Am Ende führt Maria ein schönes, neunjähriges Mädchen mit langen schwarzen Zöpfen an der Hand. Auch nach ihrem Tod lebt die Idee dieser vielschichtigen Marienfigur bildlich weiter. Mit Maria de Buenos Aires haben Astor Piazzolla und sein Textdichter Horacio Ferrer einen Mythos geschaffen, der seine künstlerische Form – musikalisch und dichterisch – in dieser „Tango Operita“, also einer kleinen Tango-Oper, findet. 1968 feierte das schwer durchdringliche, surreale Stück in Buenos Aires Premiere, am Schauplatz des Geschehens. Damit begann der weltweite Aufstieg des „tango nuevo“ als Ausdrucksform für Leid und Leidenschaft, Melancholie und Lebenslust. Als stimmtragendes Instrument steht das Bandoneon im Mittelpunkt, das der Krefelder Musiker Heinrich Band in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfand.
So viel südamerikanische Authentizität findet sich selten auf einer europäischen Opernbühne: Die junge Dirigentin Natalia Salinas, die Regisseurin Teresa Rotemberg, der Bariton Germán Enrique Alcántara als Cantador, Tatiana Saphir als El Duende, der Bandoneonspieler Omar Massa und auch die Sprachtrainerin Macarena Quantin stammen alle aus Argentinien. Adriana Bastidas-Gamboa gibt der Titelfigur Spiel und Stimme; sie kommt aus Kolumbien. Diese Ursprünglichkeit und Natürlichkeit verschafft dem Publikum den raren Genuss, ganz in die Seele, den Swing und die Sprache von Maria de Buenos Aires einzutauchen.

Eine durchgehende, logisch nachvollziehbare Geschichte fehlt in Maria de Buenos Aires. Stattdessen werden Stationen in Marias Leben aufgezeigt, die zwischen den versumpften, dunklen Spelunken im Hafenviertel am Rio de la Plata und dem Hokuspokus einer Wahrsagerin oszilliert. Sie führen die Protagonistin von Glanz zu Elend, von Tod zu mystischer Wiederauferstehung, von überbordender Marienverehrung zu nackter Gewalt, von einer unbefleckten Empfängnis zu den Träumen eines weisen Geistes. Sie ist die Maria aller Marias, die Hure und die Heilige, das personifizierte Schicksal aller Frauen.
Die Regie nutzt die historischen Ereignisse der argentinischen Militärdiktatur als kontextuellen Rahmen für das Bühnengeschehen. Von 1976 bis 1983 herrschte in Argentinien eine Militärjunta unter der Führung von General Jorge Rafael Videla, dessen Pappmache-Figur übergroß die Gewalt im Land repräsentiert. Videos mit Originalaufnahmen veranschaulichen die Atmosphäre während des Staatsterrors, einschließlich dem Einsatz des grünen Ford Falcon, in dem Menschen von der Straße weg gekidnappt wurden, in Folterkellern verschwanden und nie mehr zurückkehrten. Aus dem Schmerz über die ungefähr 30.000 verlorenen Söhne und Töchter organisierten die „Madres de la Plaza de Mayo“ ihren wöchentlichen Protest, bei dem sie ein viele Meter langes Band mit den Fotos und Namen ihrer Kinder beklebten. Diese Aktion vollziehen die Akteure auf der Bühne – die neun Mitglieder des Sprechchors und die sechs Tänzerinnen und Tänzer – genauso wie in den Originalfilmaufnahmen.
Große Bekanntheit erlangte der Mütterprotest durch die Fußballweltmeisterschaft in Argentinien 1978. Die Plaza de Mayo liegt unweit des Stadions und so berichtete die internationale Presse ausführlich nicht nur über die spektakulären Fußballspiele, sondern eben auch über die menschenverachtenden politischen Verhältnisse. Nur nebenbei: Argentinien gewann damals den Pokal im eigenen Land. Und fünf Jahre später begann die Rückkehr zur Demokratie.
