krämer. Perfekt einstudiert und choreografiert und unglaublich harmonisch seine Partien mit dem Beethoven Orchester Bonn unter Dirk Kaftan. Das klang alles so jung und so frisch und so überzeugend und emotional so dicht … eine ausgezeichnete Kooperation, die wir sicher gern öfter hören und sehen. Denn auch optisch war das Konzertzimmer (eigentlich gebaut für die Konzerte des BOB im WCCB) mit dem blauen Hintergrund ein sehr passendes Ambiente für dieses Freitagskonzert der Sonderklasse.