Eine Oper? Ein Passionsspiel? Ein Oratorium? La Passion de Simone, das Werk der hochgeschätzten finnischen Komponistin Kaija Saariaho mit einem Libretto von Amin Malouf, feierte in Wien 2006 seine Weltpremiere. Zur Oper fehlt dem Bühnenwerk die dramatische Handlung, der Konflikt. Im Passionsspiel werden die Leidensstationen von Jesus Christus nachgezeichnet und im Oratorium stehen biblische Ereignisse oder Evangelisten im Mittelpunkt der Handlung. Beide Einordnungen in die christliche Musikliteratur schlagen fehl. Die Oper Köln zeigt nun das zeitgenössische Stück – vier Jahre nach der hier begeistert aufgenommenen Oper L’amour de loin und zwei Jahre nach dem Tod von Kaija Saariaho – als die Leidensgeschichte oder den musikalischen Weg einer realen Person in 15 Etappen, das kurze Leben und Sterben der Französin Simone Weil.
1909 kommt Simone Weil als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie in Paris zur Welt. 1943 stirbt sie krank und verhungert in England. In ihrem kurzen Leben war sie eine hochbegabte Philosophin, Lehrerin, Mystikerin, Fabrikarbeiterin, Widerstandskämpferin. Sie wollte tatsächlich Jesus nacheifern und so nah wie möglich an den Menschen sein. Allerdings verzieh ihr fragiler Körper all‘ diese Anstrengungen nicht, sondern sie erlag äußerst geschwächt der Tuberkulose. Ihre Schriften sind überliefert und darin vermittelt sich ein obskures, ambivalentes Denken, schwer zu entschlüsseln, stets auf der Suche nach der Wahrheit des Lebens, voller moralisch einwandfreier, zitierfähiger kluger Aphorismen: „Gewalt entwürdigt alles, was in irgendeiner Weise mit ihr in Berührung kommt.“ Oder „Der Stille zuhören können: Die Aufmerksamkeit auf die Abwesenheit von Lärm richten.“

Wie Kaija Saariaho anlässlich der ersten Aufführung von La Passion de Simone an der Royal Swedish Opera in einem Interview (2021) sagte, sei diese Protagonistin für sie die wichtigste in ihrem gesamten Werk, deshalb widme sie das Stück ihren Kindern. Es sei ihr künstlerisches Testament, denn Leben und Werk der Titelheldin sei getragen von der Überzeugung, dem Mitfühlen Taten folgen zu lassen.
In der ursprünglichen Fassung sah die Komponistin ein großes Sinfonie-Orchester vor, verfasste aber später eine kammermusikalische Variante, die das Orchester auf 19 Instrumente reduziert und alle elektronischen Elemente streicht. Der Solosopranistin zur Seite gestellt sind je vier Sängerinnen und Sänger des Vokalensembles sowie je zwei Statistinnen und Statisten. Wir strukturiert sich dieses Miteinander? Der Sopran „spricht“ imaginär mit der Titelfigur Simone, bezeichnet sie als „ma grande soeur“ und kleidet deren Stationen in erzählende Worte. Der Chor ergänzt diese Schilderung oft mit kritischen Fragen an Simone, was denn der Sinn dieses oder jenes Schrittes sei. Die dritte Textkomponente bilden authentische Zitate von Simone Weil, die eine Stimme (Delphine Delavaud) aus dem Off via Tonbandaufnahme spricht. Das Publikum sitzt auf erhöhten Stuhlreihen wie in einem Amphitheater.

Wie bringt nun die Regisseurin Friederike Blum diesen eineinviertelstündigen „Dialog“ mit einer nicht-anwesenden Gesprächspartnerin auf die Bühne? Zunächst einmal, indem sie die weite Fläche des Saals 3 im Staatenhaus nutzt und eine überdimensional große Büste mit Simones Kopf zum Zentrum des Geschehens, auf einem niedrigen, zweistufigen Podest positioniert. Dahinter die 19 Musikerinnen und Musiker des Gürzenich Orchester unter der Leitung des schwedischen Dirigenten Christian Karlsen, dem ehemaligen künstlerischen Leiter des Kaija Saariaho Festivals in Dänemark. Das Vokalensemble und die Statisten nehmen verschiedene Positionen ein, mal als Beschützer weiterer Simone-Büsten, mal als Re-Inkarnation des Letzten Abendmahls , wo sich die „Jünger“ bei Simones Tod in rote Umhänge hüllen, die sie über die sonst weiße Kleidung legen. Zusätzlich werden ausgewählte Zuschauerinnen und Zuschauer auf das Spielfeld eingeladen, wo sie während des ganzen Stücks bleiben: einige auf Stühlen, andere auch lässig auf dem Boden.
Alle Augen und alle Ohren sind bei diesem quasi-Einpersonenstück auf die Sopranistin gerichtet. Und Lavinia Dames begeistert in ihrem Rollendebüt das Publikum. Hatte sie in ihrer bisherigen künstlerischen Laufbahn als Pamina, Zerlina, Susanna oder Adina geglänzt, so beweist sie hier die ausdrucksstarke Bandbreite ihrer wunderbaren Stimme. Sie gestaltet das kontemplativ Versunkene mit zarten Tönen und verleiht der Inbrunst der exaltierten Visionärin dramatischen Ausdruck. Sehr zurecht trampelte das Publikum – wie es in Köln bei großer Zustimmung üblich ist – zu dieser überzeugenden Leistung. Der love & peace Regisseur Peter Sellars gab bei der Uraufführung des Stücks der Solokünstlerin eine Tänzerin als ein die Gefühlswelt auslebendes Alter Ego zur Seite. Gut vorstellbar, dass ein so handlungsleeres Bühnenwerk damit das Publikum in Empathie und Emotionen viel tiefer einbezieht.
Kaija Saariahos Musik birgt die ganze Welt. Stampfende Rhythmen bei Simones auslaugender Arbeit am Fließband einer Elektrofabrik, eindringliche Klarinettenmelodien, wenn die Seele weint, Celesta und Harfe, wenn euphorische Episoden auch das Glück abbilden. Stilelemente auch Crescendi wie bei Stravinsky, Geräuschbilder wie bei Janáček, minimal elements wie bei Glass und abrupte Wechsel wie bei Britten – das 20. Jahrhundert im wahrsten Sinne des Wortes musikalisch eingefangen. Die Liebe als verbindende Kraft vermittelt ein gut fünfminütiges entr’acte, instrumentalisiert mit Flöte, Klarinette, Oboe und Fagott. Faszinierend schön!
Die Oper Köln spielt das Stück noch viermal bis zum 31. Mai 2025. Infos und Tickets gibt es hier.
La Passion de Simone ist eine Kooperation mit dem Festival ACHT BRÜCKEN, das Neue Musik nach Köln bringt und in diesem Jahr den Fokus auf Kaija Saariaho legt.