Carmen und Kastagnetten

Harfe, Flöte und Piccolo tönen zauberhaft, ja magisch, aus dem Orchestergraben. Dynamisch, mitreißend, Flair im Rhythmus- und Tonköcher und gleichermaßen olé rufend schnalzen und knallen die Kastagnetten, die fürwahr selten eine tragende Rolle in der Instrumentalisierung einer Oper spielen. Aber sie geben ihr „Schmackes“, wie man im Rheinland sagt, wo die Carmen in Bonn  vor ausverkauftem Haus in vier Akten vom Lieben und Sterben der Protagonistin singt und spielt. 

Ihr feiner, klarer, subtil stimmiger Sopran verleiht der Micaëla den authentischen Reiz des unschuldigen Mädchens vom Lande. Sumi Hwang betört das Publikum bis hinauf auf den 2. Rang mit ihrer Präzision und Klarheit. Ein wirklicher Gewinn für das Bonner Ensemble, zumal sie auch schauspielerisch überzeugt. In ihren beiden großen Arien wächst sie förmlich über sich hinaus. Ganz und gar wunderbar!

Ihre Rolle? Der promisken Carmen die „wahren Werte“ der katholischen Landbevölkerung Spaniens entgegenzusetzen. Zugeknöpft bis obenhin mit Kleid und Mantel (in madonnenhaft mattem Blau) und einem Rucksack (wie das Rotkäppchen?) ausgestattet, aus dem sie einen Teddy, Tee, Brot und ihr Strickzeug hervorholt. Fix vollendet sie den langen Wollschal und legt ihn Don José wärmend und schützend um den Hals. So weit der Regieeinfall. Aber bitte, liebe Leserschaft, was soll das? Wir sind in Andalusien, wo die Nächte so warm sind, dass sie manchmal im Dunklen noch flirren!

Hier in der Premiere läuft die zauberhafte Sumi Hwang der Titelheldin den Rang ab: mit Szenenapplaus für ihre beiden Arien und begeistertem Klatschen mit Brava-Rufen aus vielen Kehlen schenkte das Premierenpublikum ihr Anerkennung für die grandiose Leistung.

Sumi Hwang_Micaela

Frasquita (Rosemarie Weissgerber) und Mercédès (Kathrin Leidig), bringen junge, unbeschwerte Soprane ins Spiel. Ja, tatsächlich. Wie Teenager decken sie die Karten für sich auf und interpretieren sie mit Jungmädchenfantasien: Sie werden heiraten, Prinzen oder einen reichen Alten. Eine rosige Zukunft. In der Kartenspielszene haben sie einen starken Auftritt, ansonsten fungieren sie eher als Staffage. Vor den Toren der Arena warnen sie Carmen. Josè halte sich in der Nähe auf und werde ihr Schreckliches zufügen. Zwei kleine, aber feine Auftritte, eine Augen- und Ohrenweide für das Publikum.

Ivan Krutikov überzeugt erst nur halb mit seinem warmen Bariton, darüber hinaus nicht ganz in der Rolle des Popstars, der mit seinen Fans für schnelle Facebook-Fotos posiert. Trotz Glitter-Outfit mit dem royalen Glanz der goldenen Kutsche der Queen bleibt er etwas hölzern. Und der soll für Carmen die Erfüllung ihres Lebensmottos „la liberté“ personifizieren? Schwer nachzuvollziehen. Leidenschaft und Testosteron auf zwei Beinen sieht anders aus.

Nähern wir uns also dem Abstieg vom Latin Lover zum Latin Loser, wie es in einem podcast des Bayerischen Rundfunks heißt. What a difference a letter makes! Dabei gelingt es Felipe Rojas Volozo beeindruckend, die Spannbreite vom lyrischen hin zum dramatischen Tenor  in  Klangfarbe, Phrasierung, und Artikulation  darzustellen. Sein Stimmvolumen trägt die Stimmung: die Geschichte vom verliebten Simpel, der ehrgeizig, aber gehorsam und ordnungsliebend den Aufstieg geschafft hat, aber um einer Leidenschaft willen alles verliert: seine Laufbahn, seine Liebste, sein Leben.

