Heute auf den Tag vor 111 Jahren – am 28. Juni 1914 – wurden in Sarajevo der österreichische Kronprinz Franz Ferdinand und seine Frau Sophie erschossen. Das Attentat war Auslöser für den 1. Weltkrieg; die europäischen Konflikte allerdings schwelten im Hintergrund bereits seit Jahren. Der Nationalchauvinismus der Zeit sorgte zunächst auch bei Intellektuellen wie Albert Einstein oder Siegmund Freud für Kriegsbegeisterung, die allerdings schnell einer schockierenden Ernüchterung wich. Mit dem Vergissmeinnicht am Bajonett war die Sache nicht in zwei oder vier Wochen erledigt. Es entwickelte sich eine grausame Materialschlacht, für die ständig neue Kampfarten erfunden und verfeinert wurden: Gas kam zum Einsatz, Feuerwalzen, U-Boote und Luftfahrzeuge brachten innerhalb von vier Jahren rund 17 Millionen Menschen den Tod.
Richtet die Oper Köln eine Geschichtsstunde aus? Ja, und was für eine! Eine fulminante knapp dreistündige Tour de Force durch das Monumentalwerk des Wiener Journalisten und Schriftstellers Karl Kraus, der stets der Stachel im Fleisch der Bourgeoisie und gleichzeitig der unreflektierten, sich selbst entlarvenden Plattitüden der einfachen Leute war. Die letzten Tage der Menschheit dokumentiert gleichermaßen das Kriegsgeschehen und dessen Folgen von 1914 bis 1922. Das Stück fällt in kein gängiges Genre: In einer aneinandergereihten Montage von 220 Szenen, Dialogen, Impressionen entwickelt sich keine Geschichte, kein personifizierter Konflikt. Es komplett aufzuführen würde etliche Abende umspannen – kein Theater hat es je in die Tat umgesetzt, diese „Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog“ (so Kraus‘ eigene Bezeichnung) vollständig in Szene zu setzen.

Der eigentliche Protagonist dieses Stücks ist eben die Menschheit, die in unterschiedlichen Figuren auftritt, an verschiedenen Orten agiert, in verschiedenen Sprachen, Dialekten und Soziolekten spricht. Kraus‘ beißende Satire und sein bitterer, auch durchaus humorvoller Sarkasmus sind nach seiner eigenen Versicherung alle dem Volk vom Maul abgeschaut, nichts davon erdichtet. Umso erschütternder wirkt eben das, was auf der Weltenbühne im Kölner Staatenhaus gespielt wird. Das Publikum lauscht gebannt diesem multiperspektivischen Blick auf Krieg: Kinder, die vom Kriegsspiel zum Soldatentum wechseln, Verwundete und Verstümmelte, Gattinnen, die ihre Männer aufs „Feld der Ehre“ pushen, Mütter, die um tote Kinder trauern, Frauen, die in langer Abwesenheit des Mannes von einem anderen schwanger werden, patriotische Mädchen, die als Unschuld vom Lande Blumenkränze aufsetzen. Besonders perfide die Presse, die alles daran setzt, den Hype anzuheizen, und die Kriegsberichterstatterin penetrant in Pink, die einen widerlichen Voyeurismus bedient.

Ein Thinkspiel nennt der Komponist des Werks, Philippe Manoury, dieses von ihm kreierte Genre. Selbstverständlich klingt die akustische Nähe zum Singspiel nach Art des Fidelio oder der Zauberflöte an: Die Handlung entwickelt sich aus gesprochenen Dialogen und gesungenen Worten. Gleichzeitig klingt auch die Methode des Thinktank an, bei der sich Experten unterschiedlichster Disziplinen zur Erörterung großer Zukunftsherausforderungen in Klausur begeben. Im Kosmos von Karl Kraus lautete die Frage: Gibt es eine Zukunft für die Menschheit, die in den Kriegen des 20. Jahrhunderts ihre Kulturerrungenschaften, ihre Toleranz und ihre Würde vollständig zugrunde gerichtet hat? Was wird aus der Menschheit, nachdem die ganze alte Welt zu Grabe getragen wurde? Nichts! Die Apokalypse wird von der Kunstfigur des Angelus Novus, der immer mit dem Solo des Englischhorn eingeführt wird, beklagt und besungen. Dieser Engel, wunderbar entrückt interpretiert von Anne Sofie Otter, kann nur zurückblicken auf die Gräueltaten. Der Blick nach vorn, in die Zukunft der Menschheit, ist ihm verwehrt. Wunderbar auch, dass die Oper Köln hier eine reife Solistin eingeladen hat, die tatsächlich auch auf Jahrzehnte eigener Lebenserfahrung zurückblickt.
Absolut frappierend, dass Manoury bereits 2019 mit hellseherischer Klarheit die Bedrohungen erahnt hat, die wir heute an allen Brandherden und Kriegsfronten erleben. Er komponierte ja nicht nur die Musik, sondern formulierte auch gemeinsam mit dem Regisseur Nicolas Stemann und dem Dramaturgen Philip Hahn das Libretto als Exzerpte aus den Originaltexten von Karl Kraus und einem hinzugefügten Epilog. Und – die drei haben zwei Kunstfiguren als Schauspielerpaar eingefügt, denen sie treffsichere Dialoge im Stil von Kraus auf den jeweiligen Leib schneiderten. Auch diese treten in den unterschiedlichsten Situationen mit divergierenden Haltungen auf.