Der zweite Handlungsstrang – wenn man es so nennen kann – bezieht sich auf den Freiheitskampf der Frauen als archetypische Muster. So werden im Schlussbild emanzipatorische Banner präsentiert: Recht auf legale Abtreibungen, keine einzige (Frau als Opfer) mehr, Freiheit, ein Leben ohne Angst, nie wieder … Diese Postulate wird man ohne zu zögern unterschreiben können, allerdings verengt dieses bewusste Konzentration auf das Politische und Feministische den Interpretationsspielraum des Stücks, das durch die lyrische Anlage der freien Assoziationen einen weiten Deutungshorizont eröffnet.

Diesen unentwegten Wortfluss rezitiert die Figur des Duende, so etwas wie ein allwissender Geist, der das Geschehen erläuternd begleitet, fast wie ein Zeremonienmeister. Konsequenterweise hat Teresa Rotemberg diese Rolle mit einer Frau statt wie üblich mit einem Mann besetzt. Ein gelungener Coup! Tatiana Saphir präsentiert ihre Bühnenfigur einfach fantastisch: Sie changiert zwischen witzig, emotional, karikierend, belehrend, psychoanalytisch, bewegt sich mit ihrer starken Bühnenpräsenz elegant, tänzerisch, lässig. Dem „Duende“ rational zu folgen erweist sich als nahezu unmöglich, obwohl die Dramaturgie das Libretto bereits erheblich gekürzt hat, um es überhaupt in eine auf den Monitoren lesbare und verständliche Form zu übersetzen.
Man darf sich also getrost ganz der Musik anvertrauen, sogar hingeben. Hier komponiert Piazzolla nicht nur die sprichwörtliche „getanzte Melancholie“ des Tango, sondern er gestaltet sie eckig und rau, der Vorschlag erzeugt eine permanente Spannung. Die musikalische Hauptrolle gehört dem Bandoneon, wunderbar einfühlsam gespielt von Omar Massa, einem Mitglieder der Berliner Symphoniker. Er gilt als legitimer Nachfolger Astor Piazzollas und offiziell als bedeutender kultureller und künstlerischer Vertreter Argentiniens.* Die Dirigentin Natalia Salinas führt das Gürzenich Orchester zu einem perfekten Tangospiel, allerdings fast ein wenig zu akademisch, zu clean. In der Komposition stecken mehr Puff und Suff, mehr Erotik und Esoterik.
Die Instrumentalpassagen des kleinen Musikerensembles auf der Bühne lassen Bilder von den Gefühlslagen der Protagonisten und der Stimmung in der Megametropole von mehreren Millionen Einwohnern aufsteigen. Die Regie illustriert sie mit sechs Tänzerinnen und Tänzern als kickende Fußballjungs, als Näherinnen, als politische Aktivisten oder als Blumenmädchen. Dem Tanzensemble gegenüber steht der gemischte Sprechchor, der wie in der Antike bewertend und beurteilend kommentiert. Dank des Sprachtrainings der Dirigentin und Muttersprachlerin Macarena Quantin entwickelte sich das ganz organisch und fügte sich harmonisch ein.
Adriana Bastidas-Gamboa, Mezzosopranistin im Kölner Ensemble, genießt ihr Heimspiel ganz offensichtlich. Sie lotet die Figur der Maria in allen Facetten dieses schwer greifbaren, ephemeren Wesens aus, das doch so hart an der Realität scheitert. Ihre sängerische und darstellerische Leistung honoriert das Publikum mit großem Applaus. Zu Tränen gerührt haben mich allerdings die Soli des Cantador, des Sänger-Sängers Germán Enrique Alcántara. Mit seinem eleganten, weichen Bariton streicht er dem Herzschmerz der Porteños und Porteñas Balsam auf die aufgewühlte Seele. Zum Heulen schön!
Tipp: Eine halbe Stunde vor der Vorführung ins Staatenhaus fahren und das sehr aufschlussreiche Programmheft lesen!
Die Oper Köln spielt Maria de Buenos Aires noch neunmal bis zum 9. Juni 2025. Informationen und Karten hier.
*Nachzulesen auf der Homepage der Berliner Symphoniker