Niina Keitel – die Heldin in Bizets Meisterwerk. Sie ist ein dunkler Typ, sie ist schön, sie verfügt mit ihrem Mezzosopran über Wärme und Tiefe, schneidende Klar- und abgründige Dunkelheit. In den tiefen Lagen ist sie männlich, irisierend. „La mort“! Wunderbar!

Was wir heute bewundern, quittierte das Premierenpublikum 1875  mit Hohn und Buhrufen.  Skandal: Zum ersten Mal siedelt der Komponist die Heldin im Mezzo an, der männlichen, dunklen Seite der Macht. Unerhört! Und dann, hier und heute, pustet Carmen einen Soldaten beim Armdrücken weg. Ja, sie hat genau das Maß an Willen und Kraft, das Don José fehlt und wofür sie ihn schließlich verachtet und gegen den glamour boy eintauscht.

Niina Keitel hat die Carmen bereits in Helsinki gesungen. Als Finnin ist ihr die Partie nicht unmittelbar auf den Leib geschrieben. Der heiße Süden mit seiner flirrenden Erotik scheint ihr fern. Dennoch bereichert sie vielleicht  deshalb die Carmen auch mit einer dunklen Seite. Gleichermaßen entschlossen wie liebeshungrig birgt ihr Wesen auch Leid, auch Entsagung, denn Bindung bleibt ihr versagt. Eine merkwürdige Distanz zeigt sich zwischen José und Carmen – da kommt kein Einverständnis auf, den beiden ist keine rosige Zukunft beschert. Schade!

Apropos Zukunft. Sie, die Freiheit ganz groß und in fetten Lettern auf ihre Fahne geschrieben hat, die für die pragmatische Seite des Lebens und der Liebe steht, unterwirft sich plötzlich der Prophezeiung der Karten. Ist das schlüssig? Fatalistisch sich selbst in  „la mort“ abgleiten zu lassen? Hingabe nicht an den Mann, sondern an das Schicksal?

„Eine wie Carmen kannst du nicht töten“ dichtete Wolf Wondratschek über den Mythos des ewigen Geschlechterkampfes. Und wir kommen damit zu der Regie von Carlos Wagner, der sich in Bonn bei der Premiere auch zwei, drei Buhrufe aus dem Parkett anhörte. Kaum jemand hat ihn beim Abschlussapplaus auf der Bühne erkannt. Vermutlich wäre sonst mehr Protest laut geworden. Ja, er bemüht – und dieses Wort benutze ich mit Bedacht – verschiedene mythologische Bilder, die seine Botschaft vermitteln und eingängig machen sollen. Fangen wir hinten an. Josés Abstieg endet als Metzger, als Abdecker, der nur  das Fleisch des getöteten Stiers auf der Schubkarre über die Bühne schiebt. Den Kopf, noch mit Fell und Augen und Hörnern,  schnallt er sich zunächst phallisch um, als er auf Carmen losgeht. Um ihn dann als überdimensionale Maske über seinen eigenen Kopf zu stülpen. So erledigt er Carmen. Minotaurus, das menschenfressende Ungeheuer? Halb Bestie, halb Mensch?

Griechische Antike dann versus Francisco de Goya? Dieser brach zunächst ein Tabu (Die nackte Maja), setzte sich sehr kritisch mit der Lasterhaftigkeit von Klerus und Adel auseinander und stellte die Grausamkeiten von Krieg und Verwüstung dar. Eins zu eins übernimmt Carlos Wagner das Bild der Strohpuppe im Laken im ersten Akt ebenso wie die Eselsköpfe in der großen Chorszene und den Verfehlungshut der Carmen, den heute noch in der semana santa bei den Karfreitagsumzügen zahlreiche Gruppen tragen. Sie verbergen ihre Gesichter und verleihen ihrer Reue und Bitte um Vergebung anonym Ausdruck.  Hier also die spielerische Darstellung der Spannung zwischen  „lustig (und frei) ist das Zigeunerleben“  (ja, ein Zitat aus einem Fahrtenlied, politisch nicht korrekt), dem großen Drama von Schuld und Sühne, dem sinnlos mordenden Minotaurus und dem aktuellen Flüchtlingsleid? Denn Carmen hakt auf einer Liste die Menschen ab, die in die Kisten dürfen. Das Schmuggelgut heißt nicht Gold und Schnaps, sondern Menschenleben.