Sie werden einfühlsam dramatisch verkörpert von Patrycia Ziolkowska und Sebastian Blomberg, die als on-stage Kommentatoren im Schnellsprech oder im Dialekt, in wohlgesetzten Worten sowie in Ellipsen überzeugen, oft hautnah begleitet von der live Handkamera. Manoury und Stemann haben beide eine starke Affinität zu digitalen Medien. Wo der eine – besonders im zweiten Teil – auf die Bildkraft von Videos unterschiedlichster Kriegsgeschehen von cyberwar über Drohnenangriff bis Vietnam-Helikoptern setzt – komponiert der andere faszinierende Überblendungen vom vollen Sound des stark besetzten Gürzenich Orchesters und perlender elektronischer Musik im Dolby-Surround Mode.
Die Regie nutzt die gesamte Breite des großen Saals im Staatenhaus – Raum für die disparate Anordnung des Orchesters, das analog zur zerfallenden Welt in Blöcke aufgeteilt ist. Die Blechbläser ergänzen mitunter von hinten die kreischenden, gleißenden und grausamen Töne der Bassvarianten von Tuba, Fagott und Posaune. Lyrische Instrumentalstücke bilden den tröstenden Gegenpart zum fetzenden Kriegsgetöse. Der Dirigent Peter Rundel gilt als ausgewiesener Fachmann für zeitgenössische Musik; souverän führte er das Gürzenich Orchester durch diese hochdiversifizierte Musik mit Anklängen an die großen Komponisten der Klassik genauso wie der Moderne.
Der Chor der Oper Köln tritt mit insgesamt 60 Frauen und Männern auf. Nebeneinander nehmen sie die volle Breite der offenen Bühne ein und geben eine stimmstarke und gleichzeitig fein differenzierte Menschheit. Zwischen „denen“ und „uns“ gibt es keine Barriere, die Menschheit geht von der Bühne in die Zuschauerreihen fast nahtlos über. Chorleiter Rustam Samedov gebührt ein großer Glückwunsch zu der fabelhaften Leistung der Damen und Herren in den unterschiedlichsten Gruppierungen.
Wenn es keine Charaktere gibt, die einen Konflikt austragen, dann fehlen zwangsläufig die großen Arien und Solopartien der Sängerinnen und Sänger. Auch sie werden Teil vom großen Ganzen, auch ein Kammersänger schlüpft in zahlreiche verschiedene Figuren, die nur temporär im Zentrum des Geschehens stehen. Ensemblemitglieder wie Emily Hindrichs, Dimtri Ivanchey, John Heuzenroeder, KS Miljenko Turk, Lucas Singer glänzten in jeder Szene, Gäste wie Tamara Bounazou und Christina Daletska boten Gesang und Darstellung in überzeugender Qualität, die Mitglieder des Internationalen Opernstudios Johanna Thomsen und Armando Elizondo nutzten ihre Chance, auf der großen Bühne erste Meriten zu gewinnen. Die Chormitglieder Constanze Rottler, Barbara Ochs, Simge Çiftci und Nicolas Boulanger traten souverän mit Einzelbeiträgen aus der Gruppe hervor. Tempo und Setting verlangten von allen ein hohes Maß an Flexibilität, das sie ausgzeichnet meisterten. Bravi tutti!
Als drittes Werk bereits hat Philippe Manoury Die letzten Tage der Menschheit für das Gürzenich Orchester komponiert. Die bewährte Zusammenarbeit mündet aktuell in die Uraufführung dieses Werks an der Oper Köln. Miller Puckette, Carlo Laurenzi und Sylvain Cadars steuern die elektronischen Medien bei, die Manoury integrativ in seine Klangmischung für ein großes Klangerlebnis in akustischen Bildern einfließen lässt. Der zerstörerisch-militärischen Männlichkeit der Kriegstreiber setzt der Maestro so ein fesselndes Werk von faszinierender musikalischer Ästhetik entgegen.
Die Oper Köln spielt Die letzten Tage der Menschheit noch dreimal bis zum 9. Juli 2025. Tickets und Infos hier.