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Die zentrale Szene erklärt sich von selbst. José beschenkt Carmen mit Herzluftballons. Herzig, gell? Und was tut sie, die „bitch“, wie man heute sagt? Lässt sie einzeln hochsteigen und entschwinden. Will sagen: Dein Herz bedeutet mir nichts.

Von Licht und Schatten spricht Carlos Wagner in seiner eigenen Erklärung. Glückwunsch an die Lichtregie. Aber die Kulissen?!? Billig anmutende schroffe Wände, düster und morbide. Die Leichtigkeit der französischen opéra comique, angesiedelt in Südspanien, vermittelt sich über die Inszenierung leider nicht.

Aber die Musik. Unsterblich, unverwüstlich!  Kenner und Liebhaber feiern bis heute Georges Bizet als einzigartigen Melodiker, Rhythmiker, Harmoniker. Wem die Inszenierung zu dunkel oder zu rätselhaft bleibt, der schließe die Augen und genieße.

Jacques Lacombe, den Bonnern vom Pult in Peter Grimes in bester Erinnerung, schafft einen intimen „Rapport“ mit seinen Musikern des Beethovenorchesters. Beim entreacte vor dem dritten Akt gibt er der Harfe den Einsatz und dann … läuft’s  von allein. Ein musikalischer Sternenhimmel blinkt auf, die Flöte setzt die Highlights, ein Traum von Magie und Liebreiz. Zweieinhalb Minuten Entführung aus dem raschen Treiben auf der Bühne, unmittelbar nachdem Carmen & Chor die Freiheit nicht nur besungen, sondern beschworen haben.

Die Musiker vermitteln eine Spielfreude, bei der sie – so abwechslungsreich wie die Passagen und Elemente sind – alle Register ziehen können. Vivat & Victoria in den Orchestergraben gerufen. Sie haben es verdient!

Always save the best for last – noch so eine englische Binsenweisheit, die ich gern abschließend einflechte. DER CHOR. DER CHOR! Ach was sag‘ ich. DIE CHÖRE! Der Opernchor mit Extrachor, der Kinder- und Jugendchor und Marco Medved, der Maestro über so viele Stimmen.  Wie sagte er so voller Stolz und so treffend in der Matinee? Der Chor gibt dieser Oper die Farbe, das Leuchten, das Strahlen Andalusiens und die Leidenschaft der Corrida, die Neugier der Burschen und die Keckheit der Tabakarbeiterinnen. Wenn diese Chöre anstimmen und jeden Zentimeter verbleibenden Bühnenraum besetzen, dann schwingt, dann klingt die ganze Oper. Wer sich dem entzieht, dem fehlt das musikalische Herz.

Tragisch: Bizet starb an Herzversagen drei Monate nach der Uraufführung; ihren von Wien ausgehenden Triumphzug hat er nicht miterleben dürfen. Ob ihm der Pariser Flop das Herz gebrochen hat? Auf jeden Fall lebt diese fantastische Oper von seinem Herzblut.

Trotz allem entwickelt sich offensichtlich auch diese Carmen zum Kassenschlager. 16 mal steht sie bis April 2018 auf dem Programm – einige Abende sind bereits ausverkauft. Karten gibt es hier.

Wir sehen uns – live in der Oper, wenn auch nicht immer im Carmen-Rot wie hier bei der Premiere, wo eine andere – mir unbekannte – Besucherin im gleichen Kleid erschien. Danke, Marlene, für das kleine fotoshooting!

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Bernhard Hartmann vom General-Anzeiger Bonn hat mit Niina Keitel vor der Premiere gesprochen.  Carmen in Bonn 